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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Monatsarchiv: November 2017

Impressione 2 – Aquarell

27 Montag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Aquarell, Bild, Bilder, Gemälde, Kunst, Malerei

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Schlagwörter

Eindruck, Freude, Kreativität, Kunst, Phantasie

Impressione 2_small.jpg

Impressione 2 – Maße 9 x 13 cm

Impressione 1 – Aquarell

26 Sonntag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Aquarell, Bild, Bilder, Gemälde, Kunst, Malerei

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Schlagwörter

Eindruck, Impressione, Kunst, Phantasie

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Impressione 1 – Maße 13 x 9 cm

Novemberrose

18 Samstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Gedicht, Literatur, Lyrik

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Schlagwörter

Erinnerung, Freude, Leben, Natur, Rose

Novemberrose
von weißem Frost ummantelt
letzter Sommergruß.

Herbst – Aquarell

14 Dienstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Aquarell, Bild, Bilder, Gemälde, Kunst, Malerei

≈ 2 Kommentare

Schlagwörter

Bäume, Fluss, Herbst, Herbstfarben, Land, Landschaft, Wasser

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Herbst – Maße 15 x 20 cm

Tonne (8)

11 Samstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Depression, Freundschaft, Krankenhaus, Leben, Polizei, Polizist, Tod

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Im Krankenhaus
Freitag, 20.30 Uhr

„Melanie?“
Fragend blickte Frau Ascher in das ernste Gesicht des Polizisten, der neben ihrem Bett stand. Er zog sich erst einen Stuhl ans Bett, ehe er den Kopf schüttelte.
„Nein, wir konnten noch nichts Näheres über sie herausfinden. Kann es sein, dass das Mädchen einen bestimmten Grund hatte, plötzlich zu verschwinden? Wissen Sie, wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder verschwinden, weil sie Angst haben, daheim Ärger zu bekommen, wegen schlechter Noten zum Beispiel oder aus für uns geringfügig erscheinenden Anlässen die von den Kindern als schwerwiegend und furchteinflößend empfunden werden. Kann es sein, dass sie Angst vor Strafen hatte, aus welchem Grund auch immer?“
Stumm schüttelte die Frau den Kopf. Sie schien nachzudenken.
Angst? Wovor könnte Melanie Angst haben? Vor Strafen gewiss nicht. Sie selbst war oft eher zu apathisch als dass sie sich ernsthaft mit dem Kind auseinandergesetzt hätte. Sie ließ sie zu sehr gewähren. Eine strenge Mutter war sie nicht, wohl eher eine gleichgültige, aber das – so dachte sie jetzt – war wohl noch schlimmer.
Melanie. Sie versuchte sich vorzustellen, Melanie würde nicht zurückkommen. Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein, der Brief, der daran schuld war, dass sie gestern Abend getrunken hatte. Der Brief! Mein Gott, wo hatte sie ihn bloß versteckt? Melanie durfte auf keinen Fall davon erfahren. Ja, jetzt wusste sie es, wovor ihre Tochter sich am meisten fürchtete, vor einem Leben ohne ihre Mutter. Wie oft hatte sie schon nach ihrem Vater gefragt … Sie hätte es ihr längst schon sagen müssen … Melanie befürchtete, ihre Mutter zu verlieren. Sie wollte nicht allein sein. Nicht allein bei fremden Menschen, die sie aufzogen oder allein in einem Heim. Der Brief! Sie musste es der Polizei sagen.

„Der Brief“ begann sie zögernd, „der Brief könnte ein Grund gewesen sein.“
„Von welchem Brief sprechen Sie denn?“
„Der Brief vom Jugendamt.“
„Bitte, Frau Ascher, wenn Sie uns helfen wollen, Melanie zu finden, dann erzählen Sie uns alles, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint.“
Der Polizist sah sie aufmunternd an.
„Am Donnerstagmorgen kam der Brief. Ein Einschreiben. Das Jugendamt fordert mich auf zu einem Gespräch zu kommen. Sie haben erfahren, dass ich … manchmal etwas trinke. Sie meinen, dass ich mich zu wenig um Melanie kümmere, sie befürchten, dass das Kind darunter zu leiden hat. Vernachlässigung und … ich weiß das nicht mehr so genau. Sie wollen mir das Kind wegnehmen.“ Schluchzend drehte Frau Ascher den Kopf auf die Seite, verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.
„Das dürfen Sie nicht. Niemals. Nein.“ Stammelt sie unter Tränen.
„Hören Sie, helfen Sie mir, bitte. Ich trinke nicht mehr, ich tue alles, aber die dürfen mir mein Kind nicht wegnehmen. Bitte tun Sie etwas …“
Ratlos saß der Polizist neben ihr, fühlte sich unbehaglich, wusste nichts Tröstendes zu sagen. Allmählich begann er zu ahnen, warum Melanie verschwunden war.
„Wusste Melanie von dem Brief?“
“Nein, ich habe ihn vor ihr versteckt, bevor … aber ich weiß nicht mehr genau wo.“
„Bevor was?“
Frau Ascher schwieg.
„Bevor Sie getrunken haben?“
„Nein“, sie wehrte ab. Er sah sie aufmerksam an.
„Doch, Sie haben Recht. Ich war so erschrocken, dass ich etwas brauchte zur Beruhigung, da sah ich die offene Flasche, da trank ich sie leer, es war nur ein kleiner Rest. Melanie war auf einer Geburtstagsfeier, kam erst am Abend zurück. Ich versteckte den Brief, da fiel mir wieder ein, dass ich zur Arbeit musste, es war schon spät, der Bus fuhr in wenigen Minuten, ich musste ihn noch erreichen, um nicht zu spät zu kommen, das würde sonst Ärger geben, aber ich musste doch immer an diesen schrecklichen Brief denken, in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, Gedanken flogen wie aufgewirbelte Blätter herum, waren nicht zu fassen, blieben nicht ruhig, nicht fassbar, immer wieder, dieser Brief, den durfte Melanie auf keinen Fall sehen, das durfte sie nicht erfahren. Ich durfte aber meine Arbeit nicht verlieren, das wäre doch ein weiterer Grund für das Jugendamt. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich hatte die neue Arbeitsstelle noch nicht lange. Da klingelte auch noch das Telefon, mein Chef war dran, schon wütend, weil ich wieder zu spät kommen würde.“ „Melanie kam nach Ihnen von der Schule heim. Vielleicht hatte sie den Brief entdeckt?“
„Vielleicht … Dann hat sie jetzt schreckliche Angst, denkt ich mag sie nicht mehr, lasse sie allein.“
„Sie ist weggelaufen. In Panik. Das machen Kinder oft, sie laufen davon, meinen, vor dem Problem weglaufen zu können. Eine Art Verdrängung. Fluchtreflex. Könnte das so gewesen sein?“
Frau Ascher nickte. „Ich will Sie nicht belügen, aber ich habe mehr als den Rest in der Flasche getrunken …“
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Melanie finden. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns bei Ihnen. Gute Nacht.“

Freitag, 23.50 Uhr

Schwester Hannelore warf einen prüfenden Blick in das dämmrige Zimmer. Sie konnte im schwachen Licht der Nachtlampe nur Umrisse erkennen. Alles schien ruhig. Keine fremden Geräusche drangen an ihr Ohr. Behutsam schloss sie die Tür, um die Kranke nicht zu wecken. Ihre Schicht war in wenigen Minuten zu Ende und sie begann sich schon auf ihr Zuhause zu freuen, sehnte sich nach ihrem Bett, nach Schlaf, nach Abschalten. Gewissenhaft setzte sie ihren Rundgang fort. Da stutzte sie plötzlich, blieb abrupt stehen und lauschte. Sie hatte ein Geräusch vernommen, das vorher nicht da war. Entschlossen näherte sie sich wieder der Zimmertür mit der Nummer 17. Zögerte einen Moment, ehe sie sachte die Tür öffnete und auf das Bett am Fenster blickte. Sie nahm die Bewegung zuckender Schultern wahr und ein unterdrücktes Schluchzen. „Kann ich helfen?“, fragte sie freundlich und näherte sich dem Bett. Ein leises „Nein“, war die Antwort, die sie nicht überzeugen konnte. „Ich habe in wenigen Minuten Schichtwechsel, dann habe ich für Sie Zeit. Bis gleich.“ Beruhigend legte sie ihre Hand kurz auf die fremde Schulter, ehe sie das Zimmer erneut verließ, mit der festen Absicht, gleich wiederzukommen.
Auf der Station blieb alles ruhig. Noch drei Minuten, dann würde sie abgelöst werden. Sie blätterte interessiert in dem Krankenbericht von Frau Ascher, die allein auf Zimmer 17 lag.
… Eingeliefert am Donnerstag 20.35, Unfall, Sturz auf der Treppe, alkoholisierter Zustand, offener Schienbeinbruch, alleinerziehend, Tochter neun Jahre alt, war nicht anwesend …. Dann las sie die handschriftliche Notiz nicht auffindbar. Sie stockte. „Nicht auffindbar“. Ein Kind mit neun Jahren, nicht auffindbar. Sie begann zu ahnen, warum Frau Ascher in Tränen ausgebrochen war. Angst. Sorge. Sie konnte das gut nachfühlen, waren ihre Kinder auch schon älter, aber als Mutter fühlte man sich sofort verantwortlich, zuständig für alle kindlichen Probleme. Wo konnte das Mädchen bloß sein? Sie las weiter.
… Suchaktion von der Polizei bereits eingeleitet …
Schwester Anna, ihre Ablösung, erschien im Schwesternzimmer. „Guten Morgen. Alles in Ordnung?“ Die übliche Frage bei Schichtwechsel. Automatisch nickte sie. „Du schaust aber nicht danach aus“, bemerkte Schwester Anna aufmerksam. „Was ist los?“ Besorgt blickte sie auf ihre Kollegin. Schwester Hannelore hielt den Bericht hoch.
„Zimmer 17, der Neuzugang, Frau Ascher, ein schwieriger Fall.“
„Inwiefern?“
„Komplizierter Beinbruch, Alkoholprobleme und vor allem eine Tochter, die nicht aufzufinden ist, schlechter psychischer Zustand. Ich habe ihr versprochen, noch einmal zu ihr zu kommen.“
Verständnisvoll nickte Schwester Anna. Es war immer dasselbe. Die andere machte sich zu viele Gedanken. Man sollte sich nicht zu sehr mit den Problemen der Patienten belasten, denn sie verließen das Krankenhaus in den meisten Fällen geheilt, aber ohne ihre Probleme gelöst zu haben. Sie hatte diese Erfahrung in ihrer langjährigen Tätigkeit gemacht. Sie erhob längst keinen Anspruch mehr, die Probleme fremder Leute lösen zu wollen. Sie behandelte alle freundlich, hörte auch aufmerksam zu. Mehr nicht. Keine Kommentare, keine Hilfsangebote, keine Lösungsversuche. Das genügte meist auch. Ja, darin hatte sie Erfahrung. Aber diese Schwester Hannelore, die gab nicht auf, war davon überzeugt, mehr tun zu müssen und wohl auch davon, mehr tun zu können. Bitte. Sie hatte jetzt anderes zu erledigen.
„Also, ich geh dann, mach’s gut, bis morgen!“
Schwester Hannelore hatte sich inzwischen umgezogen und verließ das Schwesternzimmer.
Frau Ascher stellte sich schlafend, aber der angehaltene Atem verriet, dass sie wach war.
„Jetzt habe ich viel Zeit.“
Schwester Hannelore zog sich einen Stuhl ans Bett und wartete. Beide Frauen verharrten im Schweigen. Wie eine Ewigkeit erschien es der Schwester, aber es waren nur wenige Minuten.
„Was wollen Sie?“
Endlich.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Vielleicht haben Sie ein Bild von ihr?“
Erschrocken starrte Frau Ascher der Schwester, die jetzt ohne Schwesterntracht so anders aussah, ins Gesicht.
„Meine Tochter … Ich habe schon alles gesagt.“
„Ich habe auch eine Tochter. Sie sorgen sich um Melanie, so heißt sie doch, oder?“
„Sie ist verschwunden. Einfach weg …“, stöhnte Frau Ascher.
„Sie kann bei einer guten Freundin sein“, beruhigte sie Schwester Hannelore.
„Nein, sie hat keine gute Freundin. Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Keine gute Freundin, keine gute Mutter, keinen Vater. Sie hat … nichts. Nicht einmal einen Hund, den sie sich schon lange wünscht.“
„Ist sie zum ersten Mal so lange verschwunden?“
„Ja, sie hat immer Bescheid gesagt, wann sie wieder zurück ist, oder einen Zettel hinterlegt. Aber dieses Mal – nichts. Einfach weg. War auch nicht in der Schule.“
Frau Ascher drehte sich stumm auf die andere Seite. Geduldig blieb Hannelore sitzen.
„Was wollen Sie von mir?“ Wieder die leise Stimme.
„Gehen Sie doch, lassen Sie mich allein, ich bin das gewohnt.“
„Sie sind oft allein?“
„Allein, schon lange …“

Melanies Mutter erinnert sich

Der Wecker klingelte. Schlaftrunken stellte sie ihn ab, murmelte „aufstehen, halb sechs“ und schlief augenblicklich wieder ein. Aber etwas war anders. Plötzlich war sie wieder wach, tastete mit der Hand prüfend über die Bettdecke neben ihr, spürte eine Schulter, rüttelte sie energisch „Aufstehen, du kommst zu spät.“ Keine Reaktion. Alarmiert setzte sie sich im Bett auf. Er lag noch immer schlafend, ohne auf ihre Aufforderung zu reagieren. Kein Seufzen. Kein Gähnen. Kein Laut. Nichts war zu hören. Kein Geräusch. Sie zog ihm die Bettdecke weg, was normalerweise einen empörten Schrei zur Folge hatte. Er blieb stumm. Er blieb regungslos. Er sah sie nicht mal an. Augen geschlossen. Sie legte ihm die Hand auf die Brust. Keine Bewegung. Kein Heben und Senken. Kein Atmen. Die Haut fühlte sich warm an, aber kein Atmen. Plötzlich wusste sie, was das bedeutete: Kein Atmen, kein Leben. Er war tot.
Sie wagte es nicht zu denken, aber der Gedanke bohrte sich wie ein Messer in ihr Gehirn. Er blieb darin, weigerte sich zu verschwinden. Sie warf sich über ihren Freund, rüttelte ihn, boxte ihn, schrie ihn an, bettelte, flehte, verfluchte ihn, schwor ihm ihre Liebe. Immer wieder. Nichts rührte ihn mehr. Sie begann ihn zu streicheln. Stellte ihrem Gedanken ein Nein entgegen. Nein, das war nicht möglich. So jung noch, so gesund, das durfte nicht sein. Sie schmiegte sich an ihn, klammerte sich an ihm fest, wollte ihn nicht gehen lassen, obwohl er schon gegangen war. Versuchte in den Schlaf zu entfliehen. Vom Alptraum des Lebens zurück in den Schutz der Träume. Sie dämmerte weg, spürte seinen warmen Körper neben ihr, beruhigte sich allmählich, er war ja da, alles war gut, floh minutenlang in den Schlaf, in das Vergessen.
Das Telefon. Sie sprang erschrocken aus dem Bett. Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. Verschlafen. Sie hatten beide verschlafen. Ihr Chef. Sie hörte seine Stimme. Nicht unfreundlich, eher besorgt.
Nein, sie war nicht krank, aber sie konnte nicht in die Arbeit kommen, unmöglich. Ihr Freund. Sie durfte ihn nicht allein lassen, nicht jetzt, auf keinen Fall. Ob er einen Arzt kommen lassen sollte? Sie klänge so merkwürdig. Gehe es ihr auch wirklich gut? Was ist mit ihrem Freund?
Er brauche sie ganz dringend. Die letzte Wärme. Sie musste sie ihm geben. Er könnte kalt werden.
Sie warf das Telefon auf die Couch, antwortete nicht mehr, wusste später nicht mehr, dass sie ihrem Chef die Tür geöffnet hatte, als dieser Sturm geklingelt hatte. Ihrem Chef und einem Arzt, den sie nicht kannte. Wusste nicht mehr, dass sie betrunken gewesen war, betrunken von zu viel Alkohol und zu viel Schmerz. Erwachte erst allmählich in einem Krankenhausbett, allein, kein vertrauter Körper neben ihr, gepackt von Panik. Ein Würgereiz schüttelte sie. Eine Brechschale wurde ihr unter das Kinn gehalten. Sie war doch nicht allein. Aber er war nicht mehr da. Wohin hatten sie ihn gebracht?
Eine beruhigende Stimme erklärt ihr vorsichtig, was passiert war, aber sie wusste es doch schon längst, nun wurde sie erneut daran erinnert. Er war tot. Sekundentod. Plötzlich. Unerklärlich. Im nächsten Monat hätten sie geheiratet, hätten eine Hochzeitsreise unternommen. Alles war schon geplant, die Gäste bereits eingeladen.
Sie wurde am Tag der Beerdigung entlassen. Daran wollte sie nicht erinnert werden. Diesen Tag, der alles so endgültig machte, hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen, daran weigerte sie sich zu denken.
Sie schaffte es irgendwie, nach qualvollen Wochen, weiter zu leben ohne ihn. Andere halfen ihr dabei, Eltern, Freunde. Nach wenigen Wochen wusste sie, dass sie ein Kind erwartete. Sein Kind. Ihr gemeinsames Kind. Er würde es nie mehr erfahren, das Kind würde nie seinen Vater kennen lernen. Ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwankte zwischen Freude und Angst. Allein mit einem Kind. Wie sollte sie das bewältigen?
Die Schwangerschaft verlief problemlos. Nach einer anstrengenden Geburt legte die Hebamme ihr Melanie in den Arm. Erschöpft blicke sie auf ein gesundes Mädchen. So winzig. So unschuldig. Sie konnte sich nicht satt sehen. Freude und Trauer überwältigten sie. Ihr Mädchen, das ohne Vater war, von Anfang an. Alle Verantwortung lag nun auf ihr. Und er, der Vater, wird sich nie an seinem Kind freuen können. Nie. Drei Buchstaben, die eine Ewigkeit ausdrücken, eine Unendlichkeit. Nie.
Die Verantwortung gab ihr Kraft. Das Leben ihrer Tochter musste geschützt werden. Sie war gefordert. Ihre Aufgabe war das. Das Stillen verband Mutter und Tochter. Sie war stolz auf ihr Mädchen, das sich gesund entwickelte. Sie suchte nach seinen Augen in dem kleinen Gesicht, forschte nach Ähnlichkeiten, war glücklich in ihrem Lachen seines wieder zu entdecken. Aber sie hatte auch Angst. Sekundentod. Es konnte jeden treffen. Auch Kinder. Kindstod. Das Grauen verfolgte sie noch immer.
Sie war jung. Sie war gebunden. Sie war einsam. Ihre Freunde kamen immer seltener. Sie wurde kaum noch eingeladen. In der ersten Zeit bemerkte sie das nicht, war zu erschöpft, zu müde, zu sehr beschäftigt.
Als Melanie schon in den Kindergarten ging, wurde ihr bewusst, wie jung sie noch war. Die meisten der Mütter waren schon älter und hatten wenig Interesse an ihr. Da sehnte sie sich wieder nach ihren Freunden, die abends weggingen, sorglos schlafen konnten, nicht auf Atemzüge lauschen mussten, verfolgt von der Angst, diese nicht mehr zu hören. Sie war gebunden. Ihre Eltern hätten ihr das Kind schon abgenommen. Ab und zu. Aber sie spürte, dass die anderen sie mieden, sie die junge Witwe und Mutter störte ihr Vergnügen, weckte unangenehme Erinnerungen. Man blieb unter sich. Übertönte das schlechte Gewissen, das sich manchmal meldete durch den Lärm der Musik, zu der man tanzte.
Sie war einsam. Sobald ihre Tochter schlief suchte sie Entspannung, Erleichterung, sobald ihre Tochter schlief, griff sie zur Flasche. Der Vorrat stammte noch von ihm. Sie trank und dachte dabei an ihre gemeinsame Zeit. Sie konnte nicht weg, sie blieb und entfernte sich in ihren Gedanken. Der Alkohol half ihr dabei. Wenig am Anfang. Das Wenige reichte bald nicht mehr, um ihr schlechtes Gewissen zu ertränken, um für ausreichende Entspannung zu sorgen.

Noch konnte sie ihren Alkoholkonsum vor anderen verbergen. Sie hatte sogar wieder Arbeit gefunden, stundenweise. Melanies erster Schultag lag hinter ihr. Ihre Freiräume wurden größer, ihre Einsamkeit auch. Melanie erzählte nicht viel von der Schule, selten von ihren Mitschülern. Vielleicht zeigte sie als Mutter auch zu wenig Interesse daran, war froh, wenn Melanie draußen spielte oder bei anderen Kindern, wie sie manchmal sagte, aber nie brachte sie ein anderes Kind mit in ihre Wohnung. Ihr war das recht. Sie hatte sich kaum Gedanken über Melanies Einsamkeit gemacht. Ab und zu unternahmen sie gemeinsam etwas. Ein Kinobesuch, ein Tag im Tierpark oder im Schwimmbad, das machte ihre Tochter schon glücklich. An manchen Tagen war sie auch stolz auf ihr hübsches Mädchen, an anderen empfand sie das Kind als Belastung, als Hemmschuh, der sie davon abhielt, ihr Leben nach ihrem Geschmack zu gestalten. Sie fühlte sich noch zu jung, um so viel Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie vermisste ihn noch zu sehr, wollte sich in ihre Trauer fallen lassen wie in einen tiefen See, wollte nachdenken, sich erinnern, in der vergangenen Zeit leben, alles Schöne noch einmal erleben dürfen oder wenigstens mit jemand darüber können, mit jemandem, der ihn auch gekannt hatte.
Seine Eltern wohnten zu weit weg. Sie waren auch schon recht alt. Am Anfang war das Kind zu klein für sie, wie sie sagten, als Entschuldigung für die wenigen Kontakte, später war das Mädchen zu anstrengend, zu lebhaft in ihrem Alter wie sie betonten, sie seien überfordert. An Weihnachten und an Melanies Geburtstag schickten sie regelmäßig ein Päckchen und einen Brief, den Melanie seit sie schreiben gelernt hatte, selbst beantwortete, mit ihrer Hilfe. Ihr fiel das schwer, diese beiden Großeltern waren zu weit entfernt, zu unbekannt. Es blieb bei wenigen Sätzen, Floskeln. Allmählich wurden aus den Briefen Karten, die weniger Text erforderten. Ihre Eltern unterstützten sie von Anfang an, wohnten nicht allzu entfernt, übernahmen das Kind, um ihr Erholungspausen zu gönnen, vor allem nach anstrengenden Phasen, in denen Melanie krank war und sie sich nur nach Schlaf sehnte.
Zu Beginn des ersten Schuljahres erkrankte ihr Vater und ihre Mutter war mit seiner Pflege beschäftigt.

Nach Minuten des Schweigens beugte sich Schwester Hannelore über die Frau, die erschöpft im Bett lag und nicht mit ihr sprechen wollte.
„Ich komme morgen wieder. Auf Wiedersehen.“
Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.

Tonne (7)

06 Montag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Bahnhof, Depression, Freundschaft, Hund, Land, Leben, Park, Schlägerei, Zug, Zugfahrt

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

 

Freitag
Unterwegs im Zug

Abfahrt 11.40 Uhr! Melanie hatte nur diesen einen Gedanken im Kopf. Sie wollte mit Karl mitfahren, auf keinen Fall durfte sie den Zug verpassen. Sie wollte nichts vom Jugendamt wissen, wollte bei ihrer Mutter bleiben, aber jetzt musste sie weg, weit weg.
Schwer atmend erreichte Melanie den Bahnhof. Beinahe hätte sie an diesem Morgen verschlafen. Schon von weitem fiel ihr Karl auf dem Bahnsteig auf. Er hielt Tonne im Arm, was er sonst nie tat.
„Du fährst also doch mit?“, begrüßte er sie ungläubig. Seine Augen strahlten und Tonne wollte sich aus seinen Armen befreien, um an ihr hochzuspringen, aber Karl ließ es nicht zu. „Zu gefährlich“, murmelte er. Melanie besorgte am Kiosk noch Proviant für die Reise. Dann endlich fuhr der Zug ein und sie setzten sich in ein leeres Abteil und Melanie atmete erleichtert auf.
Schweigend blickten sie während der Fahrt aus dem Fenster, sahen draußen die Landschaft vorbeiziehen, spürten das gleichförmige, einschläfernde Rattern des Zuges, genossen das angenehme Gefühl des Unterwegs-Seins, des Alles-Zurücklassens, spürten wie sich ein grenzen-loses Freiheitsgefühl in ihrem Inneren ausbreitete.
„Wir haben es geschafft, Karl. Freust du dich?“ Melanie sah Karl an. „Ja, sehr“, erwiderte er und sie erkannte an seinen leuchtenden Augen, dass auch er sich freute. Immer wieder streichelte er Tonne, der zufrieden schlief, eingerollt unter der Sitzbank.
Der Schaffner störte ihre friedvolle Ruhe, als er die Fahrkarten verlangte. Melanie reichte sie ihm stumm, hoffte inständig, er würde keine lästigen Fragen stellen, und steckte sie erleichtert wieder in ihren Geldbeutel, nachdem der Mann, sie freundlich grüßend, das Abteil verlassen hatte. Sie waren lange Zeit allein im Abteil, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Draußen flog die Landschaft in rasender Geschwindigkeit vorbei.
Karl begann in seinem Rucksack zu wühlen. „Hast du Hunger?“, wollte Melanie wissen und griff gleichzeitig nach ihrem Rucksack, um ein eingewickeltes Päckchen herauszuziehen. Tonne wurde sofort wach und schnupperte in ihre Richtung. Sie entfernte das Papier und zog drei Wurstsemmeln heraus. Zwei hielt sie Karl hin, der gierig zugriff. „Die Wurst der einen Semmel gehört Tonne“, lachte Melanie, als sie sah wie der Hund aufgeregt Männchen machte, mit dem Schwanz wedelte und sie dabei bittend ansah. Karl warf Tonne die Wurstscheiben entgegen, der sie aus der Luft auffing und mit einem einzigen Bissen verschlang. Melanie biss hungrig in ihre Semmel.
„Wie ist deine Mama denn so?“, wollte sie von Karl wissen. „Ist sie nett?“ Karl nickte kauend. „Sehr nett“, murmelte er undeutlich. „Sehr traurig.“
„Wieso traurig?“, platzte Melanie heraus und wusste im gleichen Moment schon den Grund: Bettina, natürlich.
„Bettina ist tot“, sagte Karl.
„Und wie war Bettina?“, bohrte Melanie neugierig weiter.
„Unser Engel. Mama und Papa sagen: Bettina war unser Engel.“
Ungeduldig schüttelte das Mädchen den Kopf. Die Sache mit dem Engel kannte sie nun schon zur Genüge. Aber warum war Bettina ein Engel? Es musste doch etwas passiert sein. Was hatte Bettina angestellt?
„Warum ist Bettina tot?“
Karl schien nachzudenken. Er versank in Schweigen und blickte zurück in eine Zeit, als es Bettina noch gab. Wie ein Film lief der letzte Tag mit Bettina vor seinem geistigen Auge ab:

Sie spielen im Garten, bauen Türme aus Bauklötzen, hohe Türme, die nicht umfallen dürfen. Bettinas Turm stürzt immer wieder um, da wird sie wütend, er will sie besänftigen und lässt seinen Turm einkrachen, das bringt sie wieder zum Lachen und er hört sie doch so gerne lachen, so unbekümmert und froh. Plötzlich erscheint Mutter und sagt: ,Ich komme gleich wieder, muss schnell weg, Papa hat eine Autopanne, ich werde ihn rasch abholen. Pass gut auf Bettina auf, Karl, ruft sie noch, schon im Weggehen.
Minuten später hört er das Geräusch, ein Geräusch, das er noch nie gehört hat. Es kommt von der Straße, ein leises Fiepen, Jammern, Winseln, ganz weit weg und doch in der Nähe. Ohne auf Bettina zu achten, rennt er los, vergisst in diesem Moment seine kleine Schwester, rennt los, magisch angezogen von diesem seltsamen Geräusch. Angestrengt lauschend steht er am Gartentor, versucht die Richtung ausfindig zu machen, aus der diese seltsamen Töne kommen.

„Karl, träumst du?“ Ungeduldig durchdrang Melanies Stimme seine Gedankenwelt und riss ihn zurück in die Gegenwart.
Erschrocken starrte er sie an. Was wollte sie von ihm?
„Warum, Karl, sag, warum ist Bettina tot?“
Er konnte es nicht sagen, hatte keine Worte dafür, schüttelte abwehrend den Kopf und schau-te aus dem Fenster.
„Lass mich in Ruhe.“ Er flüsterte es fast, beinahe flehend klang es. Melanie spürte an dem ungewohnten Tonfall, dass sie nicht weiter fragen durfte und versank in betroffenes Schweigen. Tonne seufzte und klopfte mit dem Schwanz kurz auf den Boden, als wollte er die Stimmung der beiden aufhellen.

Mama. Mutter. Sie würde Karls Mutter kennen lernen. Heute noch, dachte das Mädchen. Dabei tauchte das Bild ihrer Mutter vor ihren Augen auf. Sie mochte ihre Mutter, gewiss, auch wenn sie oft miteinander stritten, auch wenn sie sah, dass ihre Mutter anders war, als die Mütter, die ratschend und lachend vor dem Schulhaus standen, auf ihre Kinder wartend, um sie mit dem Auto nach Hause zu bringen, wo sicher schon der Tisch gedeckt war und ein Essen bereitstand, so jedenfalls stellte Melanie sich das Leben mit anderen Müttern vor. Ihre Mutter dagegen arbeitete aushilfsweise in verschiedenen Betrieben, zu unterschiedlichen Zeiten. Manchmal war sie gut aufgelegt und zeigte Interesse an Melanie, fragte nach der Schule, nach Melanies Freunden, die sie sich erfand, da sie keine wirklichen hatte und ganz selten fragte sie auch nach ihren Wünschen. Ein Hund, das wusste sie inzwischen, war Melanies Lieblingswunsch, den sie ihr aber nicht erfüllen konnte oder wollte. Von Karl und Tonne hatte ihr Me-lanie noch nichts erzählt, die blieben ihr Geheimnis, das waren ihre einzigen Freunde. Sie wollte sie mit niemand teilen. Sie ahnte schon, was passieren würde: Vor Karl würde sie gewarnt werden, sie würde ihr vor ihm Angst machen, ihr vielleicht sogar verbieten, sich mit ihm zu treffen. Das wollte sie unbedingt vermeiden.
Was aber war, wenn ihre Mutter sich heute Sorgen um sie machen würde, weil sie nicht nach Hause gekommen war? Ein unruhiges Gefühl beschlich sie auf einmal. Und Karls Mutter? Was würde sie sagen, wenn sie mit Karl und dem Hund unerwartet bei ihr auftauchten? Vielleicht war die Idee mit der Reise doch nicht so gut, noch dazu, da Karl sich wieder so abweisend verhielt.
Inzwischen waren zwei Männer in ihr Abteil gekommen. Geschäftsmänner wohl. Sie stellten vorsichtig ihre Aktenkoffer auf dem Boden ab, nicht ohne vorher einen misstrauischen Blick auf Tonne geworfen zu haben, der sie einfach ignorierte.
Melanie gähnte, lehnte sich zurück, spürte Tonnes weiches Fell an ihren Beinen, genoss die Wärme, die der kleine Hundekörper abstrahlte und schlief allmählich ein. Karl starrte weiter aus dem Fenster, reglos mit unbewegtem Gesichtsausdruck.
Die beiden Männer verließen beim nächsten Halt das Abteil, entfernten sich grußlos.
Da fielen auch Karl die Augen zu. Der Zug raste in gleichförmigen Tempo durch die eintretende Dämmerung.
An mehreren Bahnhöfen stoppte der Zug. Geräusche und Stimmengewirr von draußen dran-gen gedämpft bis in das Abteil von Melanie und Karl, Tonne spitzte im Halbschlaf kurz die Ohren, aber als weder Karl noch Melanie sich rührten, legte er seufzend seinen Kopf zwischen die Pfoten und döste weiter.
Plötzlich, der Zug ruckte stark beim Anfahren, schrak das Mädchen aus dem Schlaf hoch. Erschrocken sah sie sich um. Dunkelheit umgab sie, aber sie war nicht zu Hause, lag nicht in ihrem Bett. Ihre Hand lag auf einem Hundekopf. Alles wurde ihr wieder klar, in Sekundenschnelle: Sie unternahm mit Karl und Tonne eine geheime Reise.
Aber warum waren sie immer noch nicht am Ziel?
Sie klopfte Karl auf die Schulter:
„Wach auf.“
Karl bewegte sich nicht. Melanie gelang es im Abteil Licht zu machen. Endlich, vom grellen Licht geblendet, begann Karl zu blinzeln. „Wach auf, Karl, wir müssten schon längst da sein.“
Melanie blickte auf die Fahrkarten. Ankunft in N. um 17.21 Uhr. Ihre Armbanduhr zeigte 21.39 Uhr.
„Verdammt, wir sind zu weit gefahren, Karl. Wir müssen beim nächsten Bahnhof aussteigen. Los, wir packen schon mal alles zusammen.“
Aufgeregt griff Melanie nach ihrem Rucksack, legte Tonne an die Leine, der erwartungsvoll zu wedeln begann in Aussicht auf einen Spaziergang, reichte Karl seinen Rucksack.
„Mensch, Karl, jetzt wissen wir nicht, wo wir sind. Hoffentlich hält der Zug bald.“
Immer wieder blickte sie auf ihre Uhr. Unendlich langsam verging ihr die Zeit. Nach langen Minuten verlangsamte der Zug allmählich sein Tempo, Lichter tauchten von draußen auf, Ortsschilder flogen vorbei, helle Fetzen, unlesbar. Endlich. Der Zug stand, sie öffneten die Türen und stürzten hinaus auf den Bahnsteig, sich suchend umblickend: Wo waren sie nun? Karl deutete stumm auf das Schild, das sich auf der anderen Seite über dem Bahnhofseingang befand. Sie rannten los, fanden die Unterführung, die zur Bahnhofshalle führte, durchquerten sie, standen kurz darauf vor dem Schild. „F.“, las Melanie. „F? Mensch, Karl, wir wollten doch nach N.“ Panik stieg in ihr hoch. Sie begann auf einmal zu frieren, fühlte sich so hilflos. Jetzt standen sie weit weg von daheim und auch weit weg von Karls Mutter. Ganz allein. Sie schaute Karl an, der schweigend dastand und keine Ahnung hatte, was zu tun war. Von ihm konnte sie keine Hilfe erwarten. Warum war der auch so komisch?
Tonne sprang an ihr hoch, fühlte sich wohl auch verlassen, fremd in dieser Umgebung. Doch langsam verebbte ihre aufkeimende Verzweiflung. Sie waren doch nicht ganz allein. Sie waren zu dritt. Kein Grund zum Heulen, redete sie sich ein.
Einige vorübergehende Reisende starrten sie verwundert und neugierig an. Ihnen war klar, die zwei kannten sich nicht aus. Bevor sie denen verdächtig erschienen, mussten sie den Bahnhof verlassen. Niemand sollte doch wissen, was sie vorhatten.
„Komm, Karl“, energisch zog Melanie Karl an der Hand weiter. „Wir suchen uns einen Schlafplatz. Morgen finden wir dann schon zu deiner Mama.“ Widerstandslos folgte ihr Karl.
Sie schritten über den erleuchteten Bahnhofsplatz, die Bahnhofsuhr zeigte 22.19 Uhr und Melanie entschied sich spontan für eine Richtung, ohne nachher sagen zu können, warum sie gerade diese gewählt hatte. Sie liefen lange eine ruhige, kaum beleuchtete Straße entlang, die immer schmaler wurde und schließlich in einen Park führte. Nostalgische Straßenlaternen er-hellten halbwegs die angelegten Spazierwege. Karl zeigte auf Papierkörbe, die in großen Abständen die Wege säumten, Melanie sehnte sich nach einer Bank. Sie brauchte Ruhe, um zu überlegen, was weiter zu tun sei. Der Weg bog um eine Kurve und da entdeckte sie eine Bank, die etwas abseits stand, von Sträuchern halb verborgen. „Die Bank Karl, schau die Bank dort, die nehmen wir.“
Karl nickte und folgte ihr. Das Holz der Bank fühlte sich kalt an und ungemütlich. Sie rückten näher zusammen, suchten die Wärme des anderen. „Was jetzt?“ Karl blickte sie ratlos an. „Essen, wir essen erst etwas, dann überlegen wir weiter.“ Mit diesen Worten reichte Melanie Karl noch eine belegte Semmel und ein Stückchen Schokolade. „Gib Tonne auch noch etwas.“ Karl zog einen Wassernapf aus dem Rucksack hervor, füllte ihn mit Wasser aus der mitgebrachten Flasche und ließ Trockenfutter daneben auf den Boden fallen. Während Tonne geräuschvoll schlürfte und krachend sein Futter zerbiss, aßen Karl und Melanie schweigend ihre Semmeln.
Lange Zeit saßen sie wortlos und müde nebeneinander, versunken in eigene Gedanken.
„Du, Karl, ich muss mal, ganz dringend.“ Melanie spürte plötzlich einen gewaltigen Druck auf ihrer Blase.
„Ich verschwinde kurz, bin gleich wieder da“, erklärte sie dem verblüfften Karl. „Den Hund nehme ich mit, ja?“ Sie verschwand mit Tonne rasch im Dickicht.
Karl beachtete Melanie nicht. Er dachte an seine Mutter. Schon längst sollte er bei ihr sein. Melanie würde ihr dabei helfen, wieder gesund zu werden. Melanie wäre eine neue, eine andere Bettina. Alles würde wieder gut werden. Seine Mutter müsste bloß Melanie kennen lernen. Melanie würde bei ihnen bleiben, auch sein Vater würde sich freuen. Er war überzeugt davon. Die schrecklichen Bilder würden ihn nie mehr verfolgen, ihn nie mehr aus dem Schlaf reißen oder sogar aus seinen Tagträumen, er konnte sie nicht verbannen, so sehr er es auch versuchte.

Unvergessen

Er steht am Gartentor und lauscht. Da, er hört es wieder, das seltsame Geräusch. Rechts. Da steht eine Mülltonne, abgestellt, am Straßenrand gegenüber, bereit zur Leerung, das Müllauto kommt gleich, er muss schnell sein, will wissen, was das Geräusch bedeutet. Er rennt los, über die Straße auf die Tonne zu, reißt den Deckel hoch, greift blind hinein und zieht ein lebendiges Fellbündel heraus, das jämmerlich fiept.

Unerwarteter Besuch

Laute Stimmen reißen ihn heraus aus seiner Traumwelt. Karl blickt geblendet vom Licht mehrerer Taschenlampen in fremde Gesichter, in spöttische Augen, sieht grinsende Münder, vernimmt hämische Worte, deren Sinn er nicht versteht, senkt den Kopf, starrt auf dreckige Stie-fel, die ganz nahe seinen Füßen sind, bedrohlich nahe. Plötzlich spürt er das Gewicht fremder Körper auf seinen Füßen, wird hochgerissenvon mehreren Armen gleichzeitig, wird geschüttelt, angeschrien, ist unfähig zu antworten, bringt einfach kein Wort heraus, schweigt, da erhält er einen Schlag ins Gesicht, einen Hieb in den Magen, sackt zusammen, krümmt sich vor Schmerz, immer noch stumm, nimmt hilflos hin, dass er in den Rücken geboxt wird, ringt nach Luft, den Mund weit geöffnet, hängt zwischen fremden Armen, die ihn auf den Boden zwingen wollen, gnadenlos.
„Tonne, fass!“, gellt da eine schrille Stimme ganz in der Nähe. „Fass, Tonne.“ Ein weißes Knäuel wirft sich laut knurrend in das Gewühl aus fremden Beinen und Armen. „Verflixter Köter, hau ab.“ Drohende Stimmen. Immer wieder rast Tonne in das Gewühl, beißt, zerrt, reißt, fasst mit seinen Zähnen, was er zu packen bekommt, jault auf, wenn er von Fußtritten getroffen wird, gibt nicht auf, will zu Karl. „Hilfe!“, schreit Melanie. Ununterbrochen. „Hilfe!“
Erst als Tonne an ihr hochspringt und dann wieder Karl umkreist, bemerkt Melanie, dass sie wieder allein sind, zu dritt allein. Karl stöhnt leise. Er liegt am Boden, die Hände vor das Ge-sicht gepresst, zusammengekrümmt wie ein Embryo im Mutterleib. „Karl. Karl.“ Melanie streichelt ihn. Berührt vorsichtig seinen Kopf, seinen Rücken. „Sie sind weg. Karl, sie sind weg.“ Immer wieder, wie eine Mutter mit ihrem Kind spricht, so wiederholt Melanie die immer gleichen Worte, will Karl beruhigen, besänftigen. „Du blutest ja.“ Warmes Blut tropfte auf ihren Finger, Blut aus Karls Nase. „Diese Schweine“, flucht Melanie. „Ihr verdammten, ekligen Schweine, Ich hasse euch“, schreit Melanie mit erstickter Stimme, ehe sie in fassungsloses Schluchzen ausbricht.

Samstag, 4.10 Uhr
Karl erwacht im Krankenhaus in F.

„Karl.“
Melanie beugte sich zu Karl. Ganz nah. Er sah so fremd aus. Sie erschrak und zuckte zurück. Dieses weiße Gesicht. Der weiße Verband. So fremd. Die Haare so kurz auf einmal. Die Augen geschlossen. Das weiße Hemd. War Karl jetzt ein Engel? Aber da lag die ihr vertraute Hand auf der Bettdecke. Sie strich sanft über die Finger. Immer wieder. „Karl?“
Er blinzelte mit den Augenlidern, geblendet von dem grellen Licht.
„Er wacht gleich auf“. Eine ältere Schwester nickte ihr aufmunternd zu, zog einen Stuhl ans Bett. „Setz dich.“
Melanie saß da, schweigend, wartend.
„Mein Engel“, flüsterte Karl mit heiserer Stimme.
„Karl, ich bin’s. Wie geht es dir?“

Tonne (6)

03 Freitag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Überfall, Bücherei, Freundschaft, Hund, Krankenhaus, Krankenwagen, Polizei, Rettung, Schläger

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Freitag, 22 Uhr
Herr Kenter auf der Polizeiwache

Am Donnerstag kam Melanie so gegen 14 Uhr in die Bücherei. Sie wirkte irgendwie verstört, anders als sonst. Suchend blickte sie sich um. Ich kam ihr entgegen, hatte hinter einem Bücherregal neue Bücher eingeordnet. Sie schien erleichtert, als sie mich entdeckte und kam eilig auf mich zu. Ich fragte nach ihrem Fahrrad, denn ich hatte versprochen, es zu reparieren.
„Mein Fahrrad steht vor der Tür, aber ich kann nicht bleiben, muss gleich wieder weg. Da wartet jemand auf mich.“ Ehe ich nachfragen konnte, war sie schon wieder verschwunden. Verwundert sah ich, wie sie rasch zu einem jungen Mann lief, der mit einem kleinen Hund neben sich auf der Bank vor der Bücherei saß. Der Hund wedelte begeistert und sprang ungestüm an Melanie hoch, hüpfte wie ein weißbraun-gefleckter Ball um sie herum. Die kennen sich, dachte ich nur und machte mich wieder an meine Arbeit.
Seltsam, durchfuhr es mich da. Noch nie hatte mir Melanie von dem Hund erzählt und auch nicht von dem jungen Mann. Ein seltsames Kind, diese Melanie, aber sehr nett, doch, immer höflich und freundlich.

Samstag, 1 Uhr
Aussage Frau Wiegers auf der Polizeiwache in F.

Kurz vor Mitternacht wartete ich an der Haltestelle auf den Bus, der wie so oft einige Minuten Verspätung hatte, da sah ich das Mädchen die schwach beleuchtete Straße entlanglaufen. Sie blickte immer wieder suchend umher, bis sie mich an der Haltestelle erblickte. Da rannte sie plötzlich schneller, geradewegs auf mich zu.
„Hilfe!“, schluchzte sie erschöpft, „bitte helfen Sie mir!“
Erschrocken sah ich sie an, nahm bei ihrem Näherkommen auf ihrer Kleidung undeutlich dunkle Flecken wahr, ihre langen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und an ihren Händen klebte Erde.
„Hast du dich verletzt?“’, fragte ich sie.
„Nein, nein, nicht ich, … Karl. Sie haben ihn geschlagen. Helfen Sie, bitte. Kommen Sie mit.“
Sie packte mich verzweifelt an der Hand und wandte sich wieder um, zog mich in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Es musste etwas Schreckliches geschehen sein. Ich spürte das. Es war Ernst. Ohne nachzudenken ließ ich mich ziehen, aber in meinem Alter ging das nicht so schnell, ich konnte kaum mit ihr Schritt halten.
„Langsam, ich komme ja kaum mit. Erzähl mir, was passiert ist.“
Allmählich beruhigte sie sich ein wenig und sprach von einem Karl, einer Tonne, einer Mutter, die sie wieder gesundmachen wollten, die in einer Klinik lag und nicht mehr sprach. Ehrlich, ich verstand nur Bruchstücke, aber ich ließ sie reden, weil es sie anscheinend beruhigte.
Sie führte mich in den Stadtpark, verlangsamte ihre Schritte und schien sich nicht mehr sicher zu sein, wohin sie gehen musste, um diesen Karl zu finden. Da rief sie laut: „Tonne, komm.“ Ehe ich begriff, was sie damit meinte, sprang plötzlich ein kleiner Hund an ihr hoch, scheinbar aufgetaucht aus dem dunklen Nichts, bellte, jaulte vor Freude über das Wiedersehen. „Tonne, wo ist Karl?“
Der Hund schien tatsächlich zu begreifen. Er drehte sich blitzschnell um, raste los in eine bestimmte Richtung und wir folgten ihm bzw. seinem lauten Bellen, als er bei Karl angekommen war. Endlich. Die Angst ließ  sogar mich laufen, als ich zu begreifen begann, dass da ein Verletzter lag.
„Karl, rief das Mädchen. Karl, ich bin wieder da.“
Sie rüttelte leicht die Gestalt, die zusammengekauert auf dem Boden neben der Bank lag und leise stöhnte. Ich beugte mich rasch über den dunklen Körper, berührte vorsichtig das fremde Gesicht, spürte Feuchtigkeit an meinen Fingern. Blut.
„Was fehlt Ihnen?“, fragte ich ihn. Keine Antwort. Das Mädchen erklärte: „Er spricht nicht richtig, nur mit mir, manchmal.“
Ein Arzt. Wir brauchten unbedingt einen Arzt. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und rief den Notarzt, schilderte die Lage. „Alles wird gut“, beruhigte ich den jungen Mann. „Karl, Karl“, jammerte das Mädchen. Der Hund sprang in heller Aufregung um Karl herum. Wir warteten. Sekunden, Minuten, eine Ewigkeit. Endlich. Blaulicht blitzte auf. „Sie kommen“, sagte ich. „Hörst du das Martinshorn? Fremde Stimmen. Dunkle Schatten näherten sich. Ich ging ihnen entgegen.
„Hierher.“
Ein Arzt beugte sich über den jungen Mann, drehte ihn um, untersuchte ihn und versorgte die Wunde notdürftig mit einem Verband. „Das muss genäht werden.“ Zwei Sanitäter hoben den Verletzten vorsichtig auf eine Trage, wollten ihn rasch zum Rettungswagen bringen.
„Karl“’, schrie das Mädchen verzweifelt, „ich will mit und Tonne auch.“
Die Männer sahen sich fragend nach uns um.
Da erschienen zwei Polizisten.
„Sie können nicht mit. Er wird ins Krankenhaus gebracht. Sie müssen mit uns kommen.“
„Nein, nein“, schrie das Mädchen entsetzt und klammerte sich an der Trage fest. „Er braucht mich.“
„Kind, wir fahren doch gleich hinterher“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Oder?“, fragte ich die beiden Polizisten.
Sie sahen sich kurz an und nickten.  „Wir fahren mit dem Auto hinterher.“ Da erst ließ die Kleine die Trage los und nahm Tonne, der ebenfalls Karl hinterher wollte auf den Arm.

Samstag, 1.20 Uhr
Melanie auf der Polizeiwache in F.

Auf der Wache kümmerte sich eine junge Polizeibeamtin um Melanie, gab ihr zu trinken, wusch ihr das Gesicht und begann, sie freundlich zu befragen. Die Schläger. Der Vorfall. Die Reise. Die Zugfahrt. Das Ziel. Der Grund. Melanie sagte nur einen Satz: „Ich muss zu Karl.“ Ansonsten schwieg sie hartnäckig, während Tonne abwartend zu ihren Füßen lag.

Samstag, 4 Uhr
Im Krankenhaus von F.

Das helle Licht, der lange Gang, der so verlassen da lag, die roten und grünen Lämpchen über den Türen, hinter denen fremde Menschen krank in Betten lagen, die weißgekleideten Schwestern, die stumm vorbei huschten, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, der lautlos auftauchende Arzt, das alles beunruhigten Melanie.
Sie wollte zu Karl, wollte wissen, wie es ihm ging. Sofort. Aber es dauerte. Sie musste mit der fremden Frau auf einer Bank vor einem Zimmer sitzen und warten. Minute um Minute verstrich. Melanie fühlte bleierne Müdigkeit aufsteigen. Immer wieder fielen ihr kurz die Augen zu, die sie erschrocken wieder aufriss. Die Frau neben ihr legte den Arm um ihre Schultern. Irgendwann gab sie ihren Widerstand auf, ihr Kopf schmiegte sich erschöpft an die fremde Schulter, deren Wärme so tröstlich war. Melanie erlebte ihre gemeinsame Reise in Gedanken noch einmal. Wie in einem Film sah sie die vergangenen Stunden vorübergleiten, war gleichzeitig Zuschauerin und Schauspielerin.

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