Acryl auf Leinwand
27 Mittwoch Mai 2015
27 Mittwoch Mai 2015
25 Montag Mai 2015
22 Freitag Mai 2015
Posted Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur
inSchlagwörter
Erinnerung, Erklärung, Flüchtlinge, Flucht, Frauen, Freiheit, Gedanken, Gefangenschaft, Gefühle, Grenze, Soldat, Soldaten, Wachturm
Ein kurzes Zögern und fast schon hätte sie ihre Sonnenbrille abgenommen, aber nein, sie trat mit der neuen Sonnenbrille vor das unscheinbare kleine Grenzhaus, den Pass aufgeschlagen in der Hand. Sie musste warten, denn im Innern des Zollhäuschens, das nur aus einem Zimmer bestand, telefonierte der Grenzsoldat. Lässig von außen an das offene Fenster gelehnt deutete ein zweiter an, dass sie und auch die anderen, die sich inzwischen versammelt hatten, warten mussten. Alle schauten sich zunächst interessiert den nahe gelegenen hölzernen Wachtturm an, der sich trotz Sonnenschein und geöffneter Grenzschranken drohend in den blauen Himmel erhob. Also konnte auch sie unauffällig in die Runde blicken und den hohen Turm anstarren, vielleicht etwas länger als die anderen, ohne Aufsehen zu erregen. Gleichgültig und gelangweilt wendeten die anderen Touristen bald schon ihre Köpfe und musterten erwartungsvoll den Verlauf der Straße, die hier bergauf führte und den Blick auf das Land hinter der Grenze verbarg.
Endlich, das Telefonat war beendet und der Grenzer erschien, einen unförmigen riesigen Stempel in der Hand. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig und war überrascht über seinen jungenhaften verschmitzten Gesichtsausdruck, der nicht zu seiner tristen Uniform passen wollte. Obwohl er ernsthaft jeden Pass kontrollierte und dabei Bild und Person aufmerksam miteinander verglich, bevor er seinen Stempel einem Machtinstrument gleich auf das Papier drückte, erweckte diese Szene in ihr das Gefühl, als ob sie einen alten Film ansähe und nicht wirklich hier stünde.
Sie rechnete schon damit, dass er verlangte, sie solle die Brille abnehmen, aber er sagte nichts, sondern reichte ihr stumm den Pass zurück. Ihr Begleiter lächelte ihr beruhigend zu. Nur er hatte gewusst, welche Angst sie ausgestanden hatte während dieser kurzen Wartezeit.
Nachdem sie ihre Papiere verstaut hatten, schoben sie die Fahrräder den Berg hinauf und erwarteten gespannt den ersten Blick in das andere Land. Für ihn war alles unbekannt, aber nicht für sie.
Jahrelang hatte sie versucht, mit ihren Erlebnissen leben zu lernen, ohne ständig in Angst auszubrechen, sobald es an ihrer Tür klingelte und ein Fremder draußen stand. Schlimmer jedoch waren die Nächte, in denen sie aufwachte, schweißgebadet und zitternd und lange Augenblicke brauchte, um zu erkennen, dass sie außer Gefahr war. Nach vertrauten Gesprächen mit ihrem Begleiter hatte sie allmählich die Idee entwickelt, wieder in jenes Land zurückzufahren, um endlich die Gewissheit zu haben, dass ihr jetzt nichts mehr passieren könne.
Während sie schwitzend ihr Rad bergauf schob, tauchten die Bilder ihrer Träume wieder auf und überfielen sie mit unerwarteter Heftigkeit.
Nass, vor Kälte schlotternd, sieht sie sich vor den Grenzsoldaten stehen, fünf oder sechs, unwichtig die Zahl. Grelles Scheinwerferlicht blendet ihre Augen, schmerzhaft. Ein glühendes Gefühl von Scham und Verzweiflung, entstanden in ihrem tiefsten Innern breitet sich wie eine überschwappende Woge in ihrem Körper aus. Da steht sie wehrlos, halbnackt, diesen Männern in Uniform ausgeliefert, die sie mit undurchdringlichen Blicken anstarren und in einer fremden Sprache auf sie einreden. Sekundenlang ist sie sich ihrer endgültigen Niederlage bewusst. Aus der Traum vom freien Leben, gescheitert der mühevoll konstruierte Plan vom Weg über die Grenze, verloren alle Hoffnungen, die ihr den Mut gaben, es überhaupt zu wagen. Sie fühlt sich bloßgelegt und ausgebreitet, um wie eine seltene Ware begutachtet zu werden. „Wenn sie mich anfassen, werde ich schreien, egal was passieren wird.“ Mit diesem Gedanken macht sie sich neuen Mut und die Verzweiflung beginnt zu weichen. Trotzig blickt sie den Männern der Reihe nach in die Augen, einem nach dem anderen. Einige Männer werden unruhig und fühlen sich unwohl unter ihren Blicken. Manche scheinen sie wieder zu erkennen, sich zu erinnern an die junge Frau, die eine Woche im Nachbarort verbrachte. Ferien hätte sie, erzählten sich die Leute im Dorf. Sie malte gerne und war ständig mit dem Zeichenblock unterwegs, um geeignete Motive für ihre Bilder zu finden. Das dritte Jahr erschien sie hier im Dorf, weil sie den See und seine Umgebung so erholsam fände. Abends saß sie oft in der einzigen Gaststätte des Ortes, unterhielt sich angeregt mit anderen Feriengästen.
Mehrere der Grenzsoldaten hatten sie nach Dienstschluss schon dort gesehen und erkannten sie wieder. Sie selbst hatte jeden Abend die zurückkehrenden Soldaten beobachtet und sich gefragt, was wohl in ihnen vorgehen mochte, während sie auf ihren Wachttürmen saßen, schwer bewaffnet dem Auftrag verpflichtet, unerwünschte Grenzübertritte zu verhindern. Die jungen Gesichter hatte sie eingeteilt in solche, denen es Genugtuung brachte, eine Flucht zu verhindern und andere, die jeden Abend heimlich erleichtert waren, wenn es keine Zwischenfälle gegeben hatte. Ihrer Meinung nach war das die Mehrheit.
Jetzt aber wirken alle diese Männer fremd, unnahbar und furchteinflößend. Und dennoch, wieder versucht sie Blickkontakt herzustellen, in der verzweifelten Hoffnung, dadurch wenigstens in einem von ihnen einen Funken Menschlichkeit wachzurufen.
Ihre körperliche Erschöpfung und der psychische Schock des Scheiterns lassen sie einen Moment schwanken, beinahe wäre sie gefallen. Da endlich ergreift einer der Männer sie am Arm und schreit den anderen mit barscher Stimme etwas zu. Daraufhin wird ihr eine schwere Decke um die Schultern gelegt und sie wird in ein Zimmer geführt, das einzige des Grenzhauses. Das Telefon, das der junge Grenzer heute benutzte ist vielleicht immer noch dasselbe, mit dem damals eine Dolmetscherin angefordert wurde, um endlich mit dem Verhör beginnen zu können.
Der Schweiß strömte klebrig über ihr Gesicht und sie wusste nicht, war es die Hitze oder die Erinnerung, die ihn strömen ließ, unaufhörlich. Von der Höhe des Anstieges aus konnten sie über den See blicken und deutlich den breiten Schilfgürtel erkennen, der ihn wie einen Schutzwall umzog. Kein Badesee war das, nein, ein See, der Vögel und vielen Wassertieren Zuflucht gewährte, nicht aber Menschen schützte, die sich in seinem Schilfgürtel verbergen wollten. Stumm hielten sie ihre feuchten Gesichter in den Wind, der vom See herauf strich und sie sanft kühlte. Neben ihnen genossen auch andere Radfahrer die schöne Aussicht und sie wunderte sich wie es für sie alle so selbstverständlich sein konnte, hier zu stehen, den See zu Füßen, die Grenze gefahrlos hinter sich und in weiter Ferne einzelne Wachttürme verstreut entlang des Uferstreifens. Dort drüben war es. Sie deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung See.
Sie weiß bis heute nicht, warum ihre Flucht gescheitert ist. Hatte sie Vögel aufgescheucht oder war sie verraten worden? Hatten ihre Vermieter Verdacht geschöpft? Sie hatte keine Ahnung. Hatte sie einem anderen gegenüber eine verdächtige Aussage gemacht? Jahrelanges Grübeln brachte sie nicht weiter. Die Lösung wird sie vermutlich nie finden, es sei denn durch Zufall. Manchmal möchte sie die Wahrheit darüber wissen, dann wieder fürchtet sie sich davor. Sie verdrängte aufdringliche Gedanken und erinnerte sich, warum sie hier war. Ihre Vergangenheit zu bewältigen wollte sie lernen. Ein Experiment mit sich selbst, um ihre Ängste endlich loszuwerden.
Gemeinsam kehrten sie zurück zur Straße, setzten ihren Weg fort. Die Landschaft wirkte hier eintönig. Vor ihnen tauchte das erste fremdsprachige Ortsschild auf. Trotz der Blumenrabatte zu beiden Seiten der Straße erweckte der Ort keinen einladenden Eindruck. Die Gehwege waren ungepflegt, ja verwahrlost und ein Blick in die Hinterhöfe und Einfahrten zeigte deutlich die Vernachlässigung der Häuser. Wieder fühlte sie sich wie in einem alten Film. Aber das war kein Film, das war lebendige Realität. Die jungen Frauen, die ihre Kinder in altmodischen Kinderwägen schoben, lebten hier, jetzt. Vielleicht gingen sie manchmal ins Kino, um ihrer begrenzten Welt zu entfliehen, stundenweise wenigstens.
Schilder an Fenstern und Einfahrten angebracht forderten Gäste auf, hier zu übernachten. Aber beide wollten weiter, zu bedrückend fanden sie die Atmosphäre. Würde sie das Haus, in dem sie damals wohnte wieder erkennen? Sie versuchte sich an besondere Kennzeichen zu erinnern, aber es gelang ihr nicht und so ließ sie ihrem Rad freien Lauf, bergab. Die Leute auf den Gehwegen blickten ihnen nach, alte Frauen, Einkaufstaschen schleppend und alte Männer, die auf Stühlen vor ihren Haustüren saßen, die Straße beobachtend. Sie schämte sich beinahe, dass es ihr so gut ging, materiell gesehen, dass sie sich einen Urlaub mit dem Fahrrad leisten konnte, was für manche der Bewohner anscheinend ein schwer verständlicher Luxus war.
Völlig unerwartet, im Vorüberfahren, blickte sie sekundenlang in die schwarzen Augen eines dunkelhäutigen Jungen. Krampfhaft hielt er sich an den rostigen Gitterstäben eines Eisenzaunes fest.
Einer Momentaufnahme gleich prägte sich dieses Bild in ihrem Gedächtnis ein, dieser schmächtige Junge hinter Gittern. Sie wandte ihm den Kopf zu, lächelte ihn an, er aber verharrte teilnahmslos in seiner Stellung. Dieses Gesicht, das so gleichmütig schien, ließ sie erschauern. So einsam und verlassen wirkte diese zarte Gestalt, eingesperrt hinter einem mächtigen Zaun. Eine vorher nie empfundene Welle von warmer Zärtlichkeit durchflutete sie und am liebsten hätte sie dieses Gesicht an ihre Schulter gedrückt, ihm Tränen abgewischt, die längst getrocknet waren, es einfach getröstet, aus welchem Grund auch immer. Stattdessen wurde sie selbst wieder zur Gefangenen ihrer eigenen Vergangenheit.
Während des Verhöres, damals, weigerte sie sich standhaft irgendeinen Namen zu nennen, außer ihrem eigenen. Sie wollte keinen anderen gefährden, auf keinen Fall. Warum wollte sie über die Grenze? Immer wieder diese Frage. Stundenlang, pausenlos wie ihr schien. Zu keiner glaubwürdigen Antwort fähig, blieb sie hartnäckig stumm. Wie auch hätte sie denen erklären können was ihr Hauptbeweggrund gewesen war? Es war aussichtslos. Sie wollte endlich selbst entscheiden dürfen, ob sie im Westen oder Osten ihres Landes zu leben wünschte. Sie schloss nicht einmal aus, freiwillig wieder in den Osten zurückzukehren, nachdem sie den Westen kennen gelernt hatte. Aber niemand hätte es ihr geglaubt, also musste sie schweigen. Rein persönliche Gründe hatten sie gedrängt, die Grenze zu überschreiten. Zwar war es verboten, selbständig zu denken und zu entscheiden, in gewissen Bereichen vor allem. Diese Grenze aber war eine einzige Verlockung und zugleich die größte Herausforderung ihres Lebens. Einmal musste sie den Versuch wagen. Was anderen gelungen war, könnte auch ihr gelingen. Aber sie kannte auch viele Opfer. Es war wie in einem Märchen, wer hinter die verbotene Grenze blickte, war verurteilt zu sterben. Grausam, herzlos wie Märchen eben sind. Wer aber gehorsam tat, was die Mächtigen im Lande befahlen, der durfte zum Lohn am Leben bleiben. Welches Leben aber? Dieses Leben genügte ihr längst nicht mehr. Inzwischen war sie erwachsen und den Märchen entwachsen. Sie brauchte keinen mehr, der ihr sagte, was und wie sie zu denken hätte, mit wem sie sprechen durfte, wem sie trauen konnte.
In anderen Ländern sperrte man die Menschen nicht hinter Mauern als ob sie gefährliche oder unmündige Wesen wären. In anderen Ländern waren die Menschen frei. Nach dieser Freiheit, die jenen im Westen schon allzu selbstverständlich war, sehnte sie sich. Gewiss, ihr ging es nicht schlecht, besser sogar als vielen anderen. Sie hatte Arbeit, eine Wohnung und auch Freunde, wenngleich sie begonnen hatte einigen von ihnen allmählich zu misstrauen, ohne Gründe nennen zu können. Ihr Wunsch wurde innerhalb der letzten Jahre so unwiderstehlich stark, dass sie anfing Pläne zu entwerfen, geheime Fluchtpläne, die sie sich tief in ihrem Gedächtnis einprägte, das sie eigens zu diesem Zweck trainiert hatte, unermüdlich, monatelang.
Es wäre jedoch absolut sinnlos gewesen, ihre Überlegungen jenen preiszugeben, die die Grenze bewachten. Mitten im Verhör verließ sie nach einigen Stunden plötzlich alle Kraft, sie sackte zusammen, ein Schwächeanfall tauchte sie in Bewusstlosigkeit und Vergessen.
Einzige Erinnerung an das Wiedererwachen blieb das teilnahmsvolle Gesicht der Dolmetscherin, die anscheinend lange schon auf dem unbequemen Stuhl neben ihrem Bett saß und auf diesen Augenblick gewartet zu haben schien. Allmählich erst wurde ihr klar, in welcher Lage sie sich nun befand. Nicht über die Grenze war sie geflohen, nein, neue Grenzen hatte sie sich aufgebaut, unüberwindliche diesmal, die Wände einer Gefängniszelle. Ihre Blicke durchforschten mühsam das winzige Zimmer, in dem sie sich befand. Die Wände kahl, der Boden nackter grauer Beton, an der Decke eine Lampe, deren Licht so grell war, dass man die Augen schließen musste. Was sie besonders schmerzlich traf, war das Fenster, vergittert, eine Lücke nur für ein wenig Licht von draußen, aber nicht dazu bestimmt hinauszusehen. Sie, die über die Grenze wollte, lag hilflos, tatenlos hier, umgeben von Grenzen, bedrohlicher denn je.
Die vertraute Stimme ihres Begleiters holte sie zurück aus ihren quälenden Erinnerungen. Er warnte sie besorgt vor einem gefährlichen Schlagloch in der Straße, dem sie gerade noch ausweichen konnte. Schweigend fuhren sie weiter, die Hitze nahm zu. Jeder neuer Anstieg wurde zur körperlichen Herausforderung. Tritt für Tritt kämpfte sie sich die Anstiege hoch, spürte den Schweiß über das Gesicht rinnen, schmeckte ihn mit der Zunge, klebrig, salzig. Ihr lauter Atem dröhnte in den Ohren, aber entschlossen, nicht aufzugeben, gewann sie die Kraft zum Durchhalten, in kleinen Portionen, aber ausreichend. Während in ihr ein Kampf stattfand zwischen ihrem Willen und ihrem Körper, sah sie schon die Abfahrt vor sich, spürte den Wind kühlend im Gesicht und erlebte das befreiende Gefühl des Loslassens, bergab, mühelos, schnell.
Stunden vergingen. Selten sprachen die beiden miteinander und doch war sie froh, nicht allein unterwegs sein zu müssen in diesem Land, das ihr fremder denn je zuvor erschien. Das ständige Atmen mit offenem Mund trocknete ihren Gaumen aus, das Schlucken wurde immer unangenehmer. Sie hielten auf einer Anhöhe kurz an, um zu trinken. Kaum hatten sie die Räder aneinandergelehnt, da entdeckten sie den Hund. Er stöberte in den Weinbergen neben der Straße herum, als brauner Fleck war er gut erkennbar. Misstrauisch näherte er sich ihnen langsam, unterwürfig beinahe. Mit schmeichelnden Worten versuchte sie ihn zu locken, aber er konnte sie nicht verstehen, freundliche Töne war er nicht gewohnt. Neugierig auf seine Reaktion warf sie ihm einige Wurststücke zu. Erschrocken sprang er zur Seite, kehrte aber zögernd wieder um, überwältigt von dem unwiderstehlichen Geruch. Sie konnte das Misstrauen dieses Hundes gut verstehen. Ihr schien, als hätten das Tier und sie eine gemeinsame Vergangenheit. Wie lange mag es wohl gedauert haben, um jegliches Vertrauen in andere auszumerzen? Und mit welchen Mitteln mag das geschehen sein?
Der Schock der missglückten Flucht löste eine totale Resignation in ihr aus, körperlich und geistig. Sie ließ sich einfach fallen, kein Ziel mehr vor Augen, das lohnenswert schien, nur noch das Gefühl der Verlorenheit. Die Kälte, in der man sie stundenlang – oder vielleicht kam es nur ihr so vor – mit nasser Kleidung stehen gelassen hatte verursachte Fieber, das eine Lungenentzündung ankündigte. Es dauerte Wochen, wie man ihr später mitteilte bis sich ihr Zustand wieder stabilisiert hatte, aus medizinischer Sicht. Sie verbrachte diesen Zeitraum in einem ständig schwankendem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, nahm alles um sie herum nur verschwommen wahr, als blickte sie durch eine beschlagene Fensterscheibe. Verhöre waren unmöglich.
Sie konnte es nicht fassen, dass die Ärzte ernsthaft um ihr Leben kämpften, das, wäre sie nur wenige Schritte der Grenze näher gekommen, längst ausgelöscht gewesen wäre. Noch lebte sie, noch konnte sie verhört werden. Also musste sie wiederhergestellt werden für weitere Fragen, Fragen und immer wieder Fragen. Sinnlos, Antworten zu finden, wahre oder falsche, keine einzige würde akzeptiert werden. Wie ein Bumerang träfen sie alle auf sie, die Befragte zurück.
Allmählich taten die Medikamente ihre Wirkung, wider ihren Willen. Sie spürte wie es ihr langsam besser ging. Aber diese Erkenntnis hütete sie wie ein Geheimnis. Keiner durfte ihre fortschreitende Gesundung bemerken. Nur so könnte sie vermeiden, eine gewisse Zeit wenigstens, dem unerträglichen Alltag des Gefängnisses und seinen Schikanen ausgeliefert zu werden. Tagsüber stellte sie sich schlafend, wann immer jemand in ihre Nähe kam, oft schlief sie auch tatsächlich erschöpft ein. In den Nächten lag sie wach, mit geschlossenen Augen und dachte nach. Unentwegt besah sie sich die Lage, in der sie sich befand, versuchte aus allen möglichen Blickpunkten einen Ausweg zu finden. Wie lange konnte sie die Ärzte und Schwestern noch über ihren Zustand täuschen? Zeit zu gewinnen war plötzlich ihr neues Ziel, das es zu erreichen galt. Möglichst lange auf der Krankenstation zu bleiben, abgeschirmt von der unbekannten Realität hinter den Mauern, befreit von Arbeitszwang und Verhören. Das war ihr Ziel und es schien erreichbar, im Augenblick jedenfalls.
Gedankenverloren sah sie zu wie ihr Begleiter dem Hund weitere Wurststücke zuwarf und dabei amüsiert den verzweifelten Kampf beobachtete, der sich stumm in seinem Inneren abspielte. Lange wusste das Tier nicht, ob es sein Misstrauen überwinden sollte. Schließlich siegte das quälende Hungergefühl. Wieder näherte sich der Hund, schnappte blitzschnell einen Bissen und zog sich sofort erneut zurück, ihn gierig verschlingend, ehe er sich an den nächsten wagte. Beide waren sekundenlang auf den Hund fixiert, beobachteten ihn fasziniert.
Plötzlich meinte sie die schmerzenden Hungergefühle wieder zu verspüren, unter denen sie selbst litt, als sie auf der Krankenstation lag. Damals war sie fest entschlossen, weiterhin krank zu bleiben. Ihr Körper aber weigerte sich, diesen Entschluss anzunehmen und rebellierte. Sie konnte es nicht verhindern, dass sie sich langsam kräftiger fühlte. Ihr Ziel schien dadurch gefährdet. Damals nahm sie kaum Nahrung zu sich, um ihren Körper gewaltsam an einer vollständigen Gesundung zu hindern. Die Verhöre rückten wieder näher sobald es ihr besser ging. Sie wusste es. Entsetzt dachte sie an die endlosen Gespräche, die eigentlich nur Monologe waren. Fragen, Fragen, auf die es keine Antwort gab. Ein Katz- und Mausspiel. Kurz durfte sie die ersehnte Freiheit wittern, die Hoffnung erleben, vielleicht doch noch zu entkommen, aber dann spürte sie schon erneut die Krallen mit denen man sie festhielt, messerscharf.
Aussichtslos der Kampf, aber trotzdem gab sie nicht auf. Später konnte sie nicht mehr sagen, was ihr die Kraft zum Durchhalten gegeben hatte, als der Hunger sie quälte. Sie verbot sich das Essen, um die Genesung hinauszuzögern. Tagelang meinte sie, der Hunger würde sie besiegen. Beim Geruch von Nahrung sammelte sich Speichel in ihrem Mund, den sie mühsam schluckte. Ihr Körper war bereit zu essen, aber ihr Wille sagte nein. Wie lange würde sie stark genug bleiben? Sie dachte an Freiheit. Sah sich im Westen, irgendwo, das Gefängnis weit hinter sich. Sah einladende Fenster, an denen hölzerne Kästen hingen aus denen in üppiger Fülle Blumen quollen, bunten Sonnen gleich. Sah Wege, auf denen sie unbeschwert gehen konnte, allein oder mit Freunden. Und tatsächlich, nach einigen Tagen hatte sie es geschafft, ihr leerer Magen rebellierte nicht mehr, das Hungergefühl war gebannt.
Selten noch brachte man sie zu Verhören. Sie durfte sitzen, eine Krankenschwester begleitete sie. Beim letzten Mal bemerkte sie eine auffallende Unruhe, die von den Richtern ausstrahlte. Hatte sich etwas ereignet, von dem sie keine Ahnung hatte oder haben durfte? Jede Änderung aber könnte eine Chance für ihre Zukunft bedeuten. Obwohl sie nach außen weiterhin apathisch wirkte, wurde sie hellhörig. Sie sammelte Wortfetzen, um daraus die entscheidende Nachricht zusammensetzen zu können. In unbeobachteten Augenblicken begannen die Patienten miteinander zu tuscheln, heimlich, verstohlen. Schwestern, Ärzte, Patienten, alle wurden von dieser unerklärlichen Unruhe erfasst, die bei den einen Angst hervorrief, bei vielen anderen jedoch längst verschüttete Hoffnungen wachrief. Was war geschehen?
Ihr Begleiter bot ihr einen letzten Schluck Wasser an, dann schnürten sie ihre Rucksäcke. Wenige Kilometer trennten sie noch vom nächsten Grenzübergang. Auf der anderen Seite befand sich der Anlegeplatz der Fähre. Sie mussten sich beeilen, die Fähre würde nicht warten auf sie. Müdigkeit ließ sie langsamer treten, einzig der Zeitdruck trieb sie weiter an. In diesem Land wollte sie auf keinen Fall länger bleiben, also weiter treten, immer wieder treten. Endlich, die Ankündigung der Grenzstation. Erleichterung erhellte ihr Gesicht. Diesmal war es kein kleines Zollhaus, sondern ein modernes steriles Gebäude, erstaunlich groß. Mit gezückten Pässen näherten sie sich einem gleichgültigen Beamten, der sie gelangweilt weiter winkte, hinaus aus diesem Land, das sie schon einmal hatte verlassen wollen. So einfach war das heute: Pass vorzeigen, weitergehen, Grenze passiert, gefahrlos.
Schon einmal hatten schwere Tore sich geöffnet, waren Schranken hochgegangen, hatten Uniformierte ihr gewunken, auffordernd, ungeduldig. Zögernd, auf schwankenden Beinen, einen Pass in der Hand, den sie soeben erhalten hatte, war sie aus dem Gebäude hinausgetreten in die Freiheit. Frei, sie wäre frei hatte ihr kurz vorher ein Arzt mitgeteilt, kommentarlos. Völlig unerwartet traf sie diese Nachricht. Es dauerte unendlich lange bis sie deren Sinn begriff. Warum sie frei war, sie wusste es noch immer nicht. Verwirrt stand sie auf der Straße, umgeben von fremden Menschen, die alle in froher Erregung laut gestikulierend durcheinander redeten, lachten und weinten, unverständlich für sie. Da packte sie einen Mann am Arm, kurz entschlossen. Was war geschehen? Ungläubig starrte er sie an. Da war doch tatsächlich jemand, der es noch nicht wusste, dass die Grenzen nach beiden Seiten nun passierbar waren, gefahrlos. Freiheit, schrie der Mann, Freiheit. Keine verbotenen Grenzen mehr. Taumelnd bewegte sie sich weiter. Vor einem fremden Hauseingang sank sie erschöpft auf eine ausgetretene Treppenstufe nieder, verschränkte die Arme, ließ ihren Kopf schwer darauf sinken und flüsterte kaum hörbar, ich bin frei. Immer wieder stammelte sie diese alles entscheidenden Worte, spürte nicht die Tränen, deren Strom sie unaufhaltsam in die Freiheit spülte.
20 Mittwoch Mai 2015
17 Sonntag Mai 2015
Posted Bild, Bilder, Gemälde, Kunst, Pastellkreide
inSchlagwörter
Art, Expressionismus, Franz Marc, Kater, Katze, Katzen, Kreide, Kunst, Pastell, Pastellkreide, Spiel
12 Dienstag Mai 2015
Posted Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik
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Droge, Drogen, Erinnerung, Erklärung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gedicht, Gefühle, Krankenhaus, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Psychologie, Rauschgift, Rauschmittel, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Tod, Vorstellungen
Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich hier auf den Stuhl. Ich kann nur leise sprechen, das hat man Ihnen sicher schon gesagt. Sind Sie erstaunt über mein Aussehen? Doch, ich merke es Ihnen deutlich an, nein, versuchen Sie nicht dagegen zu reden. Wahrscheinlich habe ich Sie durch mein Äußeres erschreckt, aber ich habe keinen Spiegel und es interessiert mich auch nicht wie ich aussehe. Wozu auch, mir ist alles so gleichgültig. Am liebsten würde ich schlafen, schlafen, Tag und Nacht und irgendwann möchte ich erwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.
Aber Sie wollen mit mir reden, keine Angst, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Fangen Sie also an, ehe ich zu müde werde.
Sie wollen wissen, ob es Absicht war, was sich an jenem Abend ereignet hat? Darauf kann ich keine Antwort geben, noch nicht, denn ich bin mir selbst darüber nicht im Klaren. Vielleicht interessiert es Sie, mehr über diesen Tag zu erfahren, Sie könnten sich dann selbst Ihre Meinung bilden. Ja? Es ist eigenartig, aber irgendwie vertraue ich Ihnen. Bei allen anderen habe ich mich geweigert darüber zu sprechen. Aber ich spüre, dass ich endlich reden muss, um nicht daran zu ersticken. Bitte hören Sie nur zu und geben Sie keine Kommentare ab, schreiben Sie auch nichts mit, sonst könnte ich nicht sprechen. Sie sind einverstanden? Gut. Ich nehme an, man hat Ihnen schon eine Menge über mich erzählt und Sie haben eine gewisse Vorstellung von mir. Sicher wissen Sie noch nicht wie ich ihn kennen gelernt habe.
Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Hosengeschäft, probeweise. Was ich später machen sollte, wusste ich damals nicht. Meine Eltern erwarteten, dass ich mich um eine gute Ausbildung bemühen werde, aber ich wollte mir dazu Zeit lassen. Kurz vor Ladenschluss sah ich ihn zum ersten Mal. Mein erster Eindruck? Ich hielt ihn für eingebildet, gut aussehend, ja, aber zu arrogant. Er sah sich im Laden um, betont lässig, ohne etwas zu kaufen. Wenige Tage darauf, stand er wieder im Laden und wollte von mir beraten werden. Ich versuchte, ihn so freundlich wie die anderen Kunden auch zu behandeln. Er fand nichts Passendes. Eine Woche lang erschien er jeden Tag und allmählich schwand mein innerer Widerstand und ich willigte ein, eines Abends, mich mit ihm zu treffen. Ich war fest entschlossen, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Abwarten wollte ich, wie er sich verhalten würde. Aber schneller als erwartet hatte er mich von sich überzeugt. Da fällt mir ein wie er mir eine Rose schenkte, die er zuvor hastig von einem blühenden Strauch abgerissen hatte, zufällig hatte ich ihn dabei beobachtet. Verlegen lächelnd schleuderte er die Rose über den Ladentisch in meine Hände. Überrascht hielt ich die zarte Blüte fest und atmete ihren zarten Duft ein, glücklich. Jetzt denke ich, vielleicht war alles Berechnung und ich war zu leichtgläubig. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich von ihm abgestoßen fühlte, von seiner kalten Sprache, seiner Verachtung anderen gegenüber. Nach und nach erfuhr ich mehr von ihm und begann langsam zu begreifen, ein bisschen wenigstens wie er so geworden war.
Ich wohnte noch bei meinen Eltern und er bei seiner alleinstehenden Mutter. Wo also konnten wir uns treffen außer in Cafes und später dann in üblen Kneipen, in denen er mit abstoßenden Leuten bekannt war, denen ich zunächst am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Immer wieder überfiel mich Furcht vor meinem eigenen Verhalten. Wie konnte es geschehen, dass ich innerhalb kürzester Zeit in Kneipen verkehrte, in die ich mich vorher nie gewagt hätte? Ich verstand mich selbst nicht. Meine Eltern hatten wohl auch Angst vor meiner Veränderung. Sie drängten mich, diese unglückliche Freundschaft wie sie es nannten, aufzugeben. Aber da war es schon zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück, obwohl ich es damals gerne gewollt hätte.
Ob ich wusste, dass er verheiratet gewesen war? Ja, irgendwann hatte er darüber geredet, nicht viel, aber ich spürte, das hatte er nicht verkraftet, dass seine Frau die Scheidung gewollt hatte. Nein, Gründe nannte er mir nicht. Sie scheinen darüber mehr zu wissen als ich? Sie schweigen. Mir wurde selbst bald klar, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Sie musste es tun, um sich zu retten, sonst wäre es ihr ergangen wie mir. Sie verstehen nicht, wie ich das meine? Seit er arbeitslos war, hatte er angefangen erste Erfahrungen mit Drogen zu machen und wie es dann weiterging, haben Sie sicher schon lange in Erfahrung gebracht, nehme ich an. Nein? Er konnte bald nicht mehr ohne Drogen leben. Er träumte davon, sich große Mengen zu beschaffen, um möglichst lange in seiner neu entdeckten Welt leben zu können, frei von aller Verantwortung und den Erwartungen der Gesellschaft. Sein Ziel war, tun und lassen zu können, was er wollte und wann er es wollte.
Sie meinen, das sei die Welt eines Kleinkindes. Ja, gerade das dachte ich auch manchmal. Die Droge als Schnuller sozusagen, der pure Zufriedenheit und Lustgewinn garantierte sobald ihn das Baby im Mund hatte. Flucht nach rückwärts, um sich allen Anforderungen zu entziehen.
Aber er war kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen, trotz seiner herausgeputzten Männlichkeit, die er gerne zur Schau stellte durch seine auffällige Kleidung, mit denen er seine Muskeln betonte. Hinter seinem unnahbaren Verhalten verbarg sich, gut getarnt, einsame Schwäche.
Bis heute verstehe ich nicht wie es passieren konnte, dass auch ich Erfahrungen mit Rauschgift machte. Lange habe ich mich geweigert, hartnäckig. Ich könnte auch ohne dieses Zeug leben, habe ich verzweifelt geschrien, wenn er immer wieder darauf bestand, dass ich mit ihm in seine verrückte Welt flüchten sollte, um dort frei zu sein. An Trennung dachte ich oft in dieser Zeit. Längst war ich abhängig von ihm und bald würde ich es auch von Drogen sein. Was also hinderte mich an einer endgültigen Trennung von ihm? Angst, ich hatte einfach Angst vor dem Alleinsein. Irgendwie hoffte ich wohl immer noch durch meine Zuneigung einen gewissen Einfluss auf sein Leben, das in eine Sackgasse geraten war, nehmen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung wie aussichtslos es war, ihn aus dieser Sackgasse zurückholen zu wollen. Allein, ohne fremde Hilfe wäre das unmöglich gewesen, teilten mir die Ärzte später mit.
Wie ich es empfunden habe, abhängig von Drogen zu sein? Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht wie die Fahrt mit einem Ballon. Man hebt lautlos und langsam ab, lässt alles Unangenehme wie Ballast unter sich. Mit dem unaufhörlichen Höhersteigen verkleinern sich automatisch alle Probleme, werden beinahe unsichtbar. Die Landung erfolgt dagegen oft sehr unsanft. Du wachst auf und alles ist wieder sichtbar, deutlicher und erdrückender als zuvor. Unlösbar all deine Probleme und du hast nur den einzigen Wunsch, wieder zu starten, um abzuheben, höher als beim letzten Mal.
Die Zeit drängt, ich weiß. Warten Sie noch ein bisschen, bitte. Sie sind wirklich nicht ungeduldig? Ich glaube Ihnen. Alle anderen, die kamen, um mich zu befragen, hatten keine Geduld mit mir. Da hatte ich beschlossen, mich nicht ansprechbar zu zeigen. Regungslos, schweigend lag ich im Bett, ohne sie zu beachten.
Verärgert mussten sie schließlich wieder gehen. Tagelang versuchten sie, mir eine Antwort zu entlocken, aber ich weigerte mich. Eine Schwester, die echte Anteilnahme an mir zeigte, kam mir dabei zu Hilfe. Stets betrat sie wenige Minuten nach dem Besuch der Herren, zwei in Uniform und zwei in Zivil, das Zimmer, um an meiner Infusion eine Änderung vorzunehmen und so einen Grund zu finden, die strengen Herren zu verabschieden und sie auf die nächsten Tage zu vertrösten.
Ich bin froh, dass heute Sie gekommen sind. Wer kam auf die Idee, die Polizei aus dem Spiel zu lassen? Die freundliche Schwester? Ja, das habe ich fast vermutet. Aber zurück zu Ihrer Frage. Absicht oder nicht? Hören Sie bitte weiter zu.
An jenem Tag genossen wir mit Freunden das herrliche Wetter und die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende. Schon am frühen Nachmittag lagerten wir an einem See. Wir grillten, tranken, badeten und waren sehr ausgelassen, zum Ärger der anderen Badegäste, die mit Unverständnis darauf reagierten und uns empört beschimpften. An diesem Tag hatte ich den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Heute noch, nur heute noch mache ich mit, dann werde ich ihm mitteilen, dass ich aussteigen werde aus diesem Milieu und auch aus unserer Beziehung. Aussteigen wie aus einem parkenden Auto, Tür auf, danke fürs Mitnehmen, die Fahrt war angenehm, aber ich muss nun in eine andere Richtung, Tür zu. Auf Wiedersehen. So wollte ich es machen. Nächtelang hatte ich gegrübelt und mit mir verzweifelt gekämpft. Letzte Chance, sagte ich mir und dachte dabei an seine geschiedene Frau, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, abzuspringen.
Wie gesagt, die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen. Ich versuchte, ein letztes Mal noch unbeschwert dabei zu sein. Am Abend war ich mit ihm allein, in seinem Zimmer. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, auszusteigen, ihm die Wahrheit zu sagen, ehrlich und schonungslos. Minute um Minute zögerte ich. Es lag vielleicht daran, dass er unerwartet seine harte Schale ablegte und ich ihm näher war als je zuvor. Er erinnerte mich an eine Zwiebel. Entfernt man ihre Schalen, eine nach der anderen, rückt man dem Herzen näher, aber immer leichter muss man dabei weinen. So empfand ich sein Entblättern, gefühlsmäßig meine ich, wenn Sie das verstehen können. Deutlich spürte ich, dass seine Arroganz verschwunden war und ich mich seinem Innersten näherte. Seine überraschende Zärtlichkeit verwirrte mich. Warum war er vorher selten so gewesen? Er hielt mich fest, aber sanft und ich legte meinen Kopf an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein, spürte seine Hand warm auf meinem Haar, fühlte mich geborgen. Ich brachte es nicht fertig, ihm meinen Entschluss mitzuteilen und so stieg ich nicht aus, denn ich saß im fahrenden Auto und wagte nicht, die Tür zu öffnen und mich hinausfallen zu lassen. Hätte ich es getan, wenigstens versucht. Vielleicht hätte er das Auto, Sie ahnen, was ich damit meine, angehalten, um mich aussteigen zu lassen, gefahrlos.
Diesen letzten Abend, von dem ich noch nicht wusste, dass es sein letzter werden würde, wollte ich also nicht verderben und schob die Aussprache mit ihm auf.
Er, der immer der Starke war, wirkte auf einmal so liebesbedürftig, brachte mich immer wieder ins Schwanken. Er hätte wunderbare Tabletten von seinem Freund, schwärmte er mir vor. Mit deren Hilfe könnten wir beide ein unvorstellbares Erlebnis in einer Phantasiewelt haben. Nein, sagte ich wiederholt. Zum Schluss aber trank ich gleichzeitig mit ihm das Glas Cola mit den aufgelösten Tabletten. Ach, es war ein verrückter Abend.
Aus dem Radio tönte leise Musik und wir ließen uns auf sein Bett sinken, eng aneinandergeschmiegt. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme seiner nackten Haut auf meiner Haut und begann langsam in einen Schlaf zu fallen, traumlos, aber unendlich tief, immer tiefer und tiefer, ohne je irgendwo anzukommen. Wie lange dieses Fallen in eine künstlich erzeugte Welt dauerte, ich habe keine Ahnung. Aber der Aufschlag kam, grausam hart.
Als ich erwachte, war ich geblendet von der unerwarteten Helligkeit. Weißgekleidete Gestalten umgaben mich mit besorgten Gesichtern. Meine Hand suchte ihn, aber sein warmer Körper war nicht neben mir, er war schon lange kalt, aber noch wusste ich es nicht. Ich wollte fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte. Nur allmählich konnte ich klare Gedanken fassen, auftauchen aus diesen Nebeln von Ahnungen, die mich umgaben und zur Unfähigkeit verdammten. Von weit her drangen beruhigende Worte und eine schmerzende Müdigkeit überfiel mich anfallsartig. Stunden später sprachen sie mit mir, erklärten, sie hätten meinen Magen auspumpen müssen, um mich zu retten. Retten wozu und vor was? Diese Frage quälte mich ständig. Aber die Ärzte hatten ihre Pflicht getan, mir das Leben gerettet und nun ließen sie mich allein mit der verdammten Erkenntnis, dass es ihn nicht mehr gab, nie mehr geben würde. Ob man mir gleich die Wahrheit gesagt hat? Nein, natürlich nicht, erst nach Tagen, als sie glaubten, ich könne sie schon verkraften. Sie versuchten mir in zunächst unverständlichen Worten beizubringen, dass sie auch bei ihm alles versucht hätten, aber zu spät gekommen seien. Es dauerte lange, bis ich begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten. Oft denke ich, bis heute habe ich sie nicht richtig verstanden. Gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen. Aber man erzählte mir, ich sei tagelang immer wieder in Bewusstlosigkeit gefallen und daher nicht sei es nicht möglich gewesen.
Sie schweigen. Habe ich genug gesagt? Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich wundern über mich. Vermutlich denken Sie, ich sei abgestumpft. Aber nein, das darf ich von Ihnen nicht behaupten, ich weiß. Sie meinen, ich sei verzweifelt und leide unter Selbstvorwürfen. Das hat noch keiner vor Ihnen gedacht, vielleicht haben Sie recht. Irgendetwas in mir ist gestorben, mit ihm, ein wichtiger Teil in mir ist tot, gefühllos. Ich spüre meinen Magen, der sich verkrampft, spüre meinen Kopf, der schmerzt, aber mein Herz spüre ich nicht, nicht mehr. Das macht mir Angst vor dem Weiterleben, nicht tot und nicht lebendig. Die Ärzte nennen meinen Zustand „Schock“ und meinen, es werde bald wieder aufwärts gehen mit mir. Sie nicken zustimmend. Glauben Sie den Ärzten? Ja, vielleicht macht es ein wenig Hoffnung, die Aussicht auf Besserung.
Darf ich Ihnen zum Schluss noch ein paar Fragen stellen? Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm meinen Entschluss an jenem Abend mitgeteilt hätte? Wissen Sie, darüber denke ich stundenlang nach. Hätte ich das Unglück dadurch verhindern können? Und nun zurück zu Ihrer Frage, die auch meine ist, war es Absicht?
Wir beide können keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten, keine einzige. Sie haben recht, es ist sinnlos, darauf Energie zu verschwenden. Sinnlos, so sinnlos wie mein Leben mir jetzt erscheint. Sie sagen nein? Darüber müssen wir uns noch unterhalten, aber nicht sofort, denn ich spüre wie mich diese Müdigkeit wieder überfällt. Was ich mir wünsche, wollen Sie wissen. Ich habe nur einen Wunsch. Weinen, um wieder ganz lebendig zu werden. Weinen war mir unmöglich seit ich hier aufgewacht bin, gerettet sozusagen. Ich sehne mich danach zu weinen wie ein Kind, hemmungslos. Ein dummer Wunsch, nicht wahr? Nein, Sie lächeln zum ersten Mal. Was ist wohl wichtiger zu weinen oder zu lachen? Beides. Nun müssen Sie gehen, ich weiß. Vielen Dank für das Taschentuch, aber warum legen Sie es auf mein Bett? Weil ich weine, sagen Sie.
08 Freitag Mai 2015
Posted Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur
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Beinah, Erinnerung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer, Vorstellungen
Gestern hielt ich den Hörer schon in der Hand, hatte dein Bild schon vor meinen Augen, deine Stimme im Ohr, da fiel mein Blick auf das abgegriffene zerknitterte Stückchen Papier mit deiner Adresse, da wusste ich es wieder, du warst längst nicht mehr zu erreichen. Wie hatte ich es vergessen können? Einem Wolkenbruch gleich überströmten mich Gedanken, die so oft gedacht, irgendwo abgelegt, stets griffbereit waren. Dein Bild stand klar vor mir, zersprühend in viele Einzelbilder, jedes von besonderer Bedeutung für mich, habe ich doch nur diese Bilder von dir. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe sie geordnet, jedes hat seinen eigenen Wert für mich. Jetzt wirst du laut lachen, wie gerne würde ich dich hören, aber ich kenne deine neue Adresse nicht.
Mein Lieblingsbild hättest du wohl gerne gewusst? Du sitzt in einem Garten, in dem es wuchert und wächst, grün und lebendig, angehaucht schon vom Modergeruch des Herbstes, du sitzt auf einem wackligen Stuhl unter dem grünen Dach von Bäumen durch dessen lecke Stellen das Sonnenlicht warm herabtropft. Das Buch, das du damals gelesen hast, kenne ich inzwischen auch, aber es blieb uns nicht genügend Zeit, darüber zu reden. Es blieb überhaupt wenig Zeit. Irgendwo sind wir uns begegnet, an einer Wegkreuzung. Keine von uns ahnte, wo die andere herkam, wohin sie wollte. Ein kleines Stück gingen wir gemeinsam, so zufällig eben, wie zwei sich treffen, die den gleichen Weg haben, ein kurzes Stück weit. Nur wenig Annäherung war möglich, eine gewisse Fremdheit blieb, Verlegenheit oder Unsicherheit. Obwohl ich schon dachte, ich hätte dich aus den Augen verloren, tauchtest du immer wieder auf, gingst neben mir, wurdest jedes Mal vertrauter, lebendiger.
Da gibt es noch ein Sommerbild von dir. Beim Baden traf ich dich, wie du der Hitze ausgewichen bist und dich unter den Schatten der Bäume gesetzt hattest, ein weißer Fleck warst du, sommerhell leuchtete dein langes Kleid. Wieder hattest du ein Buch in der Hand, als du grüßend die Hand gehoben hast. Gerne wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich zu dir gesetzt, wagte es aber nicht.
Erinnerst du dich an die Steine, die wir ein anderes Mal so ganz nebenbei, am Wasser sitzend aus unseren Händen fallen ließen, spielerisch? Du erzähltest von dir, und ich bemerkte mit heimlicher Genugtuung, dass zwei unserer Steine dicht nebeneinander ins Wasser getaucht waren, und die sich weich ausbreitenden Kreiswellen sich unablässig näherten und sich für Momente überschnitten, weit in den Bereich des anderen vorstoßend. Du hattest es auch bemerkt und kurz schauten wir uns an, ehe du, den nächsten Stein schon in der Hand rollend, weiter erzähltest.
Wir kamen uns näher mit jeder Begegnung. Du bist viele Wege vor mir gegangen, bittere und unbequeme, aber auch Wege, die dir Mut gaben, nicht stehen zu bleiben. Du hast nicht nur die einfachsten Wege gewählt, nicht die kürzesten. Den Hindernissen bist du nicht ausgewichen, du hast dich ihnen gestellt, wurdest dabei auch verletzt. Allmählich erst wurde mir klar, wie tief die Wunden waren, die man dir geschlagen hat. Einziger Schutz für dich: verstecken, verbergen. Die Maske, die den anderen nichts von dir verrät, dein Lachen, laut, unbekümmert mit einer winzigen Nuance Verzweiflung, manchmal. Du lebst so wie ich es mir oft wünschte, ein altes Haus, verträumter Garten, in allem ein bisschen anders. Aber ich spürte: irgendwie warst du nicht so zufrieden, wie ich es mir erhofft hätte an deiner Stelle. Heute ist mir klar, dass es wohl unmöglich ist, sich in gesicherter Situation, in deine Lage zu versetzen. Und du, du wolltest nicht, dass ich bemerkte, wie deine Existenz manchmal wirklich bedroht war, unsicher fast immer. Du kämpftest ja gerade um eine Entscheidung für die Zukunft: Sollte dein Studium tatsächlich umsonst gewesen sein? All die Zeit und Energie, die du dafür aufgebracht hast, vergebens? Du hattest zu dieser Zeit wenig Gelegenheit zum Lachen, und trotzdem hast du gelacht, laut wie so oft.
Ich habe dich damals bewundert. Du hast dich entschieden gegen die Meinung so vieler, du hast für dich entschieden, mutig auf mögliche Sicherheiten verzichtend. Du warst bereit, unbekannte Wege zu gehen, dich auf Neues einzulassen, um deinen Lebensunterhalt sichern zu können. Du brauchtest einen langen Atem, erst in einigen Jahren würde dein Ziel erreicht sein, auch das wusstest du.
Lange habe ich überlegt, wie ich entschieden hätte, letztlich vielleicht doch mehr für die sofortige Sicherheit, das heißt auch gleichzeitig für Langeweile, Monotonie. Dein Leben erschien mir aufregender, lebendiger, bunter als meines. Neben dir wirkte ich fad und farblos. Wer war ich schon? Sicherer Beruf, alles bisher geradlinig verlaufen, einfache saubere Wege gegangen, alles geregelt, gesichert und doch – glücklich nicht, aber wer ist schon glücklich? Ich hätte zu gerne gewusst, was du von mir dachtest, aber um ehrliche Antworten auf solche Fragen zu bekommen waren wir noch zu weit entfernt voneinander. Spürte ich doch manchmal den Abstand sich verringern, ein winziger Schritt hätte genügt, und wir wären uns nah gewesen. Doch die Zeit rannte uns davon und wir durften diesen einen Schritt nicht tun, der mir so viel bedeutet hätte.
Ein letztes Bild habe ich noch von dir, eines von deinem letzten Fest. Wir wollten uns in zwei Wochen wiedersehen, dir ging es gut, ich fühlte es und war froh mit dir. Wir trafen uns früher, unbeabsichtigt, und ob du mich noch sehen konntest unter all jenen, die gekommen waren, um dir Lebewohl zu sagen, ich weiß es nicht. Wieder bist du einen unbequemen Weg vor mir gegangen, wieder anders als andere, mitten aus einem Fest heraus. Wie sehr hoffe ich, dass du wenigstens glücklich warst, ehe du so plötzlich und vollkommen unerwartet den Weg aus dem Leben gingst, ihn unfreiwillig gehen musstest, ungefragt.
Ich weiß nicht mehr, welchem Zufall ich es verdanke, dass wir uns begegnet sind, aber noch fühle ich deine Nähe in gewissen Augenblicken, an bestimmten Orten, die für immer die Rahmen für dein Bild sein werden. Noch heute würde ich dich am liebsten anrufen, um deine Stimme noch einmal zu hören. Vergeblich: Kein Anschluss mehr möglich. Aber was ich dir in stummen Selbstgesprächen berichte, – du weißt es, davon bin ich überzeugt.
03 Sonntag Mai 2015
Posted Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur
inSchlagwörter
Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer
Die Krankenschwestern hatten sich in das Stationszimmer zurückgezogen und saßen gerade beim Frühstück. Bitte nur in dringenden Fällen stören! las ich auf dem Schild, das an der Tür hing. War ich ein dringender Fall? Davon war ich fest überzeugt, trotzdem lag mir die Angst im Magen und am liebsten hätte ich eine Toilette aufgesucht, als ich spürte wie sich diese Angst in meinem Unterleib ausbreitete. Es musste sein, dass ich klopfte und ich überwand meine Hemmung zu stören und öffnete die Tür, einen spaltbreit nur.
Eine der Schwestern erhob sich sofort und kam auf mich zu. Höflich fragte sie mich, was ich wollte. Meine Stimme zitterte, als ich ihr meinen Wunsch mitteilte, aber ich war fest entschlossen, mich nicht abweisen zu lassen.
Sie schaute mich prüfend an und sagte, dass gerade eben Besucher hier gewesen wären. Eben deshalb, schoss es mir durch den Kopf, deshalb durfte ich jetzt nicht umkehren. Ich hatte meiner Familie versprochen zu kommen und nun war ich hier, verspätet zwar, aber entschlossen zu bleiben.
Ich entschuldigte mich dafür, dass ihre Pause nun zum zweitenmal unterbrochen wurde. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, mich ständig zu entschuldigen, obwohl oft kein Grund dazu vorlag. Die Schwester war noch sehr jung und sie strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die mich ein bisschen tröstete und meine Sympathie für diese Schwester weckte. Sie nickte, holte sich einen dicken Schlüsselbund und forderte mich auf, ihr zu folgen. Schweigend betraten wir den Aufzug, der tief in den Keller führte. Mich fröstelte. Unheimlich ruhig war hier alles, kein Mensch außer der Schwester und mir. Mein Bauch schmerzte unangenehm. Verdammte Angst klammerte sich darin fest. Endlich blieb die Schwester vor einer Tür stehen, schloss auf und bat mich vorher noch zu warten, einen Augenblick nur. Gleich ist es soweit, meine Gedanken schweiften ab. Ich kannte diese Reaktion schon lange. Wenn ich Angst hatte, versuchte ich mich abzulenken. Mich störte es sehr, dass die Schwester dabei war. Ich wäre gerne allein gewesen, ganz allein, nur du und ich. Die Schwester gab die Tür frei und deutete auf das erste Bett. Mit schwachen Beinen trat ich in einen Raum, in dem ungefähr fünfzehn Betten, abgedeckt mit weißen Tüchern, standen. Blitzartig wurde mir klar, dass unter jedem Tuch ein Toter lag, jung oder alt, Mann oder Frau, ich wusste es nicht. Nein, ich durfte mich nicht ablenken lassen, ich musste zu dir.
Da lagst du nun, aufgedeckt und fast so weiß wie das Tuch, mit dem man dich bedeckte. Nicht zudeckte, nein, unter dem man dich versteckte wie all die anderen hier, die dir stumm Gesellschaft leisteten.
Beinahe hätte ich dich nicht erkannt. So fremd warst du plötzlich, das konnte ich nicht verstehen. Aber dein rechtes Auge war nicht ganz geschlossen, wie durch einen winzigen Spalt blinzelte es mir zu. Daran habe ich dich sicher wiedererkannt, dein blinzelndes Auge war mir vertraut. Deine Hände, die mir so viele Male in Kindertagen Wärme und Trost schenkten, waren nun gefaltet und nie mehr werde ich sie spüren können. Ohne Rosenkranz lagst du da, hattest nichts was dir Trost geben könnte. Die Schwester hatte gemeint, ich sollte dich erst anschauen, wenn du „hergerichtet“ wärst, dann wäre es für mich angenehmer. Aber ich wollte dich doch sehen, so wie du warst, wie ich dich kannte, schon als kleines Kind. Besonders hergerichtet warst du nie.
Als ich selbst vor Jahren im Krankenhaus lag, hattest du mir eine Rose geschenkt aus deinem Garten und ich erinnerte mich jetzt ganz deutlich daran. Diese duftende Rose von damals hätte ich dir gerne in die Hand gegeben oder wenigstens einen Rosenkranz, aber nichts hatte ich, mit leeren Händen stand ich vor dir und hatte Angst von der Schwester beobachtet zu werden oder in ein Weinen auszubrechen, das kein Ende finden würde. Nur berühren konnte ich dich ein letztes Mal und mir deinen Anblick einprägen, um ihn nie wieder zu vergessen.
Als kleines Kind fragte ich dich, was den Menschen passieren wird, die gestorben sind. Ruhig und überzeugt erklärtest du mir, dass wir uns alle im Himmel wiedersehen würden. Ich glaubte dir sofort und lange Zeit. Und jetzt, werden wir uns wiedersehen? Wer tröstet mich nun? Und wer hat dich getröstet in deiner letzten Minute. Ich war entsetzt, dass ich nicht gespürt hatte wie nahe deine letzte Minute war. Das musst du mir glauben, denn hätte ich es geahnt, ich hätte dich nicht allein gelassen.
Die Schwester wartete schweigend auf dem Flur, da riss ich mich los und verließ den Raum. Sorgfältig deckte sie dich wieder zu, verschloss die Tür und begleitete mich zum Aufzug. Sie hieß Helga und ich konnte mir vorstellen, dass sie dir auch gefallen hätte. Bevor ich den Aufzug verließ, bedankte ich mich und trat wie benommen ins Freie. Draußen blühten Rosen, dunkelrot und duftend, Rosen für dich. Ich spürte die Sonnenwärme auf meiner Haut und wusste, es war Sommer, dein letzter, und du warst tot.
02 Samstag Mai 2015
Posted Belletristik, Gedanken, Gedicht, Lyrik
inIch freue mich auf den schön gedeckten Tisch,
ein schmackhaftes Essen erwartet mich,
verlockender Duft gerät in meine Nase,
meine Stimmung steigt, ich setze mich, bereit
die Mahlzeit zu genießen,
aber
kaum stehen die dampfenden Schüsseln auf dem Tisch,
kaum habe ich den ersten Bissen gekostet,
kaum wollte ich mich am Essen erfreuen,
kaum wollte ich ein Lob aussprechen,
dann
geht es los:
in allen Einzelheiten erfahre ich,
wann das Fleisch gekauft wurde,
wo, um wieviel Uhr, zu welchem Preis,
dass die Menge viel zu viel sei,
aber trotzdem alles zu verwenden, kein Problem
in den nächsten Tagen,
das Rezept sei ganz einfach,
mache überhaupt keine Arbeit,
sei gerne zubereitet, ganz ehrlich, ganz bestimmt,
alles ohne Schwierigkeiten,
wirklich gern gekocht,
aber:
schmeckt es dir nicht,
du isst ja gar nichts, magst du das etwa nicht,
ah, du kennst das nicht, noch nie gegessen,
unglaublich, dabei so einfach zum Zubereiten.
Ich protestiere, höflich zuerst, verzweifelt,
gewiss, es schmecke vorzüglich, hervorragend.
Ich übertreibe, höflich, schätze die Einladung,
weiß, was mir erspart bleibt,
stundenlanges Stehen in der Küche,
Tisch decken, servieren, abservieren, aufräumen.
Ich würde gerne das arbeitslos errungene Essen genießen,
wäre da nicht ständig diese unterschwellige Aufforderung
übermäßiges Lob zu spenden.
Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise, alles gelungen
bis auf Kleinigkeiten:
es fehlt ein Quäntchen Aufmerksamkeit,
eine Prise Verständnis,
eine Messerspitze Humor,
ein Löffelchen Interesse,
ein Tropfen Teilnahme
ob ich noch Salz brauche,
nein danke,
mein Magen ist übersatt,
trotzdem stehe ich auf vom Tisch,
habe gegessen, getrunken
und doch
mein Heißhunger nach echter Zuwendung
ist geblieben
und ich weiß mir kein Rezept, ihn zu stillen.
Du?
01 Freitag Mai 2015
Posted Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte
inSchlagwörter
Flüchtlinge, Foto, Fotograph, Gedicht, Krieg, Kriegsberichterstattung, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Preis, Preisgeld, Psychologie
Die ersten Besucher schlenderten mit neugierigen Augen auf der Suche nach bekannten Gesichtern durch den festlich beleuchteten Saal. Vom kalten Büffet breitete sich bereits ein unwiderstehlicher Duft verlockend im Raum aus. Noch wagten die Gäste nicht, auf den bereit gestellten Stühlen Platz zu nehmen. Da tauchte plötzlich aus einem Nebenraum der Bürgermeister auf. Er wirkte etwas durcheinander, blass im Gesicht, schwenkte nervös ein Blatt in der einen Hand, das er immer wieder mit ungläubiger, ja entsetzter Miene überflog, während er ungeschickt mit der anderen Hand am Mikrofon herumzerrte, bis ihm schließlich jemand zu Hilfe kam. Endlich. Im Saal war es immer leiser geworden, das Stimmengemurmel verebbte, das Stühlerücken wurde wie auf ein unausgesprochenes Kommando eingestellt, als der Bürgermeister sich räusperte, um zu signalisieren, dass er bereit sei, den Abend zu eröffnen. „Sehr geehrte Gäste, ich begrüße Sie alle ganz herzlich. Sie sind heute Abend gekommen, um einen unserer Bürger zu ehren für seine herausragende Leistung: Der Preis für das beste Pressefoto des letzten Jahres geht – wie Sie vielleicht schon wissen – an Martin Werst, den bekannten Fotografen aus unserer Stadt. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich soeben einen Brief erhalten habe, der eine Absage unseres Ehrengastes enthält. Herr Werst bittet mich, Ihnen seinen Brief vorzulesen, und er weist ausdrücklich darauf hin, dass er Ihnen, liebe Gäste, auf keinen Fall die heutige Feier verderben will.“ Etwas verwirrt, ja nahezu verzweifelt schon warf der Bürgermeister einen flehentlichen Blick auf die erwartungsvoll ihm zugewandten Gesichter, auf die unzähligen Augenpaare, die wie blendende Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren. „Also, ehrlich gesagt“, fuhr er fort, „das kommt jetzt für mich vollkommen überraschend, und ich sehe mich gezwungen, das vorgesehene Programm in einigen Punkten ändern zu müssen. Ich hoffe dabei auf Ihr Verständnis und werde Ihnen jetzt den Inhalt dieses Schreibens vortragen.“ Die Spannung im Saal nahm zu, lastete bleischwer auf den Schultern der Anwesenden. Der Bürgermeister wischte sich unauffällig mit einem blütenweißen Taschentuch über die schweißnasse Stirn, rückte entschlossen seine Brille zurecht und bog das Mikrofon in Mundnähe. „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit“, begann er leise, zögernd und las mit allmählich fester werdender Stimme weiter. „Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Gäste, ich bin mir der Ehre, die mir mit der Einladung zu diesem Festabend zuteil wird, voll bewusst. Ganz sicher hatte ich auch vor, zu Ihnen zu kommen, um die Bürgermedaille in meinem Heimatort in Empfang zu nehmen. Wie Sie sicher wissen, habe ich mich nie gescheut, den Namen unserer Stadt, die durch ihre unheilvolle Rolle, die sie in der Vergangenheit gespielt hat, zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, in aller Welt zu nennen und mich offen als ihr Bürger zu erkennen zu geben. Natürlich hat auch unsere Stadt mehrere Gesichter, von denen weltweit leider viele Menschen nur das mit Schrecken behaftete kennen oder vielleicht auch nur dieses eine kennen wollen. Als Pressefotograf reise ich ständig in Krisengebiete, auf die ich mich, wie Ihnen sicher bekannt ist, spezialisiert habe, um mit meiner Kamera die Bilder des Schreckens einzufangen, in der Hoffnung, durch das Sichtbarmachen menschlicher Gräueltaten einen Beitrag zu deren künftiger Verhinderung leisten zu können. Vor einer Woche nun wurde mir aufgrund eines meiner Bilder ein Preis zuerkannt, ein hoher Geldpreis, über den ich mich zunächst sehr gefreut habe. Mein Name war plötzlich kein unbekannter mehr. Täglich riefen mich fremde Leute an, schrieben mir Briefe, um mit mir ins Gespräch zu kommen. So viel Rummel hatte ich nicht erwartet. Mir wurde das bald zu viel. Daran bin ich nicht gewöhnt. Meine Arbeitswelt sieht anders aus. In Krisengebieten werde ich zwar immer wieder von lähmender Angst gepackt, aber meine Arbeit zwingt mich stets aufs Neue dazu, sich der Angst zu stellen. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, fordert mich täglich dazu heraus, unentwegt auf der Suche nach einem möglichen Motiv, durch mein gläsernes Auge zu blicken, um im entscheidenden Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Auch wenn diese Suche gefährlich ist, – das Tragen einer kugelsicheren Weste verschafft mir die wohl eher klägliche Illusion, vor verirrten Kugeln geschützt zu sein – kann ich sie nicht lassen. Sie entspringt einer heimlichen, mir lange nicht eingestandenen Sucht, einem inneren Zwang: Ja, inzwischen habe ich es erkannt, es ist eine Sucht, alles, was mich bewegt, auf Bilder bannen zu müssen, festhalten zu wollen, erinnerbar zu machen. Hätte es in unserer Stadt vor vielen Jahren auch Fotografen gegeben, denen es gelungen wäre, rechtzeitig von den Gräueltaten zu berichten bzw. diese sichtbar zu machen, vielleicht wären vielen Menschen die Augen geöffnet worden, vielleicht hätte viel Unrecht verhindert werden können, wer weiß? Das alles frage ich mich manchmal, wenn ich mich in Krisengebieten aufhalte, wohl wissend, dass ich mich in einer Sonderstellung befinde: als Fremder freiwillig in einem Land, das es seinen Bewohnern nicht erlaubt, es in Frieden verlassen zu können, wann immer sie wollen. Sie werden denken: Es ist sein Job, er will es so, ein gefährliches Abenteuer erleben und dabei noch viel Geld verdienen, in der Welt herumreisen und das alles von Berufs wegen. Nun gut, werden Sie weiter sagen, eine Familie braucht so einer sicher nicht, das wäre wohl kaum auszuhalten für dessen Frau und seine Kinder, ständig in Angst und Furcht, Unsicherheit, Ungewissheit zu leben. Ständig die unausgesprochene Frage, verborgen hinter den Lippen: Kommt er zurück oder nicht? Sie haben Recht, eine Familie habe ich nicht. Ich will mich keinem zumuten. Mir genügt meine Nikon, meine furchtlose Partnerin, immer eng an meiner Seite, absolut zuverlässig, immer dabei, auf dem höchsten Stand der Technik; sie lässt mich nicht im Stich. Meine Eltern leben nicht mehr. Beide sind sie gestorben an den Folgen jener Gräueltaten, die erst zu spät auf Papier gebannt worden waren. Für mich aber war ihre Geschichte, die so eng verknüpft war mit der Geschichte unserer Stadt, von jeher der innere Motor, der mich antrieb, selbst in die Ereignisse eingreifen zu wollen, diese in der Welt publik zu machen. Keiner sollte später sagen können, er hätte nichts davon gewusst. Kein schöner Job, denken sicher auch viele unter Ihnen. Kann es Spaß machen, verzerrte Menschengesichter, ausgehungerte Kleinkinder, sterbende Soldaten, blutüberströmte Leichen zu fotografieren? Nein, ganz sicher nicht, muss ich Ihnen da antworten. Aber wie gesagt, es ist nach und nach zu einer Sucht geworden, für mich jedenfalls. Das Abstoßende, das nie fotografiert werden würde aufgrund seiner unerträglichen, unzumutbaren Hässlichkeit, es übt eine unwiderstehliche Faszination auf mich aus. Und, vergessen Sie eines nicht, ich kann genügend Abstand halten zu meinem Motiv. Dank der ausgefeilten Technik ist es mir möglich, fremden Menschen Aug in Aug gegenüberzustehen, ohne dass sie mich wahrnehmen können. Ich bleibe unentdeckt, unbeobachtet, sicher verborgen, hinter meiner Nikon, ausgestattet mit einem Teleobjektiv der Lichtstärke 2,8, der Brennweite 400 mm, mit automatischer Fokussierung. Ich zwinge, gut getarnt, das nackte Elend vor meine mitleidlose Linse, die sich nicht einen Millimeter krümmt angesichts des Wahrgenommenen, die nicht ausweicht, sondern schonungslos entsetzte Augen, aufgerissene Münder, blutende Wunden, vor Schmerz und Entsetzen verzerrte Gesichter, um Gnade bittende Hände, auf meinen Befehl, per Knopfdruck sozusagen, in meine Kamera holt, auf meinen Film bannt. Während Sie gemütlich Zeitung lesend beim Frühstück sitzen, werden Ihnen schon die entwickelten Bilder präsentiert, vergrößert und in Farbe natürlich. Während Sie genüsslich an Ihrem Kaffee nippen, mit Appetit ein Marmeladenbrot verzehren und sich am Wochenende vielleicht auch ab und zu ein weiches Ei gönnen, sofern es Ihr Cholesterinspiegel erlaubt, während Sie diese Augen im Todeskampf verzweifelt, um Hilfe flehend anstarren, werfen Sie einen flüchtigen Blick auf die Überschrift zu diesem Bild , „Schon wieder ein Massaker?“, denken Sie, „Es ist schon schlimm auf unserer Welt“, und Sie blättern gelangweilt um auf die nächste Seite, gießen sich nebenbei noch eine weitere Tasse Kaffee ein, werfen zwischendurch einen prüfenden Blick auf die Uhr und falten schließlich die Zeitung ordentlich zusammen, genug gelesen für heute. Jetzt frage ich Sie: Haben Sie sich schon einmal ernsthaft Gedanken darüber gemacht, was dieser Mensch, der Sie in seiner Todesnot so flehentlich anblickt, macht, während Sie Ihr Leben weiterleben? Sie wissen es nicht, werden Sie achselzuckend antworten. Ich aber weiß es: Dieser Mensch ist längst schon tot, während Sie noch frühstücken und ihn schon vergessen haben, oder noch schlimmer, ihn gar nicht wirklich wahrgenommen haben. Vergessen. Vergessen sein Leiden, seine Schmerzen, sein Leben mit all seinen unerfüllten Hoffnungen, seinen ungezählten Entbehrungen und Ängsten und vielleicht auch mit seinen kleinen und großen Freuden. Dieser Mensch liegt nun zusammengekrümmt, erstarrt und kalt im dreckigen Sand und, wenn er Glück hat, wirft ihm ein anderer Fliehender, sich in ähnlicher Lage Befindender, einen Schwall Sand über seinen leblosen Körper, bedeckt ihn notdürftig, versucht so seine Würde zu wahren, ehe er versucht, das eigene Leben zu retten. Vergessen Sie nicht, die gellenden Schmerzensschreie, die leisen Seufzer, das heftige Keuchen, das hohe Winseln, das durchdringende Jammern, das unermüdliche Flehen um Gnade, das inständige Bitten, das endlose Wehklagen, die barschen Befehle, die endgültigen, vernichtenden Schüsse, all das bleibt ungehört für Sie, nicht aber für mich. Zwar kümmert sich meine Linse nicht um Geräusche, dafür ist sie nicht zuständig, wohl aber reagieren meine Ohren empfindlich darauf. Ich kann sie nicht wirksam verschließen, auch mit bester Technik nicht. Diese Geräusche, diese Stimmen dringen in meinen Kopf, setzen sich dort fest und lassen sich nicht vertreiben. Ich höre sie in meinen Träumen. Registriere sie tagsüber, auch bei völliger Stille, diese anklagenden Stimmen, die mich immer wieder an die Elenden erinnern, die ich hinter meine Linse zerrte, belichtete, in Szene setzte, erbarmungslos den Augen der Öffentlichkeit preisgab und dann abrupt von mir warf, fallen ließ, wie ein Funken sprühendes Holzscheit. Ich dramatisiere. Richtig. Das war nur eines meiner Bilder, das ich Ihnen schilderte, aber nicht das, wofür ich die Auszeichnung erhalten habe. Ich nehme an, das Bild, das mit einem hohen Preis ausgezeichnet wurde, werden Sie heute Abend sehen können. Urteilen Sie selbst. Ich habe mein Urteil schon gefällt. Auf diesem Bild sehen Sie in das Gesicht eines jungen Mannes, der versucht mit verzweifelter Kraftanstrengung seinen brutalen Verfolgern zu entkommen, in einem Land, in dem es ein Verbrechen ist, ja schlimmer noch, lebensgefährlich ist, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, die von den Regierenden nicht geduldet wird. Schauen Sie sich den jungen Mann doch ruhig näher an. Geben wir ihm einen Namen, nennen wir ihn Barid. Zerfetzte, mit Blut und Schmutz befleckte Bandagen flattern um seine Knie, braun verschorfte Schrammen entstellen sein ausgezehrtes Gesicht, eine frische Blutspur weist auf die klaffende Wunde an der linken Hand, mit bloßen Füßen rennt er, rennt davon vor seinen Verfolgern, rennt direkt auf einen unserer gepanzerten Wagen zu, der – jenseits der feindlichen Linie – wartet, der ihm, scheinbar, Hilfe verspricht. Wir erkennen diese un-menschliche Anstrengung, sie ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben: weit aufgerissen die entsetzten Augen, geöffnet der ausgedörrte Mund, der mit einem heiseren Schrei um Hilfe fleht, ehe er einen keuchenden Atemzug später gefasst wird, nein zu Boden geprügelt wird von seinem Verfolger, der ihm das Gewehr zwischen die Beine rammt. Soweit das Bild. Sekunden später: Ein wirbelndes Stolpern, und der junge Mann krümmt sich am Boden. Barid ist ein Gefangener. Ich aber sehe noch ein anderes Bild vor mir, jeden Tag, jede Nacht, in allen Schattierungen, es will nicht verschwinden, verfolgt mich, brennt sich ein in mein Hirn: Barid rennt direkt auf uns Fotografen zu, schutzsuchend. Während meine Kollegen nervös werden angesichts der dramatischen Situation und der außergewöhnlichen Nähe zu unserem Motiv, reagiere ich intuitiv, ohne nachzudenken: ein prüfender Blick durch die Linse, ein routiniertes Schwenken des Objektives, ein Knopfdruck auf den Auslöser, und Barid ist gerettet, gerettet für den Film. Mein italienischer Kollege knallt die Autotür mit hilflosem Zorn wieder zu, Sekunden vorher hat er sie aufgerissen, wollte Barid Zuflucht gewähren, ihm Schutz bieten. Zu spät. Ein anderer reißt schockiert die Fahrertür auf, springt hinter das Lenkrad, fordert uns brüllend auf, einzusteigen, während schon das Gaspedal aufheult. Da werfe ich mich auch hinein in das sichere Fahrzeug, im letzten Moment, gerettet das eigene Leben. Feige flüchteten wir, überließen den wehrlosen jungen Mann seinen Verfolgern. Zum ersten Mal verspürten wir Todesangst am eigenen Leib, unsere Knie und Hände zitterten unkontrolliert, wir wagten nachher nicht, uns anzusehen. Verlegenheit stand wie eine Mauer zwischen uns und – unausgesprochen, ein Gefühl der Scham. Das Bild ist hervorragend gelungen: klar, scharf, detailliert, perfekt aus fototechnischer Sicht wohlgemerkt, aber es war mein letztes Bild und wird es auch bleiben. Vor einigen Stunden erreichte mich eine Nachricht aus einem afrikanischen Land: Ein junger Mann teilte mir mit, dass auch er das Pressefoto gesehen habe. Er kenne den jungen Mann auf dem Bild: Es sei sein Bruder, behauptete er. Weiter forderte er mich dringend auf, seinen Bruder zu retten.“ Erschöpft machte der Bürgermeister eine kurze Pause, sah in die Gesichter der Gäste, spürte wie alle ungeduldig erwarteten, dass er weiter lesen solle. Mit zitternder Hand griff er nach dem Wasserglas, das bereit stand, trank es in wenigen gierigen Schlucken leer, strich das Papier vor ihm glatt und begann erneut: „P. S.: Herr Werst, Sie haben der Welt ein Foto von meinem Bruder gezeigt, ein Foto, das ihn als Gefangenen zeigt, wehrlos am Boden liegend, der Verfolger über ihm stehend, bewaffnet, siegessicher. Ich klage Sie an, meinen Bruder nicht gerettet zu haben. Er befindet sich jetzt in einem Gefangenenlager und muss damit rechnen zum Tode verurteilt zu werden, ohne Schuld, ohne Gerichtsurteil. Können Sie mit diesem Wissen unbekümmert weiter leben, weiter fotografieren, Bilder hinterlassen, von Menschen, die schon tot sind, ehe Ihre Fotos entwickelt sind? Ich frage Sie: Sind Sie wirklich so eiskalt, so abgebrüht? Ist Ihnen menschliches Leben tatsächlich nicht mehr wert als ein Motiv für ein gelungenes Bild? Ich weiß inzwischen auch, dass Sie viel Geld dafür bekommen haben. Nun fordere ich Sie auf, nehmen Sie dieses Geld und versuchen Sie, meinen Bruder frei zu kaufen, geben Sie ihm diese winzige, letzte Chance, kommen Sie zurück in unser Land, wenden Sie sich an die Mächtigen. Ich bin sicher, Sie kennen genügend Organisationen, die Ihnen dabei helfen werden, vorausgesetzt, Sie wollen das wirklich. Sie sind nun ein bekannter Mann. Vergessen Sie nicht, Sie tragen die Verantwortung für das Leben meines Bruders, dessen Elend Sie öffentlich sichtbar gemacht haben. Sie dürfen ihn nicht einfach krepieren lassen. Sollten Sie sich weigern, werde ich dafür sorgen, dass alle Welt davon erfährt. Ich kenne viele Leute, die mir helfen werden. Seien Sie sicher, meine Freunde verstecken sich nicht feige hinter einem Teleobjektiv, sie können Sie durchaus ins Visier nehmen, allerdings nur einmal. Sie verstehen? Ich rechne mit Ihnen. Liebe Gäste, Sie entschuldigen nun gewiss meine Abwesenheit. Ich bedanke mich für Ihre Geduld und die kostbare Zeit, die Sie mir geopfert haben und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend. Ihr Martin Werst“