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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Kategorien-Archiv: Belletristik

Fragil

02 Montag Apr 2018

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Gefühl, Leben

So leicht zerbrechlich
das Glück eines Augenblicks
unwiederholbar.

Wintersturm

17 Mittwoch Jan 2018

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Gedicht, Literatur

≈ Ein Kommentar

Schlagwörter

Kälte, Leben, Nacht, Sturm, Traum, Winter

Durch frostige Nacht
tobt laut heulend ein Sturm der
entführt meinen Traum.

Winterlicht

30 Samstag Dez 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Gedicht, Literatur

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Schlagwörter

Feld, Land, Landschaft, Leben, Schatten, Schnee, Winter, Winterlicht

Schnee bedeckt das Feld,
Winterlicht funkelt golden
mit Schatten eisblau.

Novemberrose

18 Samstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Gedicht, Literatur, Lyrik

≈ 2 Kommentare

Schlagwörter

Erinnerung, Freude, Leben, Natur, Rose

Novemberrose
von weißem Frost ummantelt
letzter Sommergruß.

Tonne (8)

11 Samstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Depression, Freundschaft, Krankenhaus, Leben, Polizei, Polizist, Tod

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Im Krankenhaus
Freitag, 20.30 Uhr

„Melanie?“
Fragend blickte Frau Ascher in das ernste Gesicht des Polizisten, der neben ihrem Bett stand. Er zog sich erst einen Stuhl ans Bett, ehe er den Kopf schüttelte.
„Nein, wir konnten noch nichts Näheres über sie herausfinden. Kann es sein, dass das Mädchen einen bestimmten Grund hatte, plötzlich zu verschwinden? Wissen Sie, wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder verschwinden, weil sie Angst haben, daheim Ärger zu bekommen, wegen schlechter Noten zum Beispiel oder aus für uns geringfügig erscheinenden Anlässen die von den Kindern als schwerwiegend und furchteinflößend empfunden werden. Kann es sein, dass sie Angst vor Strafen hatte, aus welchem Grund auch immer?“
Stumm schüttelte die Frau den Kopf. Sie schien nachzudenken.
Angst? Wovor könnte Melanie Angst haben? Vor Strafen gewiss nicht. Sie selbst war oft eher zu apathisch als dass sie sich ernsthaft mit dem Kind auseinandergesetzt hätte. Sie ließ sie zu sehr gewähren. Eine strenge Mutter war sie nicht, wohl eher eine gleichgültige, aber das – so dachte sie jetzt – war wohl noch schlimmer.
Melanie. Sie versuchte sich vorzustellen, Melanie würde nicht zurückkommen. Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein, der Brief, der daran schuld war, dass sie gestern Abend getrunken hatte. Der Brief! Mein Gott, wo hatte sie ihn bloß versteckt? Melanie durfte auf keinen Fall davon erfahren. Ja, jetzt wusste sie es, wovor ihre Tochter sich am meisten fürchtete, vor einem Leben ohne ihre Mutter. Wie oft hatte sie schon nach ihrem Vater gefragt … Sie hätte es ihr längst schon sagen müssen … Melanie befürchtete, ihre Mutter zu verlieren. Sie wollte nicht allein sein. Nicht allein bei fremden Menschen, die sie aufzogen oder allein in einem Heim. Der Brief! Sie musste es der Polizei sagen.

„Der Brief“ begann sie zögernd, „der Brief könnte ein Grund gewesen sein.“
„Von welchem Brief sprechen Sie denn?“
„Der Brief vom Jugendamt.“
„Bitte, Frau Ascher, wenn Sie uns helfen wollen, Melanie zu finden, dann erzählen Sie uns alles, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint.“
Der Polizist sah sie aufmunternd an.
„Am Donnerstagmorgen kam der Brief. Ein Einschreiben. Das Jugendamt fordert mich auf zu einem Gespräch zu kommen. Sie haben erfahren, dass ich … manchmal etwas trinke. Sie meinen, dass ich mich zu wenig um Melanie kümmere, sie befürchten, dass das Kind darunter zu leiden hat. Vernachlässigung und … ich weiß das nicht mehr so genau. Sie wollen mir das Kind wegnehmen.“ Schluchzend drehte Frau Ascher den Kopf auf die Seite, verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.
„Das dürfen Sie nicht. Niemals. Nein.“ Stammelt sie unter Tränen.
„Hören Sie, helfen Sie mir, bitte. Ich trinke nicht mehr, ich tue alles, aber die dürfen mir mein Kind nicht wegnehmen. Bitte tun Sie etwas …“
Ratlos saß der Polizist neben ihr, fühlte sich unbehaglich, wusste nichts Tröstendes zu sagen. Allmählich begann er zu ahnen, warum Melanie verschwunden war.
„Wusste Melanie von dem Brief?“
“Nein, ich habe ihn vor ihr versteckt, bevor … aber ich weiß nicht mehr genau wo.“
„Bevor was?“
Frau Ascher schwieg.
„Bevor Sie getrunken haben?“
„Nein“, sie wehrte ab. Er sah sie aufmerksam an.
„Doch, Sie haben Recht. Ich war so erschrocken, dass ich etwas brauchte zur Beruhigung, da sah ich die offene Flasche, da trank ich sie leer, es war nur ein kleiner Rest. Melanie war auf einer Geburtstagsfeier, kam erst am Abend zurück. Ich versteckte den Brief, da fiel mir wieder ein, dass ich zur Arbeit musste, es war schon spät, der Bus fuhr in wenigen Minuten, ich musste ihn noch erreichen, um nicht zu spät zu kommen, das würde sonst Ärger geben, aber ich musste doch immer an diesen schrecklichen Brief denken, in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, Gedanken flogen wie aufgewirbelte Blätter herum, waren nicht zu fassen, blieben nicht ruhig, nicht fassbar, immer wieder, dieser Brief, den durfte Melanie auf keinen Fall sehen, das durfte sie nicht erfahren. Ich durfte aber meine Arbeit nicht verlieren, das wäre doch ein weiterer Grund für das Jugendamt. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich hatte die neue Arbeitsstelle noch nicht lange. Da klingelte auch noch das Telefon, mein Chef war dran, schon wütend, weil ich wieder zu spät kommen würde.“ „Melanie kam nach Ihnen von der Schule heim. Vielleicht hatte sie den Brief entdeckt?“
„Vielleicht … Dann hat sie jetzt schreckliche Angst, denkt ich mag sie nicht mehr, lasse sie allein.“
„Sie ist weggelaufen. In Panik. Das machen Kinder oft, sie laufen davon, meinen, vor dem Problem weglaufen zu können. Eine Art Verdrängung. Fluchtreflex. Könnte das so gewesen sein?“
Frau Ascher nickte. „Ich will Sie nicht belügen, aber ich habe mehr als den Rest in der Flasche getrunken …“
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Melanie finden. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns bei Ihnen. Gute Nacht.“

Freitag, 23.50 Uhr

Schwester Hannelore warf einen prüfenden Blick in das dämmrige Zimmer. Sie konnte im schwachen Licht der Nachtlampe nur Umrisse erkennen. Alles schien ruhig. Keine fremden Geräusche drangen an ihr Ohr. Behutsam schloss sie die Tür, um die Kranke nicht zu wecken. Ihre Schicht war in wenigen Minuten zu Ende und sie begann sich schon auf ihr Zuhause zu freuen, sehnte sich nach ihrem Bett, nach Schlaf, nach Abschalten. Gewissenhaft setzte sie ihren Rundgang fort. Da stutzte sie plötzlich, blieb abrupt stehen und lauschte. Sie hatte ein Geräusch vernommen, das vorher nicht da war. Entschlossen näherte sie sich wieder der Zimmertür mit der Nummer 17. Zögerte einen Moment, ehe sie sachte die Tür öffnete und auf das Bett am Fenster blickte. Sie nahm die Bewegung zuckender Schultern wahr und ein unterdrücktes Schluchzen. „Kann ich helfen?“, fragte sie freundlich und näherte sich dem Bett. Ein leises „Nein“, war die Antwort, die sie nicht überzeugen konnte. „Ich habe in wenigen Minuten Schichtwechsel, dann habe ich für Sie Zeit. Bis gleich.“ Beruhigend legte sie ihre Hand kurz auf die fremde Schulter, ehe sie das Zimmer erneut verließ, mit der festen Absicht, gleich wiederzukommen.
Auf der Station blieb alles ruhig. Noch drei Minuten, dann würde sie abgelöst werden. Sie blätterte interessiert in dem Krankenbericht von Frau Ascher, die allein auf Zimmer 17 lag.
… Eingeliefert am Donnerstag 20.35, Unfall, Sturz auf der Treppe, alkoholisierter Zustand, offener Schienbeinbruch, alleinerziehend, Tochter neun Jahre alt, war nicht anwesend …. Dann las sie die handschriftliche Notiz nicht auffindbar. Sie stockte. „Nicht auffindbar“. Ein Kind mit neun Jahren, nicht auffindbar. Sie begann zu ahnen, warum Frau Ascher in Tränen ausgebrochen war. Angst. Sorge. Sie konnte das gut nachfühlen, waren ihre Kinder auch schon älter, aber als Mutter fühlte man sich sofort verantwortlich, zuständig für alle kindlichen Probleme. Wo konnte das Mädchen bloß sein? Sie las weiter.
… Suchaktion von der Polizei bereits eingeleitet …
Schwester Anna, ihre Ablösung, erschien im Schwesternzimmer. „Guten Morgen. Alles in Ordnung?“ Die übliche Frage bei Schichtwechsel. Automatisch nickte sie. „Du schaust aber nicht danach aus“, bemerkte Schwester Anna aufmerksam. „Was ist los?“ Besorgt blickte sie auf ihre Kollegin. Schwester Hannelore hielt den Bericht hoch.
„Zimmer 17, der Neuzugang, Frau Ascher, ein schwieriger Fall.“
„Inwiefern?“
„Komplizierter Beinbruch, Alkoholprobleme und vor allem eine Tochter, die nicht aufzufinden ist, schlechter psychischer Zustand. Ich habe ihr versprochen, noch einmal zu ihr zu kommen.“
Verständnisvoll nickte Schwester Anna. Es war immer dasselbe. Die andere machte sich zu viele Gedanken. Man sollte sich nicht zu sehr mit den Problemen der Patienten belasten, denn sie verließen das Krankenhaus in den meisten Fällen geheilt, aber ohne ihre Probleme gelöst zu haben. Sie hatte diese Erfahrung in ihrer langjährigen Tätigkeit gemacht. Sie erhob längst keinen Anspruch mehr, die Probleme fremder Leute lösen zu wollen. Sie behandelte alle freundlich, hörte auch aufmerksam zu. Mehr nicht. Keine Kommentare, keine Hilfsangebote, keine Lösungsversuche. Das genügte meist auch. Ja, darin hatte sie Erfahrung. Aber diese Schwester Hannelore, die gab nicht auf, war davon überzeugt, mehr tun zu müssen und wohl auch davon, mehr tun zu können. Bitte. Sie hatte jetzt anderes zu erledigen.
„Also, ich geh dann, mach’s gut, bis morgen!“
Schwester Hannelore hatte sich inzwischen umgezogen und verließ das Schwesternzimmer.
Frau Ascher stellte sich schlafend, aber der angehaltene Atem verriet, dass sie wach war.
„Jetzt habe ich viel Zeit.“
Schwester Hannelore zog sich einen Stuhl ans Bett und wartete. Beide Frauen verharrten im Schweigen. Wie eine Ewigkeit erschien es der Schwester, aber es waren nur wenige Minuten.
„Was wollen Sie?“
Endlich.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Vielleicht haben Sie ein Bild von ihr?“
Erschrocken starrte Frau Ascher der Schwester, die jetzt ohne Schwesterntracht so anders aussah, ins Gesicht.
„Meine Tochter … Ich habe schon alles gesagt.“
„Ich habe auch eine Tochter. Sie sorgen sich um Melanie, so heißt sie doch, oder?“
„Sie ist verschwunden. Einfach weg …“, stöhnte Frau Ascher.
„Sie kann bei einer guten Freundin sein“, beruhigte sie Schwester Hannelore.
„Nein, sie hat keine gute Freundin. Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Keine gute Freundin, keine gute Mutter, keinen Vater. Sie hat … nichts. Nicht einmal einen Hund, den sie sich schon lange wünscht.“
„Ist sie zum ersten Mal so lange verschwunden?“
„Ja, sie hat immer Bescheid gesagt, wann sie wieder zurück ist, oder einen Zettel hinterlegt. Aber dieses Mal – nichts. Einfach weg. War auch nicht in der Schule.“
Frau Ascher drehte sich stumm auf die andere Seite. Geduldig blieb Hannelore sitzen.
„Was wollen Sie von mir?“ Wieder die leise Stimme.
„Gehen Sie doch, lassen Sie mich allein, ich bin das gewohnt.“
„Sie sind oft allein?“
„Allein, schon lange …“

Melanies Mutter erinnert sich

Der Wecker klingelte. Schlaftrunken stellte sie ihn ab, murmelte „aufstehen, halb sechs“ und schlief augenblicklich wieder ein. Aber etwas war anders. Plötzlich war sie wieder wach, tastete mit der Hand prüfend über die Bettdecke neben ihr, spürte eine Schulter, rüttelte sie energisch „Aufstehen, du kommst zu spät.“ Keine Reaktion. Alarmiert setzte sie sich im Bett auf. Er lag noch immer schlafend, ohne auf ihre Aufforderung zu reagieren. Kein Seufzen. Kein Gähnen. Kein Laut. Nichts war zu hören. Kein Geräusch. Sie zog ihm die Bettdecke weg, was normalerweise einen empörten Schrei zur Folge hatte. Er blieb stumm. Er blieb regungslos. Er sah sie nicht mal an. Augen geschlossen. Sie legte ihm die Hand auf die Brust. Keine Bewegung. Kein Heben und Senken. Kein Atmen. Die Haut fühlte sich warm an, aber kein Atmen. Plötzlich wusste sie, was das bedeutete: Kein Atmen, kein Leben. Er war tot.
Sie wagte es nicht zu denken, aber der Gedanke bohrte sich wie ein Messer in ihr Gehirn. Er blieb darin, weigerte sich zu verschwinden. Sie warf sich über ihren Freund, rüttelte ihn, boxte ihn, schrie ihn an, bettelte, flehte, verfluchte ihn, schwor ihm ihre Liebe. Immer wieder. Nichts rührte ihn mehr. Sie begann ihn zu streicheln. Stellte ihrem Gedanken ein Nein entgegen. Nein, das war nicht möglich. So jung noch, so gesund, das durfte nicht sein. Sie schmiegte sich an ihn, klammerte sich an ihm fest, wollte ihn nicht gehen lassen, obwohl er schon gegangen war. Versuchte in den Schlaf zu entfliehen. Vom Alptraum des Lebens zurück in den Schutz der Träume. Sie dämmerte weg, spürte seinen warmen Körper neben ihr, beruhigte sich allmählich, er war ja da, alles war gut, floh minutenlang in den Schlaf, in das Vergessen.
Das Telefon. Sie sprang erschrocken aus dem Bett. Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. Verschlafen. Sie hatten beide verschlafen. Ihr Chef. Sie hörte seine Stimme. Nicht unfreundlich, eher besorgt.
Nein, sie war nicht krank, aber sie konnte nicht in die Arbeit kommen, unmöglich. Ihr Freund. Sie durfte ihn nicht allein lassen, nicht jetzt, auf keinen Fall. Ob er einen Arzt kommen lassen sollte? Sie klänge so merkwürdig. Gehe es ihr auch wirklich gut? Was ist mit ihrem Freund?
Er brauche sie ganz dringend. Die letzte Wärme. Sie musste sie ihm geben. Er könnte kalt werden.
Sie warf das Telefon auf die Couch, antwortete nicht mehr, wusste später nicht mehr, dass sie ihrem Chef die Tür geöffnet hatte, als dieser Sturm geklingelt hatte. Ihrem Chef und einem Arzt, den sie nicht kannte. Wusste nicht mehr, dass sie betrunken gewesen war, betrunken von zu viel Alkohol und zu viel Schmerz. Erwachte erst allmählich in einem Krankenhausbett, allein, kein vertrauter Körper neben ihr, gepackt von Panik. Ein Würgereiz schüttelte sie. Eine Brechschale wurde ihr unter das Kinn gehalten. Sie war doch nicht allein. Aber er war nicht mehr da. Wohin hatten sie ihn gebracht?
Eine beruhigende Stimme erklärt ihr vorsichtig, was passiert war, aber sie wusste es doch schon längst, nun wurde sie erneut daran erinnert. Er war tot. Sekundentod. Plötzlich. Unerklärlich. Im nächsten Monat hätten sie geheiratet, hätten eine Hochzeitsreise unternommen. Alles war schon geplant, die Gäste bereits eingeladen.
Sie wurde am Tag der Beerdigung entlassen. Daran wollte sie nicht erinnert werden. Diesen Tag, der alles so endgültig machte, hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen, daran weigerte sie sich zu denken.
Sie schaffte es irgendwie, nach qualvollen Wochen, weiter zu leben ohne ihn. Andere halfen ihr dabei, Eltern, Freunde. Nach wenigen Wochen wusste sie, dass sie ein Kind erwartete. Sein Kind. Ihr gemeinsames Kind. Er würde es nie mehr erfahren, das Kind würde nie seinen Vater kennen lernen. Ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwankte zwischen Freude und Angst. Allein mit einem Kind. Wie sollte sie das bewältigen?
Die Schwangerschaft verlief problemlos. Nach einer anstrengenden Geburt legte die Hebamme ihr Melanie in den Arm. Erschöpft blicke sie auf ein gesundes Mädchen. So winzig. So unschuldig. Sie konnte sich nicht satt sehen. Freude und Trauer überwältigten sie. Ihr Mädchen, das ohne Vater war, von Anfang an. Alle Verantwortung lag nun auf ihr. Und er, der Vater, wird sich nie an seinem Kind freuen können. Nie. Drei Buchstaben, die eine Ewigkeit ausdrücken, eine Unendlichkeit. Nie.
Die Verantwortung gab ihr Kraft. Das Leben ihrer Tochter musste geschützt werden. Sie war gefordert. Ihre Aufgabe war das. Das Stillen verband Mutter und Tochter. Sie war stolz auf ihr Mädchen, das sich gesund entwickelte. Sie suchte nach seinen Augen in dem kleinen Gesicht, forschte nach Ähnlichkeiten, war glücklich in ihrem Lachen seines wieder zu entdecken. Aber sie hatte auch Angst. Sekundentod. Es konnte jeden treffen. Auch Kinder. Kindstod. Das Grauen verfolgte sie noch immer.
Sie war jung. Sie war gebunden. Sie war einsam. Ihre Freunde kamen immer seltener. Sie wurde kaum noch eingeladen. In der ersten Zeit bemerkte sie das nicht, war zu erschöpft, zu müde, zu sehr beschäftigt.
Als Melanie schon in den Kindergarten ging, wurde ihr bewusst, wie jung sie noch war. Die meisten der Mütter waren schon älter und hatten wenig Interesse an ihr. Da sehnte sie sich wieder nach ihren Freunden, die abends weggingen, sorglos schlafen konnten, nicht auf Atemzüge lauschen mussten, verfolgt von der Angst, diese nicht mehr zu hören. Sie war gebunden. Ihre Eltern hätten ihr das Kind schon abgenommen. Ab und zu. Aber sie spürte, dass die anderen sie mieden, sie die junge Witwe und Mutter störte ihr Vergnügen, weckte unangenehme Erinnerungen. Man blieb unter sich. Übertönte das schlechte Gewissen, das sich manchmal meldete durch den Lärm der Musik, zu der man tanzte.
Sie war einsam. Sobald ihre Tochter schlief suchte sie Entspannung, Erleichterung, sobald ihre Tochter schlief, griff sie zur Flasche. Der Vorrat stammte noch von ihm. Sie trank und dachte dabei an ihre gemeinsame Zeit. Sie konnte nicht weg, sie blieb und entfernte sich in ihren Gedanken. Der Alkohol half ihr dabei. Wenig am Anfang. Das Wenige reichte bald nicht mehr, um ihr schlechtes Gewissen zu ertränken, um für ausreichende Entspannung zu sorgen.

Noch konnte sie ihren Alkoholkonsum vor anderen verbergen. Sie hatte sogar wieder Arbeit gefunden, stundenweise. Melanies erster Schultag lag hinter ihr. Ihre Freiräume wurden größer, ihre Einsamkeit auch. Melanie erzählte nicht viel von der Schule, selten von ihren Mitschülern. Vielleicht zeigte sie als Mutter auch zu wenig Interesse daran, war froh, wenn Melanie draußen spielte oder bei anderen Kindern, wie sie manchmal sagte, aber nie brachte sie ein anderes Kind mit in ihre Wohnung. Ihr war das recht. Sie hatte sich kaum Gedanken über Melanies Einsamkeit gemacht. Ab und zu unternahmen sie gemeinsam etwas. Ein Kinobesuch, ein Tag im Tierpark oder im Schwimmbad, das machte ihre Tochter schon glücklich. An manchen Tagen war sie auch stolz auf ihr hübsches Mädchen, an anderen empfand sie das Kind als Belastung, als Hemmschuh, der sie davon abhielt, ihr Leben nach ihrem Geschmack zu gestalten. Sie fühlte sich noch zu jung, um so viel Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie vermisste ihn noch zu sehr, wollte sich in ihre Trauer fallen lassen wie in einen tiefen See, wollte nachdenken, sich erinnern, in der vergangenen Zeit leben, alles Schöne noch einmal erleben dürfen oder wenigstens mit jemand darüber können, mit jemandem, der ihn auch gekannt hatte.
Seine Eltern wohnten zu weit weg. Sie waren auch schon recht alt. Am Anfang war das Kind zu klein für sie, wie sie sagten, als Entschuldigung für die wenigen Kontakte, später war das Mädchen zu anstrengend, zu lebhaft in ihrem Alter wie sie betonten, sie seien überfordert. An Weihnachten und an Melanies Geburtstag schickten sie regelmäßig ein Päckchen und einen Brief, den Melanie seit sie schreiben gelernt hatte, selbst beantwortete, mit ihrer Hilfe. Ihr fiel das schwer, diese beiden Großeltern waren zu weit entfernt, zu unbekannt. Es blieb bei wenigen Sätzen, Floskeln. Allmählich wurden aus den Briefen Karten, die weniger Text erforderten. Ihre Eltern unterstützten sie von Anfang an, wohnten nicht allzu entfernt, übernahmen das Kind, um ihr Erholungspausen zu gönnen, vor allem nach anstrengenden Phasen, in denen Melanie krank war und sie sich nur nach Schlaf sehnte.
Zu Beginn des ersten Schuljahres erkrankte ihr Vater und ihre Mutter war mit seiner Pflege beschäftigt.

Nach Minuten des Schweigens beugte sich Schwester Hannelore über die Frau, die erschöpft im Bett lag und nicht mit ihr sprechen wollte.
„Ich komme morgen wieder. Auf Wiedersehen.“
Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.

Tonne (7)

06 Montag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Bahnhof, Depression, Freundschaft, Hund, Land, Leben, Park, Schlägerei, Zug, Zugfahrt

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

 

Freitag
Unterwegs im Zug

Abfahrt 11.40 Uhr! Melanie hatte nur diesen einen Gedanken im Kopf. Sie wollte mit Karl mitfahren, auf keinen Fall durfte sie den Zug verpassen. Sie wollte nichts vom Jugendamt wissen, wollte bei ihrer Mutter bleiben, aber jetzt musste sie weg, weit weg.
Schwer atmend erreichte Melanie den Bahnhof. Beinahe hätte sie an diesem Morgen verschlafen. Schon von weitem fiel ihr Karl auf dem Bahnsteig auf. Er hielt Tonne im Arm, was er sonst nie tat.
„Du fährst also doch mit?“, begrüßte er sie ungläubig. Seine Augen strahlten und Tonne wollte sich aus seinen Armen befreien, um an ihr hochzuspringen, aber Karl ließ es nicht zu. „Zu gefährlich“, murmelte er. Melanie besorgte am Kiosk noch Proviant für die Reise. Dann endlich fuhr der Zug ein und sie setzten sich in ein leeres Abteil und Melanie atmete erleichtert auf.
Schweigend blickten sie während der Fahrt aus dem Fenster, sahen draußen die Landschaft vorbeiziehen, spürten das gleichförmige, einschläfernde Rattern des Zuges, genossen das angenehme Gefühl des Unterwegs-Seins, des Alles-Zurücklassens, spürten wie sich ein grenzen-loses Freiheitsgefühl in ihrem Inneren ausbreitete.
„Wir haben es geschafft, Karl. Freust du dich?“ Melanie sah Karl an. „Ja, sehr“, erwiderte er und sie erkannte an seinen leuchtenden Augen, dass auch er sich freute. Immer wieder streichelte er Tonne, der zufrieden schlief, eingerollt unter der Sitzbank.
Der Schaffner störte ihre friedvolle Ruhe, als er die Fahrkarten verlangte. Melanie reichte sie ihm stumm, hoffte inständig, er würde keine lästigen Fragen stellen, und steckte sie erleichtert wieder in ihren Geldbeutel, nachdem der Mann, sie freundlich grüßend, das Abteil verlassen hatte. Sie waren lange Zeit allein im Abteil, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Draußen flog die Landschaft in rasender Geschwindigkeit vorbei.
Karl begann in seinem Rucksack zu wühlen. „Hast du Hunger?“, wollte Melanie wissen und griff gleichzeitig nach ihrem Rucksack, um ein eingewickeltes Päckchen herauszuziehen. Tonne wurde sofort wach und schnupperte in ihre Richtung. Sie entfernte das Papier und zog drei Wurstsemmeln heraus. Zwei hielt sie Karl hin, der gierig zugriff. „Die Wurst der einen Semmel gehört Tonne“, lachte Melanie, als sie sah wie der Hund aufgeregt Männchen machte, mit dem Schwanz wedelte und sie dabei bittend ansah. Karl warf Tonne die Wurstscheiben entgegen, der sie aus der Luft auffing und mit einem einzigen Bissen verschlang. Melanie biss hungrig in ihre Semmel.
„Wie ist deine Mama denn so?“, wollte sie von Karl wissen. „Ist sie nett?“ Karl nickte kauend. „Sehr nett“, murmelte er undeutlich. „Sehr traurig.“
„Wieso traurig?“, platzte Melanie heraus und wusste im gleichen Moment schon den Grund: Bettina, natürlich.
„Bettina ist tot“, sagte Karl.
„Und wie war Bettina?“, bohrte Melanie neugierig weiter.
„Unser Engel. Mama und Papa sagen: Bettina war unser Engel.“
Ungeduldig schüttelte das Mädchen den Kopf. Die Sache mit dem Engel kannte sie nun schon zur Genüge. Aber warum war Bettina ein Engel? Es musste doch etwas passiert sein. Was hatte Bettina angestellt?
„Warum ist Bettina tot?“
Karl schien nachzudenken. Er versank in Schweigen und blickte zurück in eine Zeit, als es Bettina noch gab. Wie ein Film lief der letzte Tag mit Bettina vor seinem geistigen Auge ab:

Sie spielen im Garten, bauen Türme aus Bauklötzen, hohe Türme, die nicht umfallen dürfen. Bettinas Turm stürzt immer wieder um, da wird sie wütend, er will sie besänftigen und lässt seinen Turm einkrachen, das bringt sie wieder zum Lachen und er hört sie doch so gerne lachen, so unbekümmert und froh. Plötzlich erscheint Mutter und sagt: ,Ich komme gleich wieder, muss schnell weg, Papa hat eine Autopanne, ich werde ihn rasch abholen. Pass gut auf Bettina auf, Karl, ruft sie noch, schon im Weggehen.
Minuten später hört er das Geräusch, ein Geräusch, das er noch nie gehört hat. Es kommt von der Straße, ein leises Fiepen, Jammern, Winseln, ganz weit weg und doch in der Nähe. Ohne auf Bettina zu achten, rennt er los, vergisst in diesem Moment seine kleine Schwester, rennt los, magisch angezogen von diesem seltsamen Geräusch. Angestrengt lauschend steht er am Gartentor, versucht die Richtung ausfindig zu machen, aus der diese seltsamen Töne kommen.

„Karl, träumst du?“ Ungeduldig durchdrang Melanies Stimme seine Gedankenwelt und riss ihn zurück in die Gegenwart.
Erschrocken starrte er sie an. Was wollte sie von ihm?
„Warum, Karl, sag, warum ist Bettina tot?“
Er konnte es nicht sagen, hatte keine Worte dafür, schüttelte abwehrend den Kopf und schau-te aus dem Fenster.
„Lass mich in Ruhe.“ Er flüsterte es fast, beinahe flehend klang es. Melanie spürte an dem ungewohnten Tonfall, dass sie nicht weiter fragen durfte und versank in betroffenes Schweigen. Tonne seufzte und klopfte mit dem Schwanz kurz auf den Boden, als wollte er die Stimmung der beiden aufhellen.

Mama. Mutter. Sie würde Karls Mutter kennen lernen. Heute noch, dachte das Mädchen. Dabei tauchte das Bild ihrer Mutter vor ihren Augen auf. Sie mochte ihre Mutter, gewiss, auch wenn sie oft miteinander stritten, auch wenn sie sah, dass ihre Mutter anders war, als die Mütter, die ratschend und lachend vor dem Schulhaus standen, auf ihre Kinder wartend, um sie mit dem Auto nach Hause zu bringen, wo sicher schon der Tisch gedeckt war und ein Essen bereitstand, so jedenfalls stellte Melanie sich das Leben mit anderen Müttern vor. Ihre Mutter dagegen arbeitete aushilfsweise in verschiedenen Betrieben, zu unterschiedlichen Zeiten. Manchmal war sie gut aufgelegt und zeigte Interesse an Melanie, fragte nach der Schule, nach Melanies Freunden, die sie sich erfand, da sie keine wirklichen hatte und ganz selten fragte sie auch nach ihren Wünschen. Ein Hund, das wusste sie inzwischen, war Melanies Lieblingswunsch, den sie ihr aber nicht erfüllen konnte oder wollte. Von Karl und Tonne hatte ihr Me-lanie noch nichts erzählt, die blieben ihr Geheimnis, das waren ihre einzigen Freunde. Sie wollte sie mit niemand teilen. Sie ahnte schon, was passieren würde: Vor Karl würde sie gewarnt werden, sie würde ihr vor ihm Angst machen, ihr vielleicht sogar verbieten, sich mit ihm zu treffen. Das wollte sie unbedingt vermeiden.
Was aber war, wenn ihre Mutter sich heute Sorgen um sie machen würde, weil sie nicht nach Hause gekommen war? Ein unruhiges Gefühl beschlich sie auf einmal. Und Karls Mutter? Was würde sie sagen, wenn sie mit Karl und dem Hund unerwartet bei ihr auftauchten? Vielleicht war die Idee mit der Reise doch nicht so gut, noch dazu, da Karl sich wieder so abweisend verhielt.
Inzwischen waren zwei Männer in ihr Abteil gekommen. Geschäftsmänner wohl. Sie stellten vorsichtig ihre Aktenkoffer auf dem Boden ab, nicht ohne vorher einen misstrauischen Blick auf Tonne geworfen zu haben, der sie einfach ignorierte.
Melanie gähnte, lehnte sich zurück, spürte Tonnes weiches Fell an ihren Beinen, genoss die Wärme, die der kleine Hundekörper abstrahlte und schlief allmählich ein. Karl starrte weiter aus dem Fenster, reglos mit unbewegtem Gesichtsausdruck.
Die beiden Männer verließen beim nächsten Halt das Abteil, entfernten sich grußlos.
Da fielen auch Karl die Augen zu. Der Zug raste in gleichförmigen Tempo durch die eintretende Dämmerung.
An mehreren Bahnhöfen stoppte der Zug. Geräusche und Stimmengewirr von draußen dran-gen gedämpft bis in das Abteil von Melanie und Karl, Tonne spitzte im Halbschlaf kurz die Ohren, aber als weder Karl noch Melanie sich rührten, legte er seufzend seinen Kopf zwischen die Pfoten und döste weiter.
Plötzlich, der Zug ruckte stark beim Anfahren, schrak das Mädchen aus dem Schlaf hoch. Erschrocken sah sie sich um. Dunkelheit umgab sie, aber sie war nicht zu Hause, lag nicht in ihrem Bett. Ihre Hand lag auf einem Hundekopf. Alles wurde ihr wieder klar, in Sekundenschnelle: Sie unternahm mit Karl und Tonne eine geheime Reise.
Aber warum waren sie immer noch nicht am Ziel?
Sie klopfte Karl auf die Schulter:
„Wach auf.“
Karl bewegte sich nicht. Melanie gelang es im Abteil Licht zu machen. Endlich, vom grellen Licht geblendet, begann Karl zu blinzeln. „Wach auf, Karl, wir müssten schon längst da sein.“
Melanie blickte auf die Fahrkarten. Ankunft in N. um 17.21 Uhr. Ihre Armbanduhr zeigte 21.39 Uhr.
„Verdammt, wir sind zu weit gefahren, Karl. Wir müssen beim nächsten Bahnhof aussteigen. Los, wir packen schon mal alles zusammen.“
Aufgeregt griff Melanie nach ihrem Rucksack, legte Tonne an die Leine, der erwartungsvoll zu wedeln begann in Aussicht auf einen Spaziergang, reichte Karl seinen Rucksack.
„Mensch, Karl, jetzt wissen wir nicht, wo wir sind. Hoffentlich hält der Zug bald.“
Immer wieder blickte sie auf ihre Uhr. Unendlich langsam verging ihr die Zeit. Nach langen Minuten verlangsamte der Zug allmählich sein Tempo, Lichter tauchten von draußen auf, Ortsschilder flogen vorbei, helle Fetzen, unlesbar. Endlich. Der Zug stand, sie öffneten die Türen und stürzten hinaus auf den Bahnsteig, sich suchend umblickend: Wo waren sie nun? Karl deutete stumm auf das Schild, das sich auf der anderen Seite über dem Bahnhofseingang befand. Sie rannten los, fanden die Unterführung, die zur Bahnhofshalle führte, durchquerten sie, standen kurz darauf vor dem Schild. „F.“, las Melanie. „F? Mensch, Karl, wir wollten doch nach N.“ Panik stieg in ihr hoch. Sie begann auf einmal zu frieren, fühlte sich so hilflos. Jetzt standen sie weit weg von daheim und auch weit weg von Karls Mutter. Ganz allein. Sie schaute Karl an, der schweigend dastand und keine Ahnung hatte, was zu tun war. Von ihm konnte sie keine Hilfe erwarten. Warum war der auch so komisch?
Tonne sprang an ihr hoch, fühlte sich wohl auch verlassen, fremd in dieser Umgebung. Doch langsam verebbte ihre aufkeimende Verzweiflung. Sie waren doch nicht ganz allein. Sie waren zu dritt. Kein Grund zum Heulen, redete sie sich ein.
Einige vorübergehende Reisende starrten sie verwundert und neugierig an. Ihnen war klar, die zwei kannten sich nicht aus. Bevor sie denen verdächtig erschienen, mussten sie den Bahnhof verlassen. Niemand sollte doch wissen, was sie vorhatten.
„Komm, Karl“, energisch zog Melanie Karl an der Hand weiter. „Wir suchen uns einen Schlafplatz. Morgen finden wir dann schon zu deiner Mama.“ Widerstandslos folgte ihr Karl.
Sie schritten über den erleuchteten Bahnhofsplatz, die Bahnhofsuhr zeigte 22.19 Uhr und Melanie entschied sich spontan für eine Richtung, ohne nachher sagen zu können, warum sie gerade diese gewählt hatte. Sie liefen lange eine ruhige, kaum beleuchtete Straße entlang, die immer schmaler wurde und schließlich in einen Park führte. Nostalgische Straßenlaternen er-hellten halbwegs die angelegten Spazierwege. Karl zeigte auf Papierkörbe, die in großen Abständen die Wege säumten, Melanie sehnte sich nach einer Bank. Sie brauchte Ruhe, um zu überlegen, was weiter zu tun sei. Der Weg bog um eine Kurve und da entdeckte sie eine Bank, die etwas abseits stand, von Sträuchern halb verborgen. „Die Bank Karl, schau die Bank dort, die nehmen wir.“
Karl nickte und folgte ihr. Das Holz der Bank fühlte sich kalt an und ungemütlich. Sie rückten näher zusammen, suchten die Wärme des anderen. „Was jetzt?“ Karl blickte sie ratlos an. „Essen, wir essen erst etwas, dann überlegen wir weiter.“ Mit diesen Worten reichte Melanie Karl noch eine belegte Semmel und ein Stückchen Schokolade. „Gib Tonne auch noch etwas.“ Karl zog einen Wassernapf aus dem Rucksack hervor, füllte ihn mit Wasser aus der mitgebrachten Flasche und ließ Trockenfutter daneben auf den Boden fallen. Während Tonne geräuschvoll schlürfte und krachend sein Futter zerbiss, aßen Karl und Melanie schweigend ihre Semmeln.
Lange Zeit saßen sie wortlos und müde nebeneinander, versunken in eigene Gedanken.
„Du, Karl, ich muss mal, ganz dringend.“ Melanie spürte plötzlich einen gewaltigen Druck auf ihrer Blase.
„Ich verschwinde kurz, bin gleich wieder da“, erklärte sie dem verblüfften Karl. „Den Hund nehme ich mit, ja?“ Sie verschwand mit Tonne rasch im Dickicht.
Karl beachtete Melanie nicht. Er dachte an seine Mutter. Schon längst sollte er bei ihr sein. Melanie würde ihr dabei helfen, wieder gesund zu werden. Melanie wäre eine neue, eine andere Bettina. Alles würde wieder gut werden. Seine Mutter müsste bloß Melanie kennen lernen. Melanie würde bei ihnen bleiben, auch sein Vater würde sich freuen. Er war überzeugt davon. Die schrecklichen Bilder würden ihn nie mehr verfolgen, ihn nie mehr aus dem Schlaf reißen oder sogar aus seinen Tagträumen, er konnte sie nicht verbannen, so sehr er es auch versuchte.

Unvergessen

Er steht am Gartentor und lauscht. Da, er hört es wieder, das seltsame Geräusch. Rechts. Da steht eine Mülltonne, abgestellt, am Straßenrand gegenüber, bereit zur Leerung, das Müllauto kommt gleich, er muss schnell sein, will wissen, was das Geräusch bedeutet. Er rennt los, über die Straße auf die Tonne zu, reißt den Deckel hoch, greift blind hinein und zieht ein lebendiges Fellbündel heraus, das jämmerlich fiept.

Unerwarteter Besuch

Laute Stimmen reißen ihn heraus aus seiner Traumwelt. Karl blickt geblendet vom Licht mehrerer Taschenlampen in fremde Gesichter, in spöttische Augen, sieht grinsende Münder, vernimmt hämische Worte, deren Sinn er nicht versteht, senkt den Kopf, starrt auf dreckige Stie-fel, die ganz nahe seinen Füßen sind, bedrohlich nahe. Plötzlich spürt er das Gewicht fremder Körper auf seinen Füßen, wird hochgerissenvon mehreren Armen gleichzeitig, wird geschüttelt, angeschrien, ist unfähig zu antworten, bringt einfach kein Wort heraus, schweigt, da erhält er einen Schlag ins Gesicht, einen Hieb in den Magen, sackt zusammen, krümmt sich vor Schmerz, immer noch stumm, nimmt hilflos hin, dass er in den Rücken geboxt wird, ringt nach Luft, den Mund weit geöffnet, hängt zwischen fremden Armen, die ihn auf den Boden zwingen wollen, gnadenlos.
„Tonne, fass!“, gellt da eine schrille Stimme ganz in der Nähe. „Fass, Tonne.“ Ein weißes Knäuel wirft sich laut knurrend in das Gewühl aus fremden Beinen und Armen. „Verflixter Köter, hau ab.“ Drohende Stimmen. Immer wieder rast Tonne in das Gewühl, beißt, zerrt, reißt, fasst mit seinen Zähnen, was er zu packen bekommt, jault auf, wenn er von Fußtritten getroffen wird, gibt nicht auf, will zu Karl. „Hilfe!“, schreit Melanie. Ununterbrochen. „Hilfe!“
Erst als Tonne an ihr hochspringt und dann wieder Karl umkreist, bemerkt Melanie, dass sie wieder allein sind, zu dritt allein. Karl stöhnt leise. Er liegt am Boden, die Hände vor das Ge-sicht gepresst, zusammengekrümmt wie ein Embryo im Mutterleib. „Karl. Karl.“ Melanie streichelt ihn. Berührt vorsichtig seinen Kopf, seinen Rücken. „Sie sind weg. Karl, sie sind weg.“ Immer wieder, wie eine Mutter mit ihrem Kind spricht, so wiederholt Melanie die immer gleichen Worte, will Karl beruhigen, besänftigen. „Du blutest ja.“ Warmes Blut tropfte auf ihren Finger, Blut aus Karls Nase. „Diese Schweine“, flucht Melanie. „Ihr verdammten, ekligen Schweine, Ich hasse euch“, schreit Melanie mit erstickter Stimme, ehe sie in fassungsloses Schluchzen ausbricht.

Samstag, 4.10 Uhr
Karl erwacht im Krankenhaus in F.

„Karl.“
Melanie beugte sich zu Karl. Ganz nah. Er sah so fremd aus. Sie erschrak und zuckte zurück. Dieses weiße Gesicht. Der weiße Verband. So fremd. Die Haare so kurz auf einmal. Die Augen geschlossen. Das weiße Hemd. War Karl jetzt ein Engel? Aber da lag die ihr vertraute Hand auf der Bettdecke. Sie strich sanft über die Finger. Immer wieder. „Karl?“
Er blinzelte mit den Augenlidern, geblendet von dem grellen Licht.
„Er wacht gleich auf“. Eine ältere Schwester nickte ihr aufmunternd zu, zog einen Stuhl ans Bett. „Setz dich.“
Melanie saß da, schweigend, wartend.
„Mein Engel“, flüsterte Karl mit heiserer Stimme.
„Karl, ich bin’s. Wie geht es dir?“

Tonne (6)

03 Freitag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Überfall, Bücherei, Freundschaft, Hund, Krankenhaus, Krankenwagen, Polizei, Rettung, Schläger

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Freitag, 22 Uhr
Herr Kenter auf der Polizeiwache

Am Donnerstag kam Melanie so gegen 14 Uhr in die Bücherei. Sie wirkte irgendwie verstört, anders als sonst. Suchend blickte sie sich um. Ich kam ihr entgegen, hatte hinter einem Bücherregal neue Bücher eingeordnet. Sie schien erleichtert, als sie mich entdeckte und kam eilig auf mich zu. Ich fragte nach ihrem Fahrrad, denn ich hatte versprochen, es zu reparieren.
„Mein Fahrrad steht vor der Tür, aber ich kann nicht bleiben, muss gleich wieder weg. Da wartet jemand auf mich.“ Ehe ich nachfragen konnte, war sie schon wieder verschwunden. Verwundert sah ich, wie sie rasch zu einem jungen Mann lief, der mit einem kleinen Hund neben sich auf der Bank vor der Bücherei saß. Der Hund wedelte begeistert und sprang ungestüm an Melanie hoch, hüpfte wie ein weißbraun-gefleckter Ball um sie herum. Die kennen sich, dachte ich nur und machte mich wieder an meine Arbeit.
Seltsam, durchfuhr es mich da. Noch nie hatte mir Melanie von dem Hund erzählt und auch nicht von dem jungen Mann. Ein seltsames Kind, diese Melanie, aber sehr nett, doch, immer höflich und freundlich.

Samstag, 1 Uhr
Aussage Frau Wiegers auf der Polizeiwache in F.

Kurz vor Mitternacht wartete ich an der Haltestelle auf den Bus, der wie so oft einige Minuten Verspätung hatte, da sah ich das Mädchen die schwach beleuchtete Straße entlanglaufen. Sie blickte immer wieder suchend umher, bis sie mich an der Haltestelle erblickte. Da rannte sie plötzlich schneller, geradewegs auf mich zu.
„Hilfe!“, schluchzte sie erschöpft, „bitte helfen Sie mir!“
Erschrocken sah ich sie an, nahm bei ihrem Näherkommen auf ihrer Kleidung undeutlich dunkle Flecken wahr, ihre langen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und an ihren Händen klebte Erde.
„Hast du dich verletzt?“’, fragte ich sie.
„Nein, nein, nicht ich, … Karl. Sie haben ihn geschlagen. Helfen Sie, bitte. Kommen Sie mit.“
Sie packte mich verzweifelt an der Hand und wandte sich wieder um, zog mich in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Es musste etwas Schreckliches geschehen sein. Ich spürte das. Es war Ernst. Ohne nachzudenken ließ ich mich ziehen, aber in meinem Alter ging das nicht so schnell, ich konnte kaum mit ihr Schritt halten.
„Langsam, ich komme ja kaum mit. Erzähl mir, was passiert ist.“
Allmählich beruhigte sie sich ein wenig und sprach von einem Karl, einer Tonne, einer Mutter, die sie wieder gesundmachen wollten, die in einer Klinik lag und nicht mehr sprach. Ehrlich, ich verstand nur Bruchstücke, aber ich ließ sie reden, weil es sie anscheinend beruhigte.
Sie führte mich in den Stadtpark, verlangsamte ihre Schritte und schien sich nicht mehr sicher zu sein, wohin sie gehen musste, um diesen Karl zu finden. Da rief sie laut: „Tonne, komm.“ Ehe ich begriff, was sie damit meinte, sprang plötzlich ein kleiner Hund an ihr hoch, scheinbar aufgetaucht aus dem dunklen Nichts, bellte, jaulte vor Freude über das Wiedersehen. „Tonne, wo ist Karl?“
Der Hund schien tatsächlich zu begreifen. Er drehte sich blitzschnell um, raste los in eine bestimmte Richtung und wir folgten ihm bzw. seinem lauten Bellen, als er bei Karl angekommen war. Endlich. Die Angst ließ  sogar mich laufen, als ich zu begreifen begann, dass da ein Verletzter lag.
„Karl, rief das Mädchen. Karl, ich bin wieder da.“
Sie rüttelte leicht die Gestalt, die zusammengekauert auf dem Boden neben der Bank lag und leise stöhnte. Ich beugte mich rasch über den dunklen Körper, berührte vorsichtig das fremde Gesicht, spürte Feuchtigkeit an meinen Fingern. Blut.
„Was fehlt Ihnen?“, fragte ich ihn. Keine Antwort. Das Mädchen erklärte: „Er spricht nicht richtig, nur mit mir, manchmal.“
Ein Arzt. Wir brauchten unbedingt einen Arzt. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und rief den Notarzt, schilderte die Lage. „Alles wird gut“, beruhigte ich den jungen Mann. „Karl, Karl“, jammerte das Mädchen. Der Hund sprang in heller Aufregung um Karl herum. Wir warteten. Sekunden, Minuten, eine Ewigkeit. Endlich. Blaulicht blitzte auf. „Sie kommen“, sagte ich. „Hörst du das Martinshorn? Fremde Stimmen. Dunkle Schatten näherten sich. Ich ging ihnen entgegen.
„Hierher.“
Ein Arzt beugte sich über den jungen Mann, drehte ihn um, untersuchte ihn und versorgte die Wunde notdürftig mit einem Verband. „Das muss genäht werden.“ Zwei Sanitäter hoben den Verletzten vorsichtig auf eine Trage, wollten ihn rasch zum Rettungswagen bringen.
„Karl“’, schrie das Mädchen verzweifelt, „ich will mit und Tonne auch.“
Die Männer sahen sich fragend nach uns um.
Da erschienen zwei Polizisten.
„Sie können nicht mit. Er wird ins Krankenhaus gebracht. Sie müssen mit uns kommen.“
„Nein, nein“, schrie das Mädchen entsetzt und klammerte sich an der Trage fest. „Er braucht mich.“
„Kind, wir fahren doch gleich hinterher“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Oder?“, fragte ich die beiden Polizisten.
Sie sahen sich kurz an und nickten.  „Wir fahren mit dem Auto hinterher.“ Da erst ließ die Kleine die Trage los und nahm Tonne, der ebenfalls Karl hinterher wollte auf den Arm.

Samstag, 1.20 Uhr
Melanie auf der Polizeiwache in F.

Auf der Wache kümmerte sich eine junge Polizeibeamtin um Melanie, gab ihr zu trinken, wusch ihr das Gesicht und begann, sie freundlich zu befragen. Die Schläger. Der Vorfall. Die Reise. Die Zugfahrt. Das Ziel. Der Grund. Melanie sagte nur einen Satz: „Ich muss zu Karl.“ Ansonsten schwieg sie hartnäckig, während Tonne abwartend zu ihren Füßen lag.

Samstag, 4 Uhr
Im Krankenhaus von F.

Das helle Licht, der lange Gang, der so verlassen da lag, die roten und grünen Lämpchen über den Türen, hinter denen fremde Menschen krank in Betten lagen, die weißgekleideten Schwestern, die stumm vorbei huschten, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, der lautlos auftauchende Arzt, das alles beunruhigten Melanie.
Sie wollte zu Karl, wollte wissen, wie es ihm ging. Sofort. Aber es dauerte. Sie musste mit der fremden Frau auf einer Bank vor einem Zimmer sitzen und warten. Minute um Minute verstrich. Melanie fühlte bleierne Müdigkeit aufsteigen. Immer wieder fielen ihr kurz die Augen zu, die sie erschrocken wieder aufriss. Die Frau neben ihr legte den Arm um ihre Schultern. Irgendwann gab sie ihren Widerstand auf, ihr Kopf schmiegte sich erschöpft an die fremde Schulter, deren Wärme so tröstlich war. Melanie erlebte ihre gemeinsame Reise in Gedanken noch einmal. Wie in einem Film sah sie die vergangenen Stunden vorübergleiten, war gleichzeitig Zuschauerin und Schauspielerin.

Tonne (5)

29 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Arzt, Depression, Freundschaft, Hund, Kind, Krankenhaus, Leben, Lehrerin, Schule

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Karls Plan zu verreisen

Er hatte Hunger und suchte in der Küche nach Essbarem. Seit seine Mutter in der Klinik war, fühlte er sich ständig hungrig. Sein Vater versorgte sie beide so gut es ging. Er brachte aus dem Krankenhaus abgepackte Portionen mit, die ihnen beiden aber nicht so recht schmecken wollten. Irgendetwas fehlte, vermissten sie beide. Es lagen nun oft Kekspackungen herum, die ihren Heißhunger auf Süßes kurzfristig stillten.
So eine Packung suchte Karl. Während er ungeduldig Schranktüren öffnete, Geschirr verschob, in Schubladen wühlte, hielt er plötzlich Fahrkarten in der Hand. Zugfahrkarten. Er kannte sie inzwischen, war mehrmals mit seinem Vater und Tonne zu seiner Mutter gefahren, mit dem Zug. Von innerer Unruhe und Aufregung gepackt, schwenkte er die Karten hin und her. Auf einmal steckte er sie in seine Hosentasche, streichelte Tonne, der sich neugierig an ihm hochstemmte über den Schädel und sagte: „Wir fahren. Tonne, wir fahren zu Mama.“
Tonne, der nur das Wort „Mama“ verstanden hatte, wedelte aufgeregt und begeistert mit dem Schwanz und bellte kurz laut auf, als wolle er Karls Entschluss bekräftigen.

Fünfte Begegnung: Melanie mit Karl und Tonne auf dem Spielplatz

Am Nachmittag traf Karl Melanie auf dem Spielplatz. Er hatte sie schon ungeduldig erwartet und ging ihr rasch entgegen, als er sie kommen sah. Verwundert nahm Melanie Karls Unruhe wahr. Er, der sonst immer so unbeteiligt, so abwesend wirkte, erschien ihr heute aufgewühlt. Da war etwas passiert. Gespannt blickte sie ihm ins Gesicht, das plötzlich so lebendig wirkte, und dachte: „Es kann nichts Schlimmes sein.“
Karl wühlte in seiner Hosentasche und zog zwei Zugfahrkarten hervor, die er ihr freudestrahlend hinhielt. „Wir fahren nach N. Wir fahren zu Mama.“ Verwirrt nahm Melanie die Fahrkarten in die Hand und betrachtete sie genauer. Sie schienen echt zu sein, obwohl sie keine Ahnung davon hatte, war noch nie mit einem richtigen Zug gereist, außer mit der SBahn in die nächste Großstadt. „Wer fährt?“, wollte sie wissen. Karl sah sie überrascht an. „Karl und Melanie und Tonne“, sagte er entschlossen. „Aber wohin, Karl?“, bohrte sie nach, „und wann, und warum?“ Wieder wunderte sich Karl. Wusste Melanie denn nicht, dass sie zu seiner Mutter fahren würden? Endlich. Er würde sie mitnehmen. Seine Bettina, seinen Engel, der Mutter helfen würde, davon war er zutiefst in seinem Inneren überzeugt. Wenn seine Mutter ihren Engel wieder hätte, könnte sie Karl wieder lieben und käme bald zu ihm und seinem Vater zurück und Melanie würde bei ihnen bleiben. Aus Bettina war nun Melanie geworden. „Freitag. Wir fahren zu meiner Mama.“

Melanie war überrumpelt. Heute war Donnerstag. Sie sollte mit Karl im Zug wegfahren. Morgen schon war Freitag. Aber das war doch unmöglich. Sie musste in die Schule gehen. Auch am Freitag. Und ihre Mutter, was würde die wohl sagen, wenn sie nicht pünktlich nach Hause käme?
Ihre erste Freude war, kaum empfunden, schon verflogen.
„Nein, das geht nicht“, widersprach sie Karl. Entsetzt starrte Karl sie an. „Doch. Du musst“, behauptete er bestimmt. Melanie schüttelte traurig den Kopf.
„Mama braucht Engel“, schrie Karl verzweifelt. „Engel macht Mama gesund.“
Da war es wieder: Karl und seine Engelgeschichten, aus denen sie immer noch nicht richtig schlau geworden war.
„Du bist ja total verrückt.“
Karl zuckte zusammen, starrte sie mit einem Blick an, der durch sie hindurchging und doch tief in ihrem Inneren ankam. Ein Blick, der ihr unheimlich war. War er vielleicht wirklich verrückt, wie manche Leute behaupteten?
Plötzlich spürte sie seine kräftigen Hände schmerzhaft auf ihren Schultern, wurde heftig durchgerüttelt, hörte Tonne aufjaulen.
„Karl, hör auf. Du tust mir weh.“
Panik ergriff sie, als sie erkannte, dass in Karls Augen Entsetzen und Angst zu lesen waren. Wie wild begann sie verzweifelt um sich zu schlagen, wehrte Karl ab, aber der war stärker und schien sie nicht mehr zu kennen. Er befand sich plötzlich in einer anderen Welt, zu der sie keinen Zugang hatte.
„Karl, bitte, lass mich doch los“, schluchzte sie mit tränenüberströmtem Gesicht.
Karls Hände, die Melanies Hals packten, drückten langsam auf ihren Kehlkopf. „Karl“, flüsterte Melanie mit heiserer Stimme, neben sich hörte sie Tonne knurren.

Frau Linder
Freitag, 8 Uhr

Frau Linder blickte prüfend in ihre Klasse. Jemand fehlte doch. Melanies Platz war leer. „Wer weiß, was mit Melanie los ist?“, fragte sie.
Niemand meldete sich. Sie sah in ratlose, gleichgültige Gesichter. Frau Linder wurde bewusst, dass Melanie keine Freunde in der Klasse hatte. Sie war eine Einzelgängerin. Sehr zurückhaltend. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Melanie hatte noch nie unentschuldigt gefehlt.
„Petra, frag doch bitte im Büro nach, ob Melanie entschuldigt ist“, bat sie das Mädchen, das in der ersten Bank saß.
Kurz darauf wussten sie es: Melanie fehlte unentschuldigt.
Frau Linder gab den Kindern Stillarbeit und ging ins Büro, um Frau Ascher, Melanies Mutter anzurufen. Es könnte ja auch unterwegs etwas passiert sein, auf dem Schulweg. Das musste geklärt werden und zwar gleich. Frau Linder ließ das Telefon lange läuten, aber niemand nahm ab. Sie bat die Sekretärin Frau S. bei Frau Aschers Arbeitsstelle anrufen, erfuhr aber, dass Frau Ascher nicht mehr dort arbeiten würde, schon seit mehreren Monaten nicht. Frau Linder vereinbarte mit der Sekretärin, in kurzen Abständen bei Frau Ascher zuhause anzurufen und ihr dann Bescheid zu geben, falls sie sie erreicht hatte. Frau S. nickte und Frau Linder kehrte noch stärker beunruhigt als zuvor zurück in ihr Klassenzimmer, aus dem sie schon von weitem lautes Geschrei vernehmen konnte. Abrupt öffnete sie die Tür. Das Schreien verstummte. Schweigen herrschte im Raum. Erwartungsvoll starrten die Kinder ihre Lehrerin an. Auch sie begannen zu spüren, dass etwas am Fehlen Melanies ungewöhnlich war.
In der kleinen Pause, um 9:30 Uhr, fragte Frau Linder besorgt im Büro nach. Frau Ascher war immer noch nicht erreichbar. Niemand hatte eine Ahnung, wo Melanie war. Spurlos verschwunden, Mutter und Tochter. Waren sie beim Arzt oder waren beide gemeinsam verschwunden? Frau Linder fand das eher unwahrscheinlich, aber durchaus möglich.
Als bis 13:00 Uhr Frau Ascher immer noch nicht erreicht werden konnte, besprach sich Frau Linder mit ihrem Schulleiter. Sie schlug vor, bei Melanie daheim vorbeizufahren, um der Sache auf den Grund zu kommen. Ihr Chef war damit einverstanden.

Freitag, 15 Uhr

Frau Linder klingelte an der Tür auf der, schon etwas verblasst, der Name Ascher zu lesen war. Neugierig blickte sie sich um, während sie gespannt wartete. Ein ganz gewöhnliches Mietshaus mit vier Parteien. Wenig gepflegt die Fassade. Nur einzelne Balkone waren liebevoll mit Blumen bepflanzt. Nichts rührte sich. Sie klingelte noch einmal, ließ diesmal den Finger länger auf dem Klingelknopf, hoffte inständig, es möge jemand öffnen. Wieder blieb die Tür verschlossen. Nichts regte sich im Treppenhaus. Erneut wurde sie von ahnungsvoller Unruhe gepackt. Da stimmte doch etwas nicht.
„Hausieren ist bei uns verboten.“
Frau Linder drehte sich der unfreundlichen Stimme entgegen und stand plötzlich einer älteren Frau gegenüber, die soeben die Eingangstür aufsperren wollte und sie misstrauisch anblickte.
„Ich möchte zu Frau Ascher, aber es scheint niemand da zu sein.“
„Da können Sie lange klingeln, die macht oft nicht auf.“
„Ich bin Frau Linder, Melanies Lehrerin. Wissen Sie, wo Melanie ist?“, erwiderte Frau Linder
„Keine Ahnung. Die treibt sich doch überall herum.“ Die Frau griff mürrisch nach ihrer Tasche und schob sich an ihr vorbei ins Treppenhaus, aus dem ihr schale, abgestandene Luft entgegenschlug.
Frau Linder wurde erneut ergriffen von quälender Unruhe. Wo war Frau Ascher?
Sie griff nach ihrem Handy, wählte rasch die Nummer ihres Schulleiters Herrn Boger.

Karls Vater
Freitag, 9 Uhr

Er kam am Freitagmorgen gut gelaunt nach Hause. Während der Nachtschicht im Krankenhaus, die er einmal im Monat übernahm, war es ruhig geblieben. Er hatte schlafen können. Jetzt freute er sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Karl. Außerdem war er neugierig, wie Karl eine Nacht ohne ihn verbracht hatte. Er hatte ihm ausführlich erklärt, dass er am Donnerstag allein sein würde, ihm sicherheitshalber jedoch eine Telefonnummer notiert, unter der er ihn erreichen konnte.
Als erstes fiel ihm die ungewohnte Stille auf, als er das Gartentor aufstieß. Normalerweise begann Tonne spätestens in dem Moment freudig sein Begrüßungsgebell anzustimmen, erwartete ihn bereits aufgeregt hinter der Haustür, um begeistert an ihm hochzuspringen.
Erwartungsvoll schloss er die Tür auf. Stille empfing ihn auch im Haus.
„Karl! Tonne! Guten Morgen!“
Sein Gruß verhallte ungehört. Sofort spürte er: Er war ganz allein. Das Haus war leer. Karl und Tonne waren nicht da. Nervöse Unruhe packte ihn, er riss die Küchentür auf, sah sich aufmerksam in der Küche um. Nichts war verändert seit Mittwochabend. Konzentriert wanderte er mit seinen Blicken noch einmal durch die Küche, verweilte auf der Sitzgruppe, dem Tisch mit der blauen Tischdecke, der Spüle, den Schränken und blieb schließlich hängen an der kleinen Anrichte deren Oberfläche ihm so nackt erschien. Da fehlte doch etwas. Die Fahrkarten. Die Zugtickets. Er hatte sie dort abgelegt.  Heute, am Freitag, wollte er seine Frau besuchen, mit Karl und Tonne natürlich. Die Fahrkarten waren verschwunden.
Sollte Karl sie genommen haben? Aber wozu? Beunruhigt lief er durch alle Zimmer, hoffte eine Spur zu finden, einen Hinweis auf Karls Abwesenheit.
Er versuchte sich zu beruhigen, als er alle Zimmer leer vorfand. Karl war oft alleine mit Tonne unterwegs. Vielleicht hatte er heute früh auf seiner Tour etwas Interessantes entdeckt, womit er sich längere Zeit beschäftigt hatte. Keine Panik, ermahnte er sich selbst. Enttäuscht legte er die Tüte mit den frischen Semmeln auf den Tisch und begann mechanisch den Tisch zu decken für zwei. Vielleicht kommt er ja gleich. Karl liebte Pfefferminztee. Er stellte eine Kanne mit Wasser auf den Herd, legte schon mal zwei Teebeutel bereit, blickte dabei immer wieder aus dem Fenster, horchte angestrengt auf Geräusche von draußen. Das Wasser sprudelte, automatisch schaltete er die Kochplatte ab, zog den Topf zur Seite und gab die Teebeutel ins heiße Wasser, blickte auf die Uhr, fünf Minuten ziehen lassen. Der Duft ofenfrischer Semmeln stieg ihm in die Nase, verstärkte sein Hungergefühl. Er zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor, fühlte sich auf einmal hungrig und müde, erschöpft. Wo blieb bloß Karl?
Nach fünf Minuten frühstückte er allein, ohne besonderen Appetit, einzig um seinen Hunger zu stillen und Zeit zu gewinnen, um darüber nachzudenken, wo Karl sich wohl befinden mochte.

Freitag, 10 Uhr
Er ging noch einmal in Karls Zimmer. Das Bett war unberührt. Vorher war ihm das gar nicht aufgefallen. Er schlug die Bettdecke zurück und entdeckte Hefte, Bücher und ein Federmäppchen. Da lagen ja Schulsachen. Aber sie gehörten Karl nicht, das erkannte er auf einen Blick. Verwundert nahm er ein Heft in die Hand, blickte auf das Namenschild. Melanie. Klasse 3 b. Deutsch. Erstaunt sah er sich die anderen Hefte und Bücher durch. Sie gehörten alle einem Mädchen namens Melanie. Melanie? Er kannte kein Mädchen, das so hieß. Und der Nachname? Er konnte ihn nirgends entdecken.
Wie kam Karl zu diesen Schulsachen? Hatte er sie etwa einem fremden Mädchen abgenommen? War Karl inzwischen gewalttätig geworden und hatte er das als Vater, beschäftigt mit seinen eigenen Problemen, nicht bemerkt?
Junger Behinderter überfällt Mädchen auf dem Schulweg
Ohne es zu wollen, entstand sie vor seinem geistigen Auge, diese Schlagzeile, geeignet, um die schonungslose Aufmerksamkeit der Leute auf seine Familie zu lenken, auf Karl, auf ihn, dem Vater und seiner Verantwortung dem behinderten Sohn gegenüber.
So einer darf nicht frei herumlaufen
Die Leute würden Karl nicht mehr unter sich dulden, seinen harmlosen Sohn, der mit dem Müllsack unterwegs war, der sich so kindlich freuen konnte über das, was andere wegwarfen.
Nein. So durfte er nicht denken. Karl konnte jeden Augenblick zurückkehren. Er horchte angestrengt. Da war nichts zu hören. Keine menschliche Stimme. Vogelgezwitscher und entfernter Motorenlärm.
Bis Mittag beschloss er zu warten, dann würde er sich mit dem Fahrrad auf die Suche nach seinem Sohn machen, alle Spielplätze ansteuern, würde ihn sicher finden, dachte er.
Bis dahin wollte er schlafen, sich beruhigen. Aber er konnte nicht schlafen. Innerlich aufgewühlt lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, aus dem er aufzuwachen hoffte, Karl und Tonne neben sich. Er lag und lauschte, versuchte sich abzulenken, sich zu entspannen, dachte an die Patienten im Krankenhaus, erinnerte sich an den neuen Fall, der gestern Abend eingeliefert worden war, eine Betrunkene, die sich beim Sturz auf der Treppe das Bein gebrochen hatte. Wenigstens trank Karl nicht, war kein Alkoholiker, war nur behindert. Kein Entzug konnte ihn von seiner Behinderung befreien. Er dachte an seine Frau, die weit von ihm entfernt in einer Klinik darum kämpfte, sich aus ihren Depressionen zu befreien.

Freitag, 11 Uhr 10
Ein Klingeln an der Tür riss ihn vom Sofa. Endlich. Schnell öffnete er die Tür. Der Postbote bat ihn, für seine Nachbarn ein Paket anzunehmen. Eine Unterschrift bitte. Mechanisch setzte er seinen Namen an die angewiesene Stelle, trug automatisch das fremde Paket in den Gang. Er musste Karl finden. Jetzt. Gleich. Entschlossen holte er sein Fahrrad aus der Garage.
Karl blieb verschwunden. Alle bekannten Spielplätze hatte er abgeklappert, war nur einzelnen Jugendlichen begegnet, einigen Obdachlosen, die ihre Nächte auf den Spielplätzen verbrachten. Alle hatte er gefragt. Niemand konnte sich erinnern an einen jungen Mann mit einem kleinen Hund, der auf den seltsamen Namen Tonne hörte. Enttäuscht war er zurück gefahren, beschloss, noch einmal im Haus zu suchen, ehe er wohl die Polizei einschalten musste. Und heute Nachmittag, da wollte er seine Frau besuchen, sie erwartete ihn und auch Karl und Tonne. Was sollte er ihr bloß sagen, ohne sie in Unruhe zu versetzen? Suchen, er musste irgendeinen Hinweis finden, er musste.

Freitag, 13 Uhr 20
In Karls Zimmer öffnete er jede einzelne Schachtel, registrierte deren Inhalt, ohne einen Hinweis auf Karls Verschwinden zu entdecken. Seine Verwunderung wuchs mit jeder weiteren Schachtel, die er öffnete. Wie wenig kannte er doch seinen Sohn. Hatte keine Ahnung, was ihm diese Schätze bedeuteten, die er so sorgsam hütete und hortete. Was ging in ihm vor, seinem Sohn, dem Sprachlosen, dem Unnahbaren?
Er öffnete seinen Schrank, wühlte zwischen den Kleidungsstücken, warf in verzweifelter Wut Pullis und T-Shirts auf den Boden, tastete suchend alle Winkel des Schrankes ab und erschrak, als er tatsächlich etwas in der Hand hielt, etwas, das nicht Karl gehörte. Ungläubig starrte er an, was er in der Hand hielt, ein Kleid von Bettina, zusammengerollt, zerknittert, er breitete es aus, wehmütig, Bettinas Bild vor seinen Augen. Bettina, sein Sonnenschein. Das Kleid wippte um ihre schmutzigen Knie, wenn sie auf ihn zulief, der Saum des Kleides stand ab wie eine Glocke, wenn sie sich drehte im Kreis, solange bis sie vor Lachen nach Luft japsend ins Gras fiel. Er drückte sein Gesicht in dieses Stück Stoff, glaubte noch eine Spur ihres Duftes, ihres Geruches wahrzunehmen, glaubte sie noch einmal in seinen Armen zu halten. Jäh riss er sich los von diesen unerwarteten Gefühlen. Was tat Karl mit diesem Kleid? Und was tat er mit Bettina? Plötzlich fühlte er sich schwach, überwältigt von der ungeheuren Vorstellung, dass Karl nicht nur Bettinas Spielkamerad gewesen war, sondern … Nein, das konnte, das durfte er nicht einmal denken. Aber sein Misstrauen, seine Furcht waren geweckt, entwickelten sich blitzschnell weiter, nahmen ungeheure Ausmaße an. Sein Sohn Karl, ein Kinderschänder? Verzweifelt wehrte er diese Gedanken ab, die ihn überrannten, ihn kaum atmen ließen,  immer neue, schrecklichere Ahnungen entstehen ließen.
Er suchte weiter, immer hektischer, suchte nach Beweisen und hoffte inständig, keine zu finden, griff in die Taschen der Hosen, der Jacken, die im Schrank hingen, atmete schon erleichtert auf, als ihm ein leises metallisches Klicken verriet, dass er etwas übersehen hatte. Er starrte auf den Boden, erkannte einen winzigen Ring, Bettinas Ring.
Fünf brennende Kerzen auf eine kleine Torte gesteckt leuchteten auf, fünf Flammen, die sich in Bettinas Augen widerspiegelten, unzählige Päckchen liebevoll auf dem Tisch hindrapiert, leuchtend bunte Luftballons und Bettina, die ihre Backen aufplusterte, um die Kerzen auszublasen unter dem Beifall ihrer großen und kleinen Gäste und Karl, der verzückt dabeistand, schweigend und stumm wie meist. Und Bettina, die stolz ihren Finger herzeigte, jedem, der ihn sehen wollte, den Finger mit dem winzigen Ring, der ihre Augen stolz strahlen ließen. Wie kam Karl an diesen Ring?
Und dann die Sache mit den Schulheften. Melanie. Angestrengt dachte er nach, aber er kannte wirklich keine Melanie. Dritte Klasse. Bettina wäre jetzt auch in der dritten Klasse. Plötzlich begann er zu begreifen. Der Tag, an dem Karl so verwirrt am Mittagstisch saß, der Tag an dem er behauptete, Bettina sei wieder da. Er spürte, dass es da einen Zusammenhang gab, den er entdecken musste. Melanie und Bettina. Zwei Mädchen, die Karl viel bedeuteten. Aber woher kannte Karl diese Melanie? Und was hatte dieses Mädchen mit Bettina zu tun?
Seine Unruhe wuchs sich in Angst aus, der er nicht ausweichen konnte. Er musste wohl die Polizei einschalten, fragte sich, wie lange er noch warten durfte, wie lange er noch hoffen konnte, dass Karl wieder auftauchen würde. Konnte es sein, dass Karl allein zu seiner Mutter unterwegs war? Die fehlenden Zugkarten, eindeutiger Beweis: Karl wollte weg. War er in der Lage, allein zu der Klinik zu finden? Oder war er vielleicht gar nicht allein unterwegs? Die Polizei würde ihm viele Fragen stellen, die verschwundenen Fahrkarten erleichterten sicher die Suche, gaben klare Anhaltspunkte. Und die Frage nach Melanie, darüber weigerte er sich nachzudenken.

Freitag, 15 Uhr
Bis sieben Uhr wollte er noch warten, setzte sich noch eine letzte Frist, ehe er zur Polizei gehen wollte. In vier Stunden konnte noch viel geschehen, konnte Karl wieder heimkehren und alles wäre in Ordnung, beinahe, bis auf die Sache mit Melanie. Er stellte sich den Wecker auf 19 Uhr und legte sich erschöpft auf das Sofa. Er musste vorher noch in der Klinik Bescheid geben, dass er verhindert war, dringender Fall im Krankenhaus.

Frau Linder begegnet Herrn Kenter in der Bücherei
Freitag, 17 Uhr
Frau Linder hatte sich Bücher zurücklegen lassen. Sie brauchte sie am Wochenende. Melanies Fehlen beschäftigte sie immer noch. Herr Kenter, der Büchereimitarbeiter, suchte ihr die zurückgelegten Bücher heraus. Er wusste, dass sie Lehrerin war, deshalb sprach er sie wohl an. „Sie unterrichten doch hier an der Grundschule, nicht wahr?“, begann er freundlich. „Ja, Ja, in der dritten Klasse.“ Frau Linder wunderte sich etwas, da Herr Kenter sonst immer sehr zurückhaltend war.
„Ich habe einem Mädchen versprochen, die Bremsen an ihrem Fahrrad zu reparieren. Sie brachte das Rad gestern Nachmittag vorbei, wirkte etwas durcheinander und hatte keine Zeit zu bleiben. Ich sah, wie sie sich vor der Bücherei mit einem seltsamen jungen Mann traf, der einen kleinen Hund dabei hatte.“
„Melanie Ascher?“, platzte Frau Linder überrascht hervor.
„Genau, Melanie Ascher. Aber seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Mutter ist gestern unerwartet ins Krankenhaus gekommen.“
„Wissen Sie mehr darüber? Ich bin Melanies Lehrerin und heute fehlte sie unentschuldigt, ihre Mutter war auch nicht zu erreichen. Ich mache mir schon große Sorgen.“
„Ich tratsche sonst gewiss nicht, aber in diesem Fall sollten Sie wissen, dass Frau Ascher sich im Krankenhaus befindet, seit gestern Abend.“ (Donnerstagabend) Fragend schaute er die Frau an, die auf eine Erklärung wartete. „Sie haben keine Ahnung, oder?“, wollte er wissen. Verwirrt schüttelte Frau Linder den Kopf.
„Wovon sollte ich eine Ahnung haben? Ich verstehe nicht …“
Herrn Kenter war es sichtlich unangenehm darüber zur reden, aber auch er machte sich große Sorgen um Melanie. Zögernd begann er.
„Also, es ist so, dass Frau Ascher alleinstehend ist und dass sie gerne Alkohol trinkt, meistens Bier. Melanie versucht das immer zu vertuschen, entsorgt die Flaschen heimlich, aber ich habe sie zufällig dabei gesehen und auch die anderen im Haus wissen Bescheid. Wenn Melanie in der Schule ist, trinkt Frau Ascher eben auch und zwar auf dem Balkon, wo viele sie sehen können. Gestern aber, als Melanie nicht von der Schule nach Hause kam, dachte sie, ihre Tochter sei bei einer Geburtstagsfeier eingeladen. Melanie hätte ihr das so gesagt. Sie würde also später heimkommen. Frau Ascher nutzte die freie Zeit, um unbekümmert trinken zu können. Vergaß dann, dass sie Spätschicht hatte, wurde von ihrem Chef angerufen und stolperte, als sie – wohl schwer betrunken – das Haus verlassen wollte, um in die Arbeit zu gehen. Sie stürzte die Treppe hinunter, blieb dort liegen. Ich hatte Lärm gehört, ein lautes Poltern gefolgt von schmerzvollem Stöhnen, daraufhin rannte ich gleich hinaus, um helfen zu können. Frau Ascher lag seltsam verkrümmt im Treppenhaus, stöhnte immer wieder vor Schmerzen und lallte , dass sie in die Arbeit müsse, ihr neuer Chef käme sie sonst holen, er hätte schon angerufen. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Da rief ich den Notarzt, der einen offenen Beinbruch feststellte. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, musste allerdings erst wieder nüchtern werden, ehe sie operiert werden konnte.“ Nachdenklich machte Herr Kenter eine Pause.
„Aber Melanie, von ihr weiß ich nichts. Ich hatte ihr einen Zettel an die Wohnungstür geklebt und sie gebeten, sich bei mir zu melden, es wäre sehr wichtig. Der Zettel hing heute Morgen noch dort.“ Er zuckte ratlos mit den schmächtigen Schultern. Frau Linder wurde erneut gepackt von ihrer quälenden Unruhe.
„Melanie fehlte heute unentschuldigt in der Schule. Ich habe vor ein paar Stunden schon versucht mit ihrer Mutter in ihrer Wohnung zu reden. Leider öffnete dort niemand. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie im Krankenhaus liegt.“ „Sollen wir die Polizei anrufen?“, schlug Herr Kenter vor.
„Nein, ich rufe erst meinen Chef an, vielleicht weiß er inzwischen etwas über Melanie.“
Aufgeregt griff Frau Linder zum Handy. Ihr Chef war nicht erreichbar.
Sie hinterließ folgende Nachricht: Frau Ascher liegt seit gestern Abend im Krankenhaus. Keine Spur von Melanie. Polizei informieren?

Melanie
Karl ist doch verrückt. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über ihren Hals. Gott sei Dank, alles schien in Ordnung. Sie hatte schon gedacht, jetzt müsse sie sterben, sterben wie Bettina. Hatte Karl Bettina vielleicht doch umgebracht? Es schien ihr jetzt durchaus möglich. Sie meinte noch seine kräftigen Hände auf ihrem Hals zu spüren. Ohne Tonne wäre sie tot. Tonne hatte sie gerettet. Im letzten Moment musste er Karl angegriffen haben, der plötzlich aufschrie und sie so heftig wegstieß, dass sie erst auf die Knie fiel, ehe sie sich aufrappelte, immer noch entsetzt und davon stolperte, von dem einzigen Gedanken besessen: weg, weit weg.
Sie war gerannt, wollte nur heim, sich einschließen in ihrem Zimmer, wollte nur Sicherheit hinter verschlossenen Türen. Endlich, schweißgebadet, schloss sie die Wohnungstür auf, drehte gleich den Schlüssel wieder um, nachdem sie im Gang war. Ihre Mutter hatte Nachmittagsschicht, zum Glück, sie konnte jetzt nicht reden, unmöglich, ohne in Tränen auszubrechen, die sie nicht erklären wollte.
Es roch schon wieder nach abgestandenem Bier. Wie sie diesen Geruch hasste. Widerlich. Eilig riss sie ein Fenster auf, dabei entdeckte sie den Brief, der auf dem Fensterbrett lag. „Jugendamt“. Erschrocken griff sie danach. „Jugendamt“. Das Wort jagte ihr erneut Angst ein. Sie begann zu lesen, verstand wenige Sätze. „Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Tochter Melanie vorübergehend von einer Pflegefamilie betreut werden wird, sofern Sie nicht bereit sind, Ihren Alkoholkonsum einzuschränken. Das Sorgerecht für Ihre Tochter muss Ihnen dann entzogen werden …“
Aufgewühlt faltete Melanie den Brief zu einem winzigen Viereck und versteckte ihn in ihrem Geldbeutel. Das Briefkuvert zerriss sie in winzige Flocken, die sie ganz unten im Abfalleimer verbarg. Weinend warf sie sich auf ihr Bett, drückte ihr Gesicht in das weiche Fell ihres Stoffhundes, der sie schon oft getröstet hatte. Erschöpft schlief sie ein.

Melanies Mutter im Krankenhaus
Freitag, 17 Uhr
„Sie wissen also wirklich nicht, wo Ihre Tochter sich aufhält?“
Der Arzt sah Frau Ascher aufmerksam an. Sie war wieder nüchtern, hatte die Operation gut überstanden und war wieder ansprechbar.
„Melanie?“, flüsterte die Frau besorgt. „Was ist mit Melanie?“ Der Arzt griff nach ihrer Hand, ertastete unauffällig den Puls. „Sie ist nicht in der Wohnung. Seit gestern Abend hat sie niemand mehr gesehen.“
„Aber …“ Mühsam dachte die Frau nach. Der Arzt konnte an ihrem blassen Gesicht förmlich erkennen, wie sie klare Gedanken zu fassen versuchte.
„Sie war bei einer Geburtstagsfeier eingeladen, am Donnerstag.“
„Wissen Sie bei wem?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe den Namen vergessen.“
„Ihr Schulleiter wollte schon mit Ihnen sprechen. Ihre Tochter Melanie geht in die dritte Klasse, 3 b, nicht wahr?“
Frau Ascher nickte.
„Die Lehrerin hatte bei allen Kindern angerufen. Leider konnte sie nichts über Melanie erfahren.“
„Was machen wir jetzt?“,  fragte die Frau zaghaft.
„Wenn wir nichts erfahren, müssen wir die Polizei informieren. Aber Melanie taucht sicher bald wieder auf.“
Ihm war der Schreck nicht entgangen, der Frau Aschers Gesicht durchzuckte, als er das Wort „Polizei“ erwähnte. Sekunden später schlief sie ein. Das Beruhigungsmittel zeigte seine Wirkung. Im Schlaf entspannte sich ihr Gesicht. Grübelnd blickte der Arzt sie an.

Frau Linder – Arzt
Freitag, 20 Uhr
Telefonat

„Hier Linder.“
„Dr. Hauser. Haben Sie noch etwas erreichen können?“
„Nein. Nachdem ich alle Kinder der Klasse angerufen habe, weiß ich nur, dass niemand  am Donnerstag eine Geburtstagparty feierte. Merkwürdig. Einige Kinder haben auch seltsame Bemerkungen gemacht über Melanie und ihren komischen Freund, mit dem sie sich auf dem Spielplatz oft trifft. Genaueres wollten sie aber nicht rausrücken. Irgendetwas stimmt da nicht, ich habe so ein seltsames Gefühl. Was meinen Sie dazu?“
„Ich werde die Polizei benachrichtigen. Ich denke wir haben lange genug gewartet.“
„Ja, bitte, tun Sie das.“

Tonne (4)

22 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Beziehung, Depression, Freundschaft, Hund, Kind, Leben, Liebe, Menschen, Trauer

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Wochen später

Karls Vater

1. Tagebucheintrag (10. Oktober)

Gestern bei Sibylle gewesen. Die Ärzte haben mir wenig Hoffnung gemacht. Schwere Depression lautete ihre Diagnose. Sie weigert sich mit einem Psychologen zu sprechen. In der Klinik halten sie sie für selbstmordgefährdet und stecken sie in eine geschlossene Abteilung bis sie bereit ist sich einer Therapie zu unterziehen. Sie behandeln sie mit Medikamenten, stellten sie ruhig, machten sie müde, sagten, Schlaf wäre gut, würde ihr helfen.
Sie war mir so fremd geworden. Kann ein Mensch sich so schnell verändern? Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich erkannt hat in ihrer künstlichen Schläfrigkeit.
Ich habe ihr erzählt, immer wieder, wie notwendig wir sie brauchen, wie sie uns fehlt, vor allem Karl frage immer wieder nach ihr und Tonne suche sie im ganzen Haus, kann nicht begreifen, der kleine Hund, dass sie weg ist. Weit weg ist. Unerreichbar auch für mich, der doch neben ihrem Bett sitzt und ihre kalte Hand hält und sie streichelt, unerreichbar scheint sie in Tiefen des Seins abgetaucht, zu denen ich und auch die anderen um sie herum keinen Zugang haben.
Die Ärzte meinen, ich sollte immer wieder kommen und mit ihr reden, auch wenn es momentan aussichtslos erscheine, an sie heranzukommen. Ich werde es versuchen.

2. Tagebucheintrag (14. Oktober)

Heute kam es mir vor, als ob sie ein bisschen reagierte hätte auf meine Worte, sie zuckte kaum merklich zusammen, als ich Karl erwähnte. Was ich ihr nicht erzählte, verschwieg war, dass Karl für mich immer mehr zum Problem wird. Er verschwindet nun tagelang aus dem Haus und ich beginne jedes Mal zu befürchten, er kommt nicht mehr heil zurück, oft war ich schon kurz davor, die Polizei um Hilfe zu bitten, nachdem ich mit dem Fahrrad auf der Suche unterwegs war, um ihn zu finden, aber jedes Mal kam er doch wieder zurück, suchte seine Mutter zuerst in der Küche und dann im ganzen Haus, begleitet von Tonne, der aufgeregt in allen Ecken schnüffelte und deinen Schuh herbeizerrte und mir auffordernd vor die Füße warf, mich anblickend, als wolle er f ragen: Wo ist sie denn, mein Frauchen?
Karl sieht schlecht aus und fragt immer wieder: Ist sie tot? Ist sie nun ein Engel wie Bettina?
Was soll ich da erklären, einem der so wenig zu verstehen scheint und doch mehr ahnt, als wir alle, so denke ich manchmal wirklich, auch wenn du mich für verrückt erklären würdest, so denke ich jedenfalls.
Ich habe Karl versprochen, dass er dich besuchen darf. Er muss sich davon überzeugen, dass du noch lebst. Aber wie wirst du in deiner Erstarrung auf ihn wirken? Davor habe ich Angst, vor Karls Reaktionen fürchte ich mich. Und auch davor, wie du auf Karls Anwesenheit reagieren wirst.
Die Ärzte sind einverstanden. Wir werden einen Versuch wagen. Das nächste Mal komme ich mit Karl und natürlich auch Tonne, aber der muss draußen warten. Aber vielleicht geht es dir bis dahin schon besser und wir können alle drei bzw. vier gemeinsam im Garten spazieren gehen.
Das Essen ist auch ein Problem: Am Abend bringe ich Karl aus der Krankenhauskantine etwas mit, morgens frühstücken wir gemeinsam und ich richte ihm immer etwas her, das er alleine mittags essen kann, eine Brotzeit. Ich habe ihm verboten, den Ofen zu benützen, weil ich befürchte, er könne damit Unsinn machen oder vergessen, die Platte wieder auszuschalten. Noch klappt es einigermaßen. Die Wohnung sieht allerdings chaotisch aus. Wir brauchen dich wirklich, aber nicht als Putzfrau, sondern als meine Frau und Karls Mutter.
Mit wem soll ich sprechen? Mit Karl ist es schwierig, du weißt das ja. In der Klinik belasten mich einige tragische Fälle sehr, wie soll ich andere trösten und beruhigen, wenn ich selbst dringend Trost bräuchte? Aber ich darf sie das nicht fühlen lassen, versuche es jedenfalls, aber es gelingt sicher nicht immer und erstaunlicherweise erfahre ich oft Trost und Ermutigung von Menschen, von denen ich es am allerwenigstens erwartet hätte.

3. Tagebucheintrag (15. Oktober)

Gestern haben wird dich also gemeinsam besucht. Karl weiß jetzt, wo du zu finden bist, er hat eine Vorstellung von dem Ort, der dich für uns in nächster Zeit unerreichbar macht. Es ging besser als ich dachte. Trotz deiner Müdigkeit konntest du Karl anlächeln und er ließ es sogar zu, dass du seine Hand gehalten hast, länger als den üblichen Moment eines Händedrucks. Natürlich konnte ich nicht so lange bleiben wie an den anderen Tagen, Karl wurde unruhig und Tonne wartete vor der Tür im Garten der Klinik, wo eine freundliche junge Schwester ihn auch mit Wasser und Futter versorgt hatte. Trotzdem, Karls Unruhe wirkte sich auf dich aus, ich konnte es an deinen Augen sehen, die ständig hin und her wanderten, als suchten sie etwas. Noch immer bist du mir sehr fremd und unerreichbar. Aber die Ärzte sprechen schon von kleinen Erfolgen: Du bist inzwischen mehrmals freiwillig aufgestanden, hast lange Zeit aus dem Fenster geblickt, hast reagiert auf Fragen der Schwestern. Nächste Woche wollen sie, dass du mit den anderen Patienten gemeinsam zum Essen kommst, um deine Reaktion zu prüfen: Kannst du allmählich wieder in eine Gemeinschaft zurück oder verweigerst du den Kontakt zu anderen. Sie haben auch vor, eine Gesprächstherapie zu beginnen, auch wenn du überwiegend noch schweigst, aber das wäre kein Einzelfall beruhigten sie mich, sie würden dich so lange schweigen lassen, bis du bereit wärest, zu reden. Das erinnert mich ein bisschen an Verhörmethoden und ich fühle mich gar nicht wohl dabei. Wie wirst du darauf reagieren? Ich würde dir gerne helfen, aber du bleibst auch in meiner Gegenwart stumm. Bin ich der Grund für deine Depression? Ich habe mein Verhalten dir gegenüber schon mehrmals hinterfragt und kann keine ausreichenden Gründe für den Ausbruch dieser schrecklichen Krankheit entdecken. Aber das ist es ja gerade, die Unfähigkeit des Erkrankten, darüber zu reden, gerade weil er selbst nicht weiß, woher sie kommt, sie überfällt ihn aus scheinbar heiterem Himmel. Ich suche auch ständig nach Anzeichen, die wir nicht genug beachtet haben, zu wenig ernst genommen haben.

Karls Mutter

Brief (20. Oktober)

Lieber Stefan,

nun haben sie Dir wohl gesagt, Du solltest mir Briefe schreiben, da ich nicht bereit sei, mir Dir zu sprechen.
Natürlich freue ich mich, wenn Du mir schreibst, wie sehr Du mich magst und darauf wartest, dass ich zurückkomme. Möglichst bald, wie Du das hoffst und vor allem auch Karl, der mich sucht und auch auf mich wartet. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schwer es mir fällt, selbst diese Worte zu schreiben. Es strengt furchtbar an, sich aufzuraffen, sich den Befehl zu geben, Dir zu antworten, weil Du mein Mann bist und verdient hast, dass ich Dein Bemühen anerkenne. Eine kurze Antwort wenigstens, so hast Du geschrieben, ein paar Zeilen schon, sie würden Dich glücklich machen und mich ein bisschen aus meinem Tief herausreißen, würden auch mir gut tun, denkst Du.
Aber ich kann Dich nicht trösten, da ich selber Trost brauche und jemanden, der mich versteht. Dir kann ich vieles nicht sagen, denn es würde Dich zu sehr belasten, du könntest es nicht ertragen, es würde wie eine unüberwindbare Mauer zwischen uns entstehen. Nein, vieles darf ich Dir nicht zumuten, ich spüre das. Selbst den Ärzten wage ich nicht die Wahrheit zu sagen, obwohl ich immer deutlicher spüre, immer sicherer weiß, es muss etwas passieren, sonst ersticke ich daran. Verzeih mir, dieser Brief wird Dich nicht erreichen, vielleicht gelingt es mir, Dir an einem anderen Tag die von Dir gewünschten Zeilen zu schreiben. Ich lasse Deinen Brief auf meinem Nachtkästchen liegen, zur Erinnerung, damit ich es nicht vergesse.

1. Tagebucheintrag (21. Oktober)

Seit gestern bin ich nicht mehr allein in meinem Zimmer. Eine junge Frau liegt jetzt im Bett neben meinem. Wir passen gut zusammen: sprechen beide nicht. Es ist unangenehm, ich komme mir ständig beobachtet vor, liege im Bett mit geschlossenen Augen und fühle ihre neugierigen Blicke auf mir. Ich kann mich aber auch täuschen: sobald ich die Augen öffne, blickt sie ganz woanders hin oder hat ebenfalls die Augen geschlossen. Bis jetzt weiß ich nur ihren Namen: Claudia Werben. Habe ihre Stimme kaum gehört. Sie wirkt sehr verzweifelt, aber wer ist das nicht in dieser Klinik, vor allem in dieser Abteilung. Geschlossen. Eingeschlossen. Verschlossen. Im Gefängnis der Gefühle. Umschlossen von düsteren Gedanken, die unsere Worte festhalten und nicht loslassen wollen, nicht durchdringen lassen wollen an die Oberfläche um gehört zu werden, verstanden zu werden, bewertet zu werden, gewichtet zu werden.

2. Tagebucheintrag (22. Oktober)

Claudia hat mich zum ersten Mal angesprochen, nach einer Woche. Sie wollte das gerahmte Foto auf meinem Nachtkästchen anschauen, das Bild von Karl und Bettina. Stumm habe ich es ihr gereicht. Lange und sehr aufmerksam hatte sie es angeschaut, ehe sie mir das Bild zurückreichte und leise „Danke“ murmelte. Sie wühlte plötzlich in ihrer Tasche und zog etwas in einem Umschlag heraus. Neugierig geworden beobachtete ich sie weiter: Behutsam entnahm sie dem Umschlag ein Ultraschallbild, das sie mir zögernd reichte. Stumm blickte ich darauf, um irgendetwas erkennen zu können. Es wirkte sehr verwirrend. Claudia legte einen Finger an eine dunkle Stelle und flüsterte kaum vernehmbar: „Mein Kind, mein Junge.“ Der Schmerz dieser jungen Frau fuhr wie ein Messerstich in mein Inneres, mein Interesse war geweckt. Fragend sah ich sie an und dann wieder auf das Bild. Wo ist ihr Kind?, dachte ich, wagte aber nicht danach zu fragen.
Als hätte Claudia meine Gedanken erraten, antwortete sie mir. „Abgetrieben.“ Ein Wort, das wie ein Faustschlag einschlug.
Ehe ich etwas sagen konnte, riss sie mir das Bild aus der Hand und sperrte sich in der Toilette ein. Die Wirkung dieses Wortes breitete sich im Zimmer aus wie wie dunkler Rauch, nahm mir den Atem. Ich verließ das Zimmer und schloss auffallend laut die Tür, um ihr ein Zeichen zu geben. Du kannst wieder herauskommen, ich werde dich nicht mit Fragen belästigen, vor denen Du Dich fürchtest.
Auf dem Gang lief mir ein Arzt über den Weg, der sehr erfreut darüber war, so sagte er jedenfalls, dass ich nun schon in der Lage sei, allein das Zimmer zu verlassen. Ein Schritt auf dem Wege zur Gesundung.
Er hatte keine Ahnung. Ich bin geflohen vor dem fremden Schmerz, der sich mit meinem Schmerz verbünden wollte.

 

Tonne (3)

21 Samstag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Depression, Foto, Freude, Freundschaft, Hund, Leben, Liebe, Tod, Trauer

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Reaktion der Leute auf Karls Behinderung

Wie hatten sich die Leute das Maul zerrissen, als sie allmählich merkten wie es um des Pfarrers Sohn bestellt war: Er war einfach anders als die anderen. Im Kindergarten fiel das nicht so deutlich auf, aber in der Grundschule traten massive Probleme auf: Karl war einfach überfordert, an der falschen Schule. Ihrem Mann wurde es allmählich peinlich, dass er, der angesehene Pfarrer, einen behinderten Sohn hatte, der keinerlei Rücksicht nahm auf den Ruf des Vaters. Aber ihr Mann liebte ihn, trotz der Schwierigkeiten, sie fühlte das, während sie ihn nicht so annehmen konnte wie er war, so sehr sie sich auch Mühe gab. Es gab Momente, da verabscheute sie sich selbst: Eine Mutter, die ihr eigenes Kind nicht liebte? Noch dazu die Frau eines Pfarrers. Aber war Karl wirklich ihr eigenes Kind? War er ihr nicht aufgezwungen worden von einem Fremden, der sie gewalttätig überfallen hatte, an jenem Abend, der in ihren Träumen immer wieder auftauchte, jener Abend, der ihr zum Schicksal geworden war?
Wie hatte sie sich geschämt, wie war sie verzweifelt gewesen, dass ausgerechnet ihr das passieren musste: Eine Vergewaltigung. Welch harmloses Wort im Vergleich zur grausamen Realität. Hilflos ausgeliefert zu sein, trotz heftigster Abwehr zu unterliegen, fremde Gewalt ertragen zu müssen, sie auszuhalten und danach wieder aufzustehen und so völlig allein zu sein, getrennt von allen anderen, mit keinem darüber reden zu können. Das war das Schlimmste. Heimkommen und den Augenblick verpasst zu haben, den richtigen Augenblick, darüber zu berichten, die Polizei einzuschalten, den Täter zu verfolgen. Sie dachte an ihren Mann, der sie vielleicht nicht mehr lieben würde, der ihr vielleicht sogar die Schuld geben würde und dann – die Polizei einschalten, mit all den unangenehmen Fragen? Das Gerede der Leute aushalten müssen, ihr Mann wäre dem ebenso ausgesetzt, in seiner Pfarrei, ihr Mann, der täglich mit vie-len Menschen zusammentraf, wie hätte er sie vor dem Gerede und Getuschel, den Vermutungen schützen können? Nein. Niemand sollte davon erfahren. Sie wollte alleine damit fertig werden und hoffte nur eines: nicht schwanger geworden zu sein von jenem Mann, den sie abgrundtief hasste, denn auch ein Kind von ihm, dem Unbekannten, würde sie nicht lieben können. Sie wusste es damals schon.
Abtreibung? Sicher, daran hatte sie im ersten Moment auch gedacht, aber der Respekt vor dem ungeborenen Leben verbot ihr den Gedanken weiter zu denken, in ihn die Tat umzusetzen.
Ein banges Warten begann ehe sie die Gewissheit hatte: Sie erwartete ein Kind. Ihr Mann war überglücklich, ahnte er doch nichts von ihren geheimen Befürchtungen: Wer war der wirkliche Vater? Sie versuchte sich zufrieden zu geben, hoffte immer noch, ihr Mann sei der tatsächliche Vater. An anderen Tagen war sie davon überzeugt, dass die Geburt alles an den Tag bringen würde: das Aussehen des Kindes würde Rätsel aufgeben und sie verdächtigen, einen Seitensprung begangen zu haben. Die untreue Ehefrau oder die vergewaltigte, egal, ihre Ehe wäre zerstört, das Vertrauen verschwunden.

„Wo hast du Bettina gesehen?“, erkundigte sich Karls Vater behutsam. „Auf dem Spielplatz.“ Absolut sicher antwortete Karl. „Auf dem Spielplatz?“ Karl nickte bestätigend und schob sein Bild wieder ein.

Reaktion des Vaters auf seinen Sohn, als er wieder von Bettina spricht

Karl, sein Sohn. Der Pfarrer sah ihn wehmütig an. Er hätte sich auch einen anderen Sohn gewünscht. Sicher. Aber nur vor sich selbst, in seinen geheimsten Gedanken gab er diesen Wunsch zu, niemals vor seiner Frau, die deutlich mehr litt, als er selbst. Karl, der hübsche Kerl, der sich so merkwürdig verhielt, der sich weigerte, sich anständig anzuziehen, der daherkam wie ein Obdachloser, obwohl doch jeder in seiner Nachbarschaft wusste, wie gepflegt es im Pfarrhaus zuging. Karl, den jeglicher Müll faszinierte, aus unerklärlichen Gründen. Karl, der sich sträubte und wehrte, wenn man ihn zärtlich umarmen wollte. Was war los mit diesem Jungen? Äußerlich und vom Alter her ein junger Mann, in seinem Gemüt ein Kind. Trotzdem, er hatte ihn angenommen. Er als Pfarrer sah hier eine Gelegenheit, den Leuten zu beweisen, wie gelebtes Christentum aussah. Liebe deinen Nächsten, liebe deinen Sohn. Er tat es, er versuchte es, auch wenn es nicht immer gelang und er mit Gott haderte in einsamen Nächten, die er rasch vergessen wollte.
Wie hatte er dagegen sein kleines Mädchen geliebt, von der ersten Sekunde seines Lebens an. Unbeschreiblich war dieses Glück, ein gesundes Kind haben zu dürfen. Sein Sonnenschein, der jetzt sein Engel geworden war, nach diesem schrecklichen Unfall, vor nun vier Jahren. Alle schienen so glücklich gewesen zu sein, auch seiner Frau gelang es besser, ihren Sohn Karl mit seinen Eigenheiten anzunehmen, noch dazu, als sich herausstellte, dass die kleine Schwester so an Karl hing und dieser sich rührend um sie kümmerte, ja geradezu aufzublühen begann und sie schon zu hoffen wagten, Karl würde sich endlich weiter entwickeln, seinem Alter gemäß.
Fünf Jahre währte dieses Glück ehe es brutal zerbrach.
Kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall hatte er sich um eine Stelle als Krankenhauspfarrer beworben. Er kümmerte sich nun um Menschen im Krankenhaus und um die Bewohner des Altenheimes.
Sie waren auch umgezogen. Seine Frau hatte es nicht mehr ausgehalten, täglich auf die Stelle blicken zu müssen, an der Bettina in ihr Unglück gerannt war. Von einem Stadtviertel in das andere, er hatte auf das Pfarrhaus verzichtet, es seinem Nachfolger überlassen, war letztlich auch froh, in einem anderen Stadtteil zu wohnen. Hier war sein Unglück nicht mehr täglich gegenwärtig, nicht nach außen sichtbar. Gewiss, er dachte jeden Tag daran, bestimmt auch seine Frau, obwohl sie nie miteinander darüber sprachen. Unausgesprochene Vorwürfe breiteten sich aus zwischen ihnen, nie gesagte, auch nicht angedeutete und trotzdem spürbar wie allerfeinste Nadelstiche.
Er hatte damals eine Panne gehabt und einen wichtigen Termin, er hatte seine Frau gebeten, ihn abzuholen, hatte nicht daran gedacht, dass sie Karl nicht allein mit Bettina zurücklassen sollte, hatte nicht geahnt, wie gefährlich das sein könnte.
Alles war zu schnell gegangen. Schicksal? Er suchte Trost in seinem Glauben, einen Trost, den er seiner Frau nicht vermitteln konnte. Sie war nicht bereit, das Unglück anzunehmen, versank zunehmend in Bitterkeit und Depression. Er befürchtete an manchen Tagen sogar, sie könnte sich etwas antun, oder auch Karl, den anzunehmen ihr immer schwerer fiel.

Trotz des Wohnungswechsels hatte Karl keine Schwierigkeiten, seinen üblichen Weg zu gehen: Zum Spielplatz und zurück, am Morgen, wo er sich allerdings am Nachmittag herumtrieb, war nicht aus ihm herauszubringen. Manchmal begegneten sie sich unerwartet, vor dem Supermarkt oder auch auf dem Friedhof. Während er versuchte mit Karl zu sprechen, tat dieser so, als wäre er ein Unbekannter, ignorierte ihn einfach, im Gegensatz zu Tonne, der ihn stets stürmisch begrüßte.
Er hatte es aufgegeben, sich um Karl unnötige Sorgen zu machen, er fühlte immer mehr eine innere Gewissheit, die ihm das Gefühl gab, dass sein Sohn gut beschützt würde, irgendwie vertraute er auf sein Gefühl und sein Sohn fand stets wieder zurück, kam einigermaßen pünktlich zum Essen, der Hunger trieb ihn heim und sein prall gefüllter Müllsack, gefüllt mit seinen Schätzen. Eigentlich war er mit so wenig zufrieden, stellte er immer wieder fest, aber er gab auch so wenig, schien seine Liebe nicht zu erwidern, jedenfalls nicht so, wie er sich das immer vorgestellt hatte. Liebender Vater, liebender Sohn, Zeit für gemeinsame Spiele, Zeit für Gespräche …

Karl erinnert sich an Bettina

Vorsichtig nahm Karl die Steine in die Hand, er prüfte sie und rieb den Schmutz an seinen Hosenbeinen ab, hielt sie abwägend in der Hand, strich behutsam darüber und legte sie schließlich in eine rote Schachtel zu anderen Steinen, die alle glitzernde Stellen aufwiesen. Er war zufrieden mit der Ausbeute seiner heutigen Schatzsuche. Tastend fuhr er mit seiner rechten Hand noch einmal in den Müllsack und erspürte noch etwas Hartes, das er erstaunt herausnahm.
Er hielt einen rosaroten Stein in der Hand, der durchsichtig schimmerte und die Form eines Herzens hatte. Zärtlich hielt er ihn an seine Wange, spürte die Kühle. Bewundernd drehte und wendete er ihn. Woher hatte er diesen Stein bloß? Er konnte sich nicht erinnern, ihn aus einem Mülleimer geholt zu haben. Versunken starrte er auf den Stein, da endlich fiel es ihm wieder ein: Das fremde Mädchen. Bettina. Sein Engel. Aber das Mädchen wollte nicht Bettina genannt werden, das hatte er schon gemerkt. Melanie hieß sie, jetzt wusste er es wieder. Sie hatte ihm ein Geschenk gemacht, heute auf dem Spielplatz. Melanie. Er zerrte das Bild seiner Schwester aus der Hosentasche. Bettina oder Melanie?
Er sehnte sich so nach Bettina, nach ihrem Lachen, ihrer zärtlichen Hand, ihrer unbekümmerten Zuneigung, die auch er erwidern konnte, ohne in eine starre abwehrende Haltung zu versinken. Er suchte sie immer noch, inzwischen heimlich, denn er spürte unbewusst, wie unerträglich es für seine Eltern war, ihn bei seiner Suche nach Bettina zu ertappen. Er fühlte auch die tiefe Abneigung seiner Mutter, die ganz innen in ihr steckte, tief verborgen. Aber er hatte seine Mutter auch anders erlebt.
Zu Bettinas Zeiten. Strahlend, zufrieden, zärtlich, war sie da gewesen, auch ihm gegenüber liebevoll. Ohne innere Abneigung, das hatte er gespürt. Seine Liebe zu Bettina hatte ihm die Liebe seiner Mutter gebracht.
Aber tatsächlich war es anders gewesen: Bettina hatte seiner Mutter gezeigt wie sie ihn lieben konnte, ihn, den komischen Kerl, der von allen so misstrauisch beobachtet wurde, über dessen merkwürdiges Verhalten ständig geredet wurde. Bettina ahnte nichts davon, sie nahm ihn an, als Mensch und Bruder. Das war es, was seine Mutter dazu gebracht hatte, ihn auch anzunehmen, kurze Zeit wenigstens. Aber davon ahnte er nichts. Wusste nicht, dass sie ihm die Schuld an Bettinas Tod gab und vor allem sich selbst.
Sie hatte ihm ihr Grab gezeigt, versucht zu erklären, dass Bettina jetzt im Himmel sei, ein Engel wäre, der auf ihn heruntersehen würde, ihn ständig begleiten würde. Es hatte lange gedauert, bis er einigermaßen begriffen hatte. Tot. Das war Starre, das war Verschwinden, das war nicht mehr da sein. Die tote Maus, die er gefunden hatte, eines Tages, tot, wie Bettina. Er wollte sie näher untersuchen, wollte herausfinden, was mit ihr passieren würde. Wäre sie auch im Himmel zu finden oder würde sie ein Engel werden wie Bettina? Er konnte es nicht herausfinden. Die tote Maus war plötzlich verschwunden, nicht mehr aufzufinden. Wie Bettina.

Vierte Begegnung:  Melanies Buch über Schutzengel

Melanie wartete schon lange. Endlich sah sie Tonne herankommen, konzentriert eine fremde Spur verfolgend. Leise rief sie ihn und blitzschnell sauste er Schwanz wedelnd auf sie zu und sprang an ihr hoch. Während sie ihn streichelte, blickte sie sich suchend nach Karl um, der meist in der Nähe des Hundes war. Karl suchte Tonne, hatte ihn aus den Augen verloren und blickte sich ebenfalls suchend um. „Hier“, schrie Melanie, „hier sind wir.“ Sie winkte mit den Armen, um Karl auf sich aufmerksam zu machen. Endlich. Er kam näher, beschleunigte seine Schritte. „Na, heute schon gute Beute gemacht?“, wollte sie wissen.
Verwirrt sah Karl sie an. „Hast du heute schon einen Schatz gefunden?“, fragte sie hartnäckig weiter. Jetzt begriff Karl. Er öffnete seinen blauen Sack und ließ sie hineinschauen. Neugierig blickte sie hinein, konnte aber nichts Besonderes entdecken, lediglich ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase und schnell wandte sie den Kopf ab. Karl schleifte den Sack schon zum nächsten Papierkorb und erforschte dessen Inhalt mit den bloßen Händen. Nach kritischer Begutachtung ließ er immer wieder etwas in den Sack fallen. Melanie spielt lieber mit Tonne als im Abfall zu wühlen. Sie wollte mehr über Bettina erfahren, unbedingt. Aber Karl war ein schwieriger Kerl, nicht gefährlich, aber seltsam, merkwürdig. Er wirkte so, als ob er sie nicht richtig verstehen könnte. Warum bloß? Fragte sich Melanie immer wieder. Sie wollte es herausfinden, alles über ihn und auch über Bettina. Gespannt setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete Karl.
„Karl, komm bitte her“, forderte sie ihn auf. „Schau, was ich hier habe.“ Sie winkte mit einem Gegenstand. Das wirkte. Karl kam zu ihr und wartete darauf, diesen genauer anschauen zu dürfen. Melanie klopfte einladend auf die Bank und Karl setzte sich. Langsam öffnete Melanie ein kleines Buch, das sie mitgebracht hatte und hielt es erwartungsvoll Karl entgegen. Karl riss es ihr aus der Hand und starrte ungläubig auf die Bilder. Sie spürte die Veränderung, die unerwartet in ihm vorging und plötzlich begann sie sich zu fürchten. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Karl blätterte immer wieder die wenigen Seiten vor und zurück, als suchte er etwa Bestimm-tes. „Engel“, murmelte er, „Bettina.“ „Wo ist Bettina?“, fragte Melanie. „Engel im Himmel“, erwiderte Karl und warf einen flüchtigen Blick nach oben, als suchte er sie dort zwischen den Wolken. „Schutzengel“, erklärte Melanie, mit dem Zeigefinger auf das Bild eines Engels deutend, der ein Kind sicher über die Straße geleitete.
Aber Karl verfiel in düsteres Schweigen und weigerte sich mit Melanie zu sprechen.

Bettina (3)

Sie bohrt ihre nackten Zehen in den warmen Sand, gießt aus der kleinen Wasserkanne Wasser darüber und matscht den Sand mit den Händen zu einem kleinen Berg, unter dem sie ihre Zehen verstecken will. Immer wieder springt die Sanddecke auseinander. Zu trocken, stellt er fest, steht auf und holt frisches Wasser, das er in die Sandkiste schüttet, während ihre Hände eifrig den feuchten Sand glatt streichen. Hilfe, meine Füße sind weg! Und er tut so, als ob er sie verzweifelt suche, rennt im Garten herum und sucht hinter den Sträuchern, schaut in den Schuppen, hinter das Haus, blickt prüfend in die Krone des Apfelbaumes, versucht ihn sogar zu schütteln. Sie lacht und lacht, hält es endlich nicht mehr aus und stößt ihre Füße ruckartig aus dem Sandhügel in die Luft, wackelt mit den verklebten Zehen und schreit. Hier, hier sind sie, ich habe sie wieder hergezaubert. Und er tut verwundert, ganz erstaunt. Plötzlich sind die Füße wieder da, wie ist das möglich. Sie kann tatsächlich zaubern. Bettina.
Jetzt ist er dran, muss im feuchten Sand sitzen, sich begießen lassen, darf seine Füße nicht bewegen, muss stillhalten,  Bettina hat ihn verzaubert. Beschmiert ihn genussvoll mit dem feuchten Sand, schmiert ihn auf seine Wangen, die Nase, die Hände, es kitzelt, aber er muss still halten, ist verzaubert in einen Stein, ist unbeweglich. Sie betrachtet stolz ihr Werk, marschiert um ihn herum, begutachtet ihr Kunstwerk, bewegt die Hände, murmelt unverständliche Zaubersprüche, klopft ihm plötzlich auf die Schulter und ruft. Du bist erlöst, du bist wieder mein Bruder. Steh auf. Sofort. Da muss er aufspringen, so schnell wie er kann, muss ihrem Zauberspruch folgen, muss wieder der Bruder werden. So schnell, dass sie fast ein bisschen erschrickt, um sich danach umso mehr zu freuen. Bettina, die kleine Zauberin.

Enttäuscht nahm Melanie Karl das Buch aus der Hand und steckte es in ihren kleinen Rucksack zurück.
Ein helles Bellen riss Karl jäh aus seiner Gedankenwelt. Tonne stupste auffordernd seine Hand an und sprang an ihm hoch. Langsam nahm Karl wieder wahr, wo er sich befand: er war auf dem Spielplatz, das fremde Mädchen saß noch eben ihm, blickte ihn besorgt an, aber das Buch war verschwunden, kein Schutzengel war mehr zu sehen.
Er fühlte sich unendlich müde und wollte nur nach Hause, sich auf sein Bett legen, allein sein, allein mit Bettina, die ihn überallhin begleitete, auch wenn es keiner glauben wollte. Er wusste es, er fühlte ihre Nähe.
Langsam packte er seinen Müllsack, erhob sich schwerfällig von der Bank, rief Tonne zu sich und machte sich auf den Heimweg, ohne Melanie, die ihm enttäuscht nachsah, unfähig ihm hinterherzulaufen, noch eines Blickes zu würdigen.

Als sie wieder allein war, zog Melanie noch einmal das Buch aus dem Rucksack und starrte nachdenklich auf das kleine Bild, das bei Karl so unerwartete Reaktionen hervorgerufen hatte.

 

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