Muster3

Heute sind wir uns begegnet. Gleichgültig dein Blick, da war kein erkennendes Zucken deiner Augenbrauen, da war nur dein düsterer Blick, du kennst mich nicht. Freilich, du kannst  nicht ahnen, dass du für mich von Bedeutung warst, nein, woher auch. “Diskretion, bitte Abstand halten”, war auf dem Schild zu lesen, an dem du grau und schwerfällig an mir vorbeigingst, während ich die Anweisung des Schildes beachtend, nicht zu nahe an die Kasse in der Bank herangetreten war. Du hattest deine Angelegenheit geregelt. Lange schon habe ich dich nicht mehr so nahe gesehen. Wir sind beide älter geworden, deutlich und un­verkennbar. Aber ich denke, es muss endlich einmal gesagt werden, was dein Name, deine Person in mir prägte. Diskretion, ich weiß. Nicht für dich ist es wichtig, sondern für mich. Deshalb werde ich dir diesen Brief schreiben. Dein erstauntes Gesicht sehe ich bereits vor mir. Verständnislos wirst du den Kopf schütteln, wenn du erst den Inhalt kennst.

Nach so vielen Jahren muss es endlich einmal gesagt werden, wie ich darunter gelitten habe, den gleichen Namen wie du zu tragen. Du hast damit eigentlich nichts zu tun. Du – einige Jahre älter als ich, wohntest zufällig ein paar Häuser weiter, warst zufällig die Tochter eines Bäckers. Von klein auf kannte ich dich, deinen Namen, deine unförmige Gestalt, deine mit Binden bandagierten Beine, deine Rolle in der Bäckersfamilie: billige Kindsmagd und Haushälterin. So dachte ich, weil andere so dachten. Vielleicht warst du glücklich, trotz deiner Krankheit – oder war es ein Unfall, der deine Beine nie ganz heilen ließ? Vielleicht warst du dankbar, dass du weiterhin in der Familie bleiben konntest und die Kinder der anderen, die du aufgezogen hast, gaben dir mit kleinen Gesten zu verstehen, was Liebe sein kann. Zärtlichkeit zum Beispiel. Eine abgerissene Blume, zum

Riechen unter deine Nase gehalten. Fieberheiße Gesichter, die darauf warteten von deiner rauen ungepflegten Hand gekühlt zu werden. Erste Worte, die dich aus dem farblosen Alltag auf einer Welle unbekannten Glücks emporhoben, sekundenlang nur. So könnte es gewesen sein, aber auch ganz anders.

Mitleid hat dein Name stets in mir erzeugt, Mitleid und stumme Abwehr. Ich, die ich denselben Namen trug, wollte nicht auch dasselbe Schicksal mit dir teilen. Ich hasste meinen Namen, der Gott sei Dank, nur mein zweiter war. Niemand konnte das verstehen. Der Grund blieb mein Geheimnis. Ahnte ich doch, zu all meinen Befürchtungen auch noch ausgelacht zu werden von jenen, denen ich diesen Namen verdankte. Josephine. Da tauchte stets dein Bild auf.

Es gab einzelne schreckliche Momente während meiner Schulzeit. Selten wurde mein zweiter Name erwähnt. Sicher aber an einem bestimmten gehassten Tag, dem Tag der Sparkassenentleerung. Innerlich gewappnet, nahm ich mir vor, völlig gleichgültig, ja unbeteiligt zu reagieren, wenn ein fremder Herr am Pult stand und ahnungslos laut meine beiden Vornamen in die Klasse hineinrief. Gleich einem Spießrutenlauf musste ich aufstehen, quer durch das Zimmer gehen, um mein Sparkassenbuch wieder zu erhalten. In Sekundenschnelle verwandelte ich mich in deine Gestalt, wurde hässlich, unförmig und bewegte mich humpelnd auf bandagierten Beinen vorwärts. Josephine wurde zum Zauberspruch einer unerwünschten, ja gefürchteten Verwandlung. Meine Kinderaugen nahmen ein  Entsetzen bei den  Mitschülern wahr, obgleich diese nur müde und gelangweilt kurz die Köpfe hoben, nichts ahnend von meiner angstvollen Hilflosigkeit. Beschämung breitete sich aus in mir: auf keinen Fall wollte ich dir gleichen vor allen anderen. Niemand sollte mich erkennen in deiner Gestalt.

Heute kann ich darüber lächeln, heute möchte ich bedauern, dass ich mich geschämt habe dir zu gleichen. Außer unseren Namen gibt es wohl kaum Gemeinsames zwischen uns. Obwohl ich überzeugt bin, meinen Namen endlich ohne Hintergedanken aussprechen zu können, trifft mich jedes Mal, wenn ich dich erlebe, ein längst vergessener Schmerz, das zarte Pochen einer fast verheilten Narbe.

Ich sehe dich mit aufgestützten Armen an warmen Sommerabenden aus dem weit geöffneten Fenster blicken, die Straße beobachtend. Einen deiner Gedanken hätte ich gerne gewusst, einen deiner Träume, von denen ich hoffe, du hast noch welche, hätte ich gerne gekannt. Ein Gespräch hätte ich mir gewünscht. Aber wozu? Um Abstände zu verringern, die jahrelange Gedankenströme gegraben hatten. Ohne Rücksicht auf Diskretion, einfach miteinander reden können, befreiend wäre das. Für mich – aber auch für dich, die du stumm und nichtsahnend dort oben am Fenster lehnst?

Habe ich dich jemals lachen gesehen? An deine Stimme kann ich mich nicht erinnern. Wer hätte sie wohl auch gerne gehört? Den fremden Kindern vielleicht warst du Vertraute, Verbündete, manches Mal. Deine Stimme mag sie getröstet, beruhigt haben, wenn sie zu dir eilten mit kurzen schnellen Schritten und hoffnungsfroh ihren frühen Kummer vor dir ausschütteten, ihn wie Sandkörner aus ihren verbeulten Eimern rinnen ließen, dir zu Füßen, ein Häufchen Kinderelend. Du aber warst längst anderen Kummer gewöhnt, du wusstest längst vom Augenblick des Kinderkummers, während dein eigener ein zäher, klebrig haftender Kummer war, durch nichts zu entfernen, außer durch Worte, teilnahmsvolle vielleicht. Nie aber erschienst du den anderen

liebenswert, nie hat man sich um dich bemüht, außer in fremden Krankenhäusern, in die du freundlich aufgenommen wurdest, um  sie bald wieder zu verlassen, eine Hoffnung ärmer, deine Beine konnten nicht geheilt werden. Wieder zurück wusstest du, es hätte alles anders sein können. Gespräche, Bemühen umeinander  wären möglich, aber auch hier war die Hoffnung vergeblich, musste leise unter nie geweinten Tränen heimlich begraben werden.

Du warst  einfach da, nur für andere, zum Gebrauch bestimmt wie ein Besen, den man in eine Ecke stellen konnte, wenn er nicht mehr gebraucht wurde, jederzeit  griffbereit. Ein Aschenputtel warst du, bist es immer noch, denn da war kein Königssohn, der dich erlösen konnte und es wird auch weiterhin keiner unterwegs  sein zu dir, die du Hilfe so nötig hättest.

Immer seltener begegnen wir uns, immer mehr gleichst du einem Schatten, farblos, verschwommen. Aber noch gibt es dich, dein Leben.

Josephine. Sie schreien, aber du kommst nicht. Du willst nicht. Deine Beine tragen dich nicht mehr. Das Gewicht jahrelanger Verachtung drückt dich nieder, lähmt dich. Du hast es satt, Josephine zu heißen, Josephine zu sein. Dieses Mal wirst du liegen bleiben. Endlich. Du hast es satt, so lange schon. Jetzt erst merkst du es, was du lange nicht hast wissen wollen, du wirst ausgenutzt, benützt, bist nur ein billiger Gebrauchsgegenstand.

Josephine, du probst  den Aufstand gegen sie, zum ersten Mal. Du lässt sie schreien. Immer ärgerlicher, drohender klingen ihre kalten Stimmen. Sie stehen fassungslos da. Musstest du erst verschwinden, ehe sie dich wahrnehmen konnten? Jetzt erst, da ihr Schreien sinnlos ist, jetzt erst wirst du lebendig für sie. Schreckliche Gedanken machen sich selbstständig, toben durch ihre Köpfe, gefährlichen Geschossen gleich.

Josephine. Ruhig wirst du in deinem Bett liegen bleiben, wirst die Wärme genießen, die deinen kranken Körper streichelt, minutenlang  wirst du  Macht besitzen, Macht über sie. Orkangleich nähern sich ihre Stimmen, Augenblicke später wird die Tür aufgerissen.

Du liegst im Bett, schweigend. Ihre Verachtung wird zurückkehren, sofort, wird jene zarten Wellen des Mitgefühls verebben lassen in ihrer neu aufkeimenden Wut über dich, die  du es gewagt hast, dich zu wider­setzen. In deinen Augen aber wird sekundenlang – den anderen unbemerkt –  ein winziger Funken Triumph aufleuchten, langsam verglimmend. Josephine. Dein Sieg wird dir unvergessen bleiben. Ein Blitzsieg, augenblickslang nur, kostbarer Glücksmoment, unzerstörbar. Für Sekunden warst du ihnen wertvoll, da nicht vorhanden, da nicht verfügbar.

Ich mische mich in dein Leben ein, wirst du sagen, mit welchem Recht wirst du fragen. Allein unsere Namensgleichheit bringt uns nicht näher. Josephine. Sind auch unsere Namen gleich, nicht aber unsere Leben, in denen wir einzigartig und unverwechselbar dahin ­­­treiben wie auf einem  trägen, manchmal auch unerwartet reißenden Strom von  Zufällen, unvorhersagbar, bedeutungsschwer.

Du hast Recht. Dein Leben geht mich nichts an. Dieser Brief wird dich nie erreichen, dich nie unnötig verwirren. Wir aber werden uns weiterhin begegnen, uns grußlos, teilnahmslos gegenüberstehen. Vielleicht war unsere letzte Begegnung vor dem Schild „Abstand halten, Diskretion“  einer jener  Zufälle. Vielleicht soll es so bleiben, nicht Josephine an Josephine, sondern Josephine neben Josephine, ganz diskret Abstand wahrend, jegliche Gefühle erstickend.