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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Monatsarchiv: April 2015

Zirkus

30 Donnerstag Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Gedanken, Gedicht, Lyrik

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Schlagwörter

Gedicht, Lyrik, manege, Vorstellungen, Zirkus

Der Dresseur in der Mitte,
die zu Dressierenden am Boden,
die Zuschauer auf bequemen Plätzen,
lachend, erwartungsvoll
der Dresseur darf fast alles,
befehlen, anweisen, Witze machen,
seine Opfer gehorchen freiwillig und dürfen auch fast alles,
solange die Zuschauer lachen
und sich nicht einer besonders betroffen fühlt,
der dann eingreift,
gar nicht programmgemäß,
der fragende Mienen erzeugt, mit Härte die Vorstellung stört,
den Dresseur verstummen lässt,
kurze Zeit wenigstens,
Programmunterbrechung –
alle müssen sich miteinander beschäftigen
oder im Schweigen ertrinken,
das sich kalt und ungemütlich ausbreitet,
einer verschwand,
einer der Akteure sitzt nun irgendwo außerhalb,
wartet auf seinen neuen Auftritt –
wieder Lachen, Geschrei,
alles starrt auf Dresseur und Akteure,
endlich kein Gespräch mehr notwendig,
nur Lachen erwünscht und wehe dem,
der es wagt, aus der Rolle zu tanzen,
ungefragt,
er wird böse Blicke ernten,
sich in der unbequemen Rolle des Spielverderbers wiederfinden
irgendwann
Ende des Programmes,
irgendwo
wieder Kinder statt Akteure,
irgendwer
wird sie wieder ernst nehmen müssen,
sie und ihre Probleme,
ihre Tränen, ihre Wut, ihre Ängste
auffangen und verstecken,
ehe sich der Vorhang hebt für die nächste Vorstellung,
was aber macht der Dresseur in der Zwischenzeit?

Liebeserklärung

30 Donnerstag Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte

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Schlagwörter

Katze, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tier

Gesicht

Du kommst in letzter Zeit sehr selten und dabei immer unerwartet. Oft blicke ich aus dem Fenster, horche angespannt auf die Geräusche von draußen, aber du bist nicht unterwegs zu mir. Bin ich aber in eine Arbeit vertieft, ohne einen Gedanken an dich, stehst du plötzlich vor der Tür und willst eingelassen werden. Mir selbst ist es völlig unerklärlich, daß ich mich jedes Mal freue, wenn du da bist, obwohl du keinerlei Rücksicht auf mich nimmst. Nie hätte ich gedacht, die Freiheiten ertragen zu können, die du dir gönnst. Eigentlich sollte ich dir böse sein, denn du kommst und gehst wie du willst, wann du willst. Aber ich bin es nicht. Jeden deiner Besuche nehme ich wie ein seltenes Geschenk an, von dem ich nicht weiß, was sich unter der Verpackung verbirgt. Manchmal suchst du meine Nähe, ja drängst dich in einer Weise auf, die mich dazu zwingt, nur für dich da zu sein. Deine Wärme, deine Weichheit machen mich stets nachgiebig und ich schenke dir meine kostbare Zeit, die schon längst verplant war ehe du auftauchtest. Woher du kommst ist dein Geheimnis, ebenso wohin du verschwindest. Ich akzeptiere diese Tatsache und dringe nicht in dich ein, frage nicht, forsche nicht, genieße deine Anwesenheit.

Du hast auch Launen, die ich dir kritiklos zubillige, während ich sie bei anderen schnell verabscheue.

Es gibt Tage, an denen du dir einen ruhigen Platz in meiner Wohnung suchst und dich weigerst, mit mir Kontakt aufzunehmen. Du bist einfach da und wünscht in Ruhe gelassen zu werden. Kann ich es nicht ertragen, dich nur anzusehen,  versuche ich  eine zärtliche Geste, um deine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Aber du wehrst meine Nähe ab, du bist nicht bereit, mich neben dir zu ertragen. Was bleibt mir übrig, als dich zu lassen wie du bist, will ich dich nicht verlieren.

Zufällig hatten wir uns kennengelernt. Ich hatte keineswegs die Absicht mich näher auf dich einzulassen, fürchtete neue Abhängigkeiten, neue Hoffnungen, deren Erfüllung im Ungewissen bleiben würde. Gerade war ich dabei ein wenig mehr Zeit für mich zu schaffen, ein kleines Stück Freiheit, handtuchgroß nur, aber ich konnte meine geheimsten Wünsche darauf ausbreiten. Nun kamst du und mischtest dich ungefragt in mein Leben, meldetest deine Bedürfnisse an, ohne Hemmungen. Meinen Vorsatz, dich nicht zu beachten konnte ich nur kurze Zeit durchhalten, denn jede Berührung deinerseits ließ meinen Widerstand schmelzen wie einen Eiswürfel, der versehentlich in heißen Tee gefallen war.

Wortlos stimmte ich also unserer Beziehung zu, beschloß dabei, dir deine Freiheit zu lassen und mir meine zu nehmen, wann immer ich Lust dazu hatte. Du hattest nicht dagegen protestiert. Ja, du schienst mir sogar erleichtert, denn  deine Freiheit war gesichert. Unsere lockere Beziehung lebt somit von gegenseitiger Toleranz. An manchen Tagen aber ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünschte du wärest hier und ich könnte mich an dir und deiner Gegenwart wärmen. Du aber würdest niemals auf deine Freiheit verzichten, das fühle ich ganz deutlich. Du bist ein echter Egoist. Du allein bist dir wichtig, deshalb bin ich auf der Hut und vermeide alles, was dich einschränken könnte. Eigentlich sollte ich dich laufen lassen, ohne mich weiter um dich zu kümmern.  Was also hindert mich daran? Mein eigener Egoismus? Fast befürchte ich, daß es so ist. Irgendwie habe ich mich an dich gewöhnt und nur selten, wenn ich dich streichle, versuche ich mir vorzustellen wie viele Hände du schon gespürt hast, aber ich weiß, nie wirst du mir das verraten. Auch das gehört zu deiner Freiheit. Selbst wenn sich in mir ein wenig Eifersucht regt, dann ist das mein Problem, würdest du vermutlich sagen, aber ich verrate dir nichts von meinen Gefühlen. Auch ich habe Geheimnisse.

Du brauchst dir nicht einzubilden, ich wäre auf dich angewiesen. Oh nein, ich habe einen Mann und zwei Kinder. Du siehst, du bist einer zuviel im Haus.

Aber, ehrlich gesagt, du bist einer, der trotzdem immer gerne begrüßt wird, auch wenn es gerade turbulent zugeht. Woran das liegt? Auch wenn es komisch klingt: du hast ein rotes Fell mit weißen Streifen, kannst schnurren und miauen, das genügt.

Sondermüll auf Abruf

30 Donnerstag Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte

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Schlagwörter

Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Sondermüll, Telefonseelsorge

Sondermüll

Kennen Sie mich schon? Sicher nicht, deshalb werde ich mich vorstellen. Mein Name ist A. Z., ich wohne in einer Kleinstadt, bin 40 Jahre alt und von Beruf Seelenmüllschlucker. Jetzt wundern Sie sich bestimmt. Nein, Sie haben sich nicht verhört, mein Beruf ist tatsächlich Seelenmüllschlucker.

Davon haben Sie sicher noch nie gehört,  nehme ich an. Das ist ein typischer Frauenberuf und ich bin die erste Frau, die diesen Beruf ausübt und ihn auch entdeckt hat.

Es fing alles ganz harmlos an. Interessiert es Sie? Dann hören Sie gut zu.

Vor einigen Jahren noch war ich nur innerhalb meiner Familie aktiv. Bei einem Ehemann und zwei Kindern gab es schon eine Menge seelischen Problemmüll zu schlucken und rief dann erst die Schwiegermutter an, war ich zusätzlich sehr gefordert. Wenn diese ein seelisches Tief hatte, wählte sie einfach meine Nummer. Kaum hatte ich den Hörer abgehoben, konnte ich schon an ihrer leisen gleichförmigen Stimme erkennen, dass es ihr schlecht ging. Nach kurzem hin und her, einigen allgemeinen Fragen der Höflichkeit halber, rückte sie dann endlich heraus mit ihren Problemen.

Mal war es ihr eigensinniger Mann, mal sein stets kläffender Hund oder ihr miserabler Gesundheitszustand, der mir durch deutliches Husten in den Hörer demonstriert wurde. Und ich, was machte ich?

In meiner Anfangsphase, unerfahren noch, überlegte ich mir für jedes  noch so kleine Problem eine ernsthafte Lösung. Versetzte mich dazu in die Lage aller Beteiligten, um die beste Lösung zu finden. Kaum hatte ich sie der Leidgeplagten mitgeteilt, bekam ich zu hören, dass das ja alles nicht so einfach sei wie ich mir das vorstellte.   Nun gut, im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mich zurückzuhalten, denn alle meine Versuche, Probleme zu lösen scheiterten kläglich. Nachdem ich mir oft tagelang den Kopf zerbrochen hatte über Probleme anderer, stellte ich überrascht fest, dass es denen nach dem Abladen bei mir längst schon wieder besser ging. Nie, aber auch nie wurde ein Angebot meinerseits angenommen.

Solche Erfahrungen machte ich mit vielen Menschen. Wer in einer seelischen Notlage war, rief mich an und ehe ich von meinen Schwierigkeiten, dies es natürlich auch gab, erzählen konnte, war das Gespräch schon beendet.

Allmählich erkannte ich, dass ich scheinbar ungeahnte Fähigkeiten habe. Vielen Menschen genügt es einfach, wenn sie ihren seelischen Müll abladen können, ohne Ratschläge zu bekommen, die meistens unbequem sind und ohne sich rechtfertigen zu müssen. Da entstand in mir diese Idee, mich auch außerhalb meiner Familie als Seelen­müllschlucker zu betätigen.

Als erstes setzte ich ein Inserat in die Zeitung. Es hatte folgenden Wortlaut:“ Wohin mit Ihrem seelischen Problemmüll? In den Müllschlucker damit. Umwelt- und persönlichkeitsschonendes Recycling wird garantiert. Absolut ungefährlich, vollkommen un­schädlich und anonym. Rufen Sie an und laden Sie ab.“

Die freundliche Dame, welche meinen Text aufnahm, schaute mich dabei immer wieder merkwürdig an. Ich versuchte möglichst unbefangen zu wirken  und es glückte mir sogar, sie anzulächeln, was ihren Eindruck, dass ich verrückt sei wahrscheinlich erst recht verstärkte. Sicher vermutete sie eine neue Art von Telefonsex oder ähnlichem, nehme ich an. Aber das war mir vollkommen egal. Ich musste endlich wissen, ob ich mich tatsächlich als Seelenmüllschlucker eignete.

Nun begann das Warten, tagelang. Bei jedem Telefonanruf raste ich wie wild zum Apparat, hob ab, sprach besonders freundlich in den Hörer und jedes Mal war ich enttäuscht und doch zugleich auch erleichtert, wenn ich bekannte Stimmen vernahm.

Aber – ungefähr nach einer zermürbenden Woche war es tatsächlich so weit:

Eine aufgeregte Frauenstimme fragte zaghaft, ob meine Anzeige auch bestimmt kein Scherz sei. Ich versicherte ihr so liebenswürdig wie möglich, dass es ein durchaus seriöses Angebot sei mit dessen Hilfe sie ihren Seelenmüll endlich loswerden könne. Nach einigem Zögern  und mehrmaliger Ermunterung meinerseits, gelang es ihr dann doch, mir zu berichten, was sie so bedrückte. Aufmerksam, ohne die Frau zu unterbrechen, hörte ich ihr zu. Am Ende wollte sie wissen, ob ich nun helfen könnte. Eindringlich erklärte ich ihr, dass sie soeben eine Unmenge Müll von ihrer Seele geladen hatte. Nun wäre sie auch wirklich davon befreit und bald würde es ihr besser gehen.

„Stellen Sie sich vor, Ihre Probleme sind jetzt von mir geschluckt,  also freuen Sie sich.“

„Das ist alles ?“ fragte sie ungläubig. „So einfach ist das und ich hatte so lange damit gezögert.“

„So einfach ist das,“ bestätigte ich, „und sollten Sie wieder Problemmüll haben, meine Nummer kennen Sie nun ja.“

Erleichtert dankte sie und erkundigte sich noch nach den Kosten für die ungewöhnliche Art der Müllbeseitigung. Das allerdings hatte ich mir damals noch nicht so richtig überlegt und deshalb verlangte ich erst einmal eine beliebige Spende auf mein Konto.

Meine Damen und Herren, viele von Ihnen sehen mich zweifelnd und spöttisch lächelnd an. Oh, ich kann Ihre Gedanken beinahe lesen. So eine verrückte Spinnerin werden Sie denken. Aber meine Damen und Herren, ich bitte Sie meiner Geschichte noch etwas Aufmerksamkeit zu schenken, ehe Sie ein endgültiges Urteil darüber fällen.

Mein neuer Beruf war also geschaffen. Seit diesem. eben geschilderten Tag, klingelte mehrmals in der Woche das Telefon. Immer stand ich bereit, ob die Kinder gerade schrien, sich prügelten, das Essen eben verbrannte, weil ich es nicht mehr rechtzeitig vom Herd ziehen konnte. Egal, ich war stets pflichtbewusst, stand am Telefon, hörte zu und schluckte.

Ich sehe, Sie sind nun doch etwas neugierig geworden und wollen wissen, was ich da alles schlucken musste. Da ich vollkommen anonym arbeite, fällt es mir leicht, Ihnen einige Beispiele genauer zu beschreiben.

Stellen Sie sich also vor, es rufen Frauen und Männer an, verschiedener Herkunft, verschiedenen Alters und mit verschiedenen Berufen. Raten Sie kurz, ob häufiger Frauen oder Männer anrufen. Wie – Sie meinen, natürlich mehr Frauen, da diese bekanntlich  dazu neigen, öffentlich über ihre Probleme zu reden. Ich muss Sie allerdings enttäuschen, denn tatsächlich sind es mehr Männer die abladen. Sie fragen sich: warum?

Das ist ganz leicht zu erklären. Wie wir alle wissen, müssen in unserer Gesellschaft die Männer den starken Mann spielen, d.h., sie dürfen keine Schwierigkeiten und Probleme haben. Sollte ein Mann aber erkennen, dass er nicht dem geforderten Idealtyp entspricht, eben weil er Probleme hat, was macht er dann?

Selten zieht er es vor, schweigend zu leiden. Meistens versucht er, seine Frustrationen innerhalb der Familie gegenüber den Kindern oder seiner Partnerin durch aggressives Verhalten loszuwerden.

Die Stimmung in der Familie wird dadurch nicht besser, seine eigene letztlich auch nicht, also wieder Frustration und Aggression usw. Diese Theorien kommen Ihnen sicher bekannt vor.

Dieser unheilvolle Teufelskreis muss also deshalb unbedingt unterbrochen werden, um zu verhindern, dass seelischer Problemmüll sich bei Verwesungsprozessen in gefährliche aggressive Strahlung verwandelt, die Mensch und Umwelt zerstört.

Indem ich nun den Problemmüll für andere schlucke, helfe ich somit den Teufelskreis zu durchbrechen. Gerade Männern, so konnte ich immer wieder feststellen, verschafft meine neue Methode spürbare Erleichterung, da niemand zu erfahren braucht, wie verzerrt das Idealbild vom starken Mann in Wirklichkeit oft ist.

Welche Männer das sind, wollen Sie nun wissen. Also überwiegend sind es Männer, die unzufrieden mit ihrer beruflichen Karriere sind. Häufig befürchten sie arbeitslos zu werden, leiden dabei unter sog. Katastrophenangst, d.h. sie sehen ständig schwarz und vergessen darüber, sich über die angenehmen Seiten ihres Lebens zu freuen.

Andere wiederum leiden unter ihren Partnerinnen, weil sie nicht dem männlichen Idealtyp von Frau entsprechen. Sie fühlen sich laufend von ihnen unterdrückt und nicht ausreichend geschätzt, obwohl sie doch in harter Arbeit das tägliche Brot verdienen. Abends, wenn sie müde und erschöpft auf die bequeme Couch sinken können sie sich unmöglich noch um ihre Familien kümmern. Genau das aber erwarten, zum Entsetzen der Männer, ihre Partnerinnen. Deren Vorwürfe werden entschieden zurückgewiesen, da sie vollkommen absurd und total ungerechtfertigt sind. Warum aber wollen die Männer dann doch per Telefon abladen? In mir regt sich leise die Hoffnung, dass da ein schlechtes Gewissen vielleicht die treibende Kraft sein könnte.

Langsam wird es einigen der anwesenden Herren ungemütlich, stelle ich fest. Keine Angst, ich werde gleich von den Frauen reden, die mich in Anspruch nehmen.

In erster Linie handelt es sich dabei natürlich um die Frauen der leidgeplagten Männer. Diese schildern nun die Situation aus ihrer Sicht und nennen Probleme wie z. B fehlendes Interesse des Mannes an der Familie, keine Beteiligung bei der Erziehung gemeinsamer Kinder sowie das Schreckgespenst der drohenden Arbeitslosigkeit, welches die Familie ständig in Angst vor dem Sozialamt versetzt. Zusätzlich leiden diese Frauen an der fehlenden Wertschätzung seitens ihrer Partner. Täglich rackern sie sich ab, spielen Putzfrau, Packesel, Nachhilfelehrer, Kindermädchen und Krankenschwester, alles ohne jeglichen Verdienst, ohne Überstundenvergütung und ohne Urlaub. Dabei fordern sie nur die Anerkennung ihrer Männer .

Auch dieser Problemmüll muss selbstverständlich umgehend beseitigt werden ehe ein neuer Teufelskreis zustande kommt. Ich schlucke also unaufhörlich und schaffe so wieder saubere Beziehungen zwischen den Partnern, entlaste und bereinige, sozusagen. Das unbegrenzte Schlucken fremden Problemmülls brachte mir selbst mit der Zeit erhebliche Probleme. Leider musste ich erkennen, dass mein Fassungsvermögen nicht unbegrenzt war.

In der Anfangsphase hatte ich oft wilde Träume, sah mich auf qualmenden stinkenden Abfallhalden herumsteigen und all den Müll, den ich geschluckt hatte unter großen Anstrengungen wieder herauswürgen. Nicht das Schlucken erschien mir als Hauptproblem, sondern die Wiederaufbereitung. Wie gelang es mir, den seelischen Müll umzuformen in positive geistige Energien und stabile Charakterfähigkeiten, aus denen er meiner Meinung nach vermutlich durch Fehlverhalten entstanden ist? Noch fehlte mir die entscheidende Idee. Schweißgebadet wachte ich jede Nacht auf und war geplagt von schweren Hustenanfällen, die mich hartnäckig am Einschlafen hinderten.

Wohin nun mit diesem Müll? Diese Frage geisterte ständig in meinem Kopf herum. Fast wollte ich schon aufgeben, fühlte mich aber in meinem Beruf bestätigt durch erste finanzielle Erfolge, die sich überraschend schnell eingestellt hatten. Ich wurde also gebraucht, durfte deshalb nicht aufgeben. Täglich spazierte ich auf verschiedenen Müllhalden herum, in der heimlichen Hoffnung auf eine brauchbare Lösung des Müllproblems. Ständig verglich ich meinen seelischen Müll mit dem sog. klassischen Müll, der hier stinkend und verwesend herumlag. Aus der Bücherei holte ich mir unzählige Bücher zum Thema Müll, wurde fast schon Müllexperte, aber das Thema Seelenmüll fand ich leider in keinem einzigen Buch erwähnt.

Endlich, wie aus heiterem Himmel, hatte ich sie gefunden, die Lösung meines Müllproblems. Nach einer sehr strapaziösen Woche, in der es viel zu schlucken gab, begann ich nach jedem Anruf, den Müll zu sammeln, d. h. ihn aufzuschreiben auf lose Blätter. Im Laufe der nächsten Wochen hatte ich eine richtige Sammlung von Problemmüll verschiedenster Art angelegt.

Jetzt wurde es spannend, denn bald würde sich erweisen, ob meine geplante Lösung auch wirklich funktionieren würde. Ich besorgte mir ein Vorlesungsverzeichnis der nächsten Universität und notierte mir alle Vorlesungen im Fachbereich Psychologie. Jedem der Dozenten schickte ich nun eine Kopie meiner inzwischen sehr umfangreichen Sammlung und wies daraufhin, dass dies eine bisher noch nie da gewesene einzigartige Möglichkeit sei, seelische Probleme der aktuellen Gegenwart zu erfahren und ungehindert studieren zu können.

Von einem einzigen Dozenten wurde ich daraufhin angeschrieben und ich sollte ihm meinen neuen Beruf exakt schildern, was  ich denn auch ausführlich tat. Er war sofort von meiner Idee fasziniert und wollte meine Sammlung gerne behalten und laufend ergänzen. Wir vereinbarten ein nicht zu geringes Honorar und ich hatte es endlich geschafft, meinen Seelenmüll umweltschonend zu recyceln. Der Professor aber konnte jederzeit im Seelenmüll wühlen und anhand lebensnaher Problemfälle die psychologischen Fähigkeiten seiner Studenten testen.

Ich aber konnte wieder eine Menge neuen Problemmüll schlucken, ohne daran ersticken zu müssen.

Nun, werte Damen und Herren, wie denken Sie jetzt über die Funktion eines Seelenmüllschluckers? Mir scheint, seine reinigende Wirkung im zwischenmenschlichen Bereich überrascht Sie. Übrigens, neuerdings schlafe ich wieder ohne Müllhaldenträume und die quälenden Hustenanfälle sind auch verschwunden.

Josephine an Josephine

29 Mittwoch Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein

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Muster3

Heute sind wir uns begegnet. Gleichgültig dein Blick, da war kein erkennendes Zucken deiner Augenbrauen, da war nur dein düsterer Blick, du kennst mich nicht. Freilich, du kannst  nicht ahnen, dass du für mich von Bedeutung warst, nein, woher auch. “Diskretion, bitte Abstand halten”, war auf dem Schild zu lesen, an dem du grau und schwerfällig an mir vorbeigingst, während ich die Anweisung des Schildes beachtend, nicht zu nahe an die Kasse in der Bank herangetreten war. Du hattest deine Angelegenheit geregelt. Lange schon habe ich dich nicht mehr so nahe gesehen. Wir sind beide älter geworden, deutlich und un­verkennbar. Aber ich denke, es muss endlich einmal gesagt werden, was dein Name, deine Person in mir prägte. Diskretion, ich weiß. Nicht für dich ist es wichtig, sondern für mich. Deshalb werde ich dir diesen Brief schreiben. Dein erstauntes Gesicht sehe ich bereits vor mir. Verständnislos wirst du den Kopf schütteln, wenn du erst den Inhalt kennst.

Nach so vielen Jahren muss es endlich einmal gesagt werden, wie ich darunter gelitten habe, den gleichen Namen wie du zu tragen. Du hast damit eigentlich nichts zu tun. Du – einige Jahre älter als ich, wohntest zufällig ein paar Häuser weiter, warst zufällig die Tochter eines Bäckers. Von klein auf kannte ich dich, deinen Namen, deine unförmige Gestalt, deine mit Binden bandagierten Beine, deine Rolle in der Bäckersfamilie: billige Kindsmagd und Haushälterin. So dachte ich, weil andere so dachten. Vielleicht warst du glücklich, trotz deiner Krankheit – oder war es ein Unfall, der deine Beine nie ganz heilen ließ? Vielleicht warst du dankbar, dass du weiterhin in der Familie bleiben konntest und die Kinder der anderen, die du aufgezogen hast, gaben dir mit kleinen Gesten zu verstehen, was Liebe sein kann. Zärtlichkeit zum Beispiel. Eine abgerissene Blume, zum

Riechen unter deine Nase gehalten. Fieberheiße Gesichter, die darauf warteten von deiner rauen ungepflegten Hand gekühlt zu werden. Erste Worte, die dich aus dem farblosen Alltag auf einer Welle unbekannten Glücks emporhoben, sekundenlang nur. So könnte es gewesen sein, aber auch ganz anders.

Mitleid hat dein Name stets in mir erzeugt, Mitleid und stumme Abwehr. Ich, die ich denselben Namen trug, wollte nicht auch dasselbe Schicksal mit dir teilen. Ich hasste meinen Namen, der Gott sei Dank, nur mein zweiter war. Niemand konnte das verstehen. Der Grund blieb mein Geheimnis. Ahnte ich doch, zu all meinen Befürchtungen auch noch ausgelacht zu werden von jenen, denen ich diesen Namen verdankte. Josephine. Da tauchte stets dein Bild auf.

Es gab einzelne schreckliche Momente während meiner Schulzeit. Selten wurde mein zweiter Name erwähnt. Sicher aber an einem bestimmten gehassten Tag, dem Tag der Sparkassenentleerung. Innerlich gewappnet, nahm ich mir vor, völlig gleichgültig, ja unbeteiligt zu reagieren, wenn ein fremder Herr am Pult stand und ahnungslos laut meine beiden Vornamen in die Klasse hineinrief. Gleich einem Spießrutenlauf musste ich aufstehen, quer durch das Zimmer gehen, um mein Sparkassenbuch wieder zu erhalten. In Sekundenschnelle verwandelte ich mich in deine Gestalt, wurde hässlich, unförmig und bewegte mich humpelnd auf bandagierten Beinen vorwärts. Josephine wurde zum Zauberspruch einer unerwünschten, ja gefürchteten Verwandlung. Meine Kinderaugen nahmen ein  Entsetzen bei den  Mitschülern wahr, obgleich diese nur müde und gelangweilt kurz die Köpfe hoben, nichts ahnend von meiner angstvollen Hilflosigkeit. Beschämung breitete sich aus in mir: auf keinen Fall wollte ich dir gleichen vor allen anderen. Niemand sollte mich erkennen in deiner Gestalt.

Heute kann ich darüber lächeln, heute möchte ich bedauern, dass ich mich geschämt habe dir zu gleichen. Außer unseren Namen gibt es wohl kaum Gemeinsames zwischen uns. Obwohl ich überzeugt bin, meinen Namen endlich ohne Hintergedanken aussprechen zu können, trifft mich jedes Mal, wenn ich dich erlebe, ein längst vergessener Schmerz, das zarte Pochen einer fast verheilten Narbe.

Ich sehe dich mit aufgestützten Armen an warmen Sommerabenden aus dem weit geöffneten Fenster blicken, die Straße beobachtend. Einen deiner Gedanken hätte ich gerne gewusst, einen deiner Träume, von denen ich hoffe, du hast noch welche, hätte ich gerne gekannt. Ein Gespräch hätte ich mir gewünscht. Aber wozu? Um Abstände zu verringern, die jahrelange Gedankenströme gegraben hatten. Ohne Rücksicht auf Diskretion, einfach miteinander reden können, befreiend wäre das. Für mich – aber auch für dich, die du stumm und nichtsahnend dort oben am Fenster lehnst?

Habe ich dich jemals lachen gesehen? An deine Stimme kann ich mich nicht erinnern. Wer hätte sie wohl auch gerne gehört? Den fremden Kindern vielleicht warst du Vertraute, Verbündete, manches Mal. Deine Stimme mag sie getröstet, beruhigt haben, wenn sie zu dir eilten mit kurzen schnellen Schritten und hoffnungsfroh ihren frühen Kummer vor dir ausschütteten, ihn wie Sandkörner aus ihren verbeulten Eimern rinnen ließen, dir zu Füßen, ein Häufchen Kinderelend. Du aber warst längst anderen Kummer gewöhnt, du wusstest längst vom Augenblick des Kinderkummers, während dein eigener ein zäher, klebrig haftender Kummer war, durch nichts zu entfernen, außer durch Worte, teilnahmsvolle vielleicht. Nie aber erschienst du den anderen

liebenswert, nie hat man sich um dich bemüht, außer in fremden Krankenhäusern, in die du freundlich aufgenommen wurdest, um  sie bald wieder zu verlassen, eine Hoffnung ärmer, deine Beine konnten nicht geheilt werden. Wieder zurück wusstest du, es hätte alles anders sein können. Gespräche, Bemühen umeinander  wären möglich, aber auch hier war die Hoffnung vergeblich, musste leise unter nie geweinten Tränen heimlich begraben werden.

Du warst  einfach da, nur für andere, zum Gebrauch bestimmt wie ein Besen, den man in eine Ecke stellen konnte, wenn er nicht mehr gebraucht wurde, jederzeit  griffbereit. Ein Aschenputtel warst du, bist es immer noch, denn da war kein Königssohn, der dich erlösen konnte und es wird auch weiterhin keiner unterwegs  sein zu dir, die du Hilfe so nötig hättest.

Immer seltener begegnen wir uns, immer mehr gleichst du einem Schatten, farblos, verschwommen. Aber noch gibt es dich, dein Leben.

Josephine. Sie schreien, aber du kommst nicht. Du willst nicht. Deine Beine tragen dich nicht mehr. Das Gewicht jahrelanger Verachtung drückt dich nieder, lähmt dich. Du hast es satt, Josephine zu heißen, Josephine zu sein. Dieses Mal wirst du liegen bleiben. Endlich. Du hast es satt, so lange schon. Jetzt erst merkst du es, was du lange nicht hast wissen wollen, du wirst ausgenutzt, benützt, bist nur ein billiger Gebrauchsgegenstand.

Josephine, du probst  den Aufstand gegen sie, zum ersten Mal. Du lässt sie schreien. Immer ärgerlicher, drohender klingen ihre kalten Stimmen. Sie stehen fassungslos da. Musstest du erst verschwinden, ehe sie dich wahrnehmen konnten? Jetzt erst, da ihr Schreien sinnlos ist, jetzt erst wirst du lebendig für sie. Schreckliche Gedanken machen sich selbstständig, toben durch ihre Köpfe, gefährlichen Geschossen gleich.

Josephine. Ruhig wirst du in deinem Bett liegen bleiben, wirst die Wärme genießen, die deinen kranken Körper streichelt, minutenlang  wirst du  Macht besitzen, Macht über sie. Orkangleich nähern sich ihre Stimmen, Augenblicke später wird die Tür aufgerissen.

Du liegst im Bett, schweigend. Ihre Verachtung wird zurückkehren, sofort, wird jene zarten Wellen des Mitgefühls verebben lassen in ihrer neu aufkeimenden Wut über dich, die  du es gewagt hast, dich zu wider­setzen. In deinen Augen aber wird sekundenlang – den anderen unbemerkt –  ein winziger Funken Triumph aufleuchten, langsam verglimmend. Josephine. Dein Sieg wird dir unvergessen bleiben. Ein Blitzsieg, augenblickslang nur, kostbarer Glücksmoment, unzerstörbar. Für Sekunden warst du ihnen wertvoll, da nicht vorhanden, da nicht verfügbar.

Ich mische mich in dein Leben ein, wirst du sagen, mit welchem Recht wirst du fragen. Allein unsere Namensgleichheit bringt uns nicht näher. Josephine. Sind auch unsere Namen gleich, nicht aber unsere Leben, in denen wir einzigartig und unverwechselbar dahin ­­­treiben wie auf einem  trägen, manchmal auch unerwartet reißenden Strom von  Zufällen, unvorhersagbar, bedeutungsschwer.

Du hast Recht. Dein Leben geht mich nichts an. Dieser Brief wird dich nie erreichen, dich nie unnötig verwirren. Wir aber werden uns weiterhin begegnen, uns grußlos, teilnahmslos gegenüberstehen. Vielleicht war unsere letzte Begegnung vor dem Schild „Abstand halten, Diskretion“  einer jener  Zufälle. Vielleicht soll es so bleiben, nicht Josephine an Josephine, sondern Josephine neben Josephine, ganz diskret Abstand wahrend, jegliche Gefühle erstickend.

Heute Abend, um acht

29 Mittwoch Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte

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Schlagwörter

Bahnfahrt, Kurzgeschichte, Verdächtigung

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Endlich. Sie saß im Abteil. Den Koffer sicher im Netz über ihrem Platz verstaut, genoss sie den Blick aus dem Fenster. Alleinsein: Ein Abteil ganz für sich zu haben, Zeit zum Nachdenken, zum Träumen, zum Pläneschmieden. Alles wollte sie in Zukunft anders machen, aber darüber wollte sie jetzt noch nicht nachdenken, wollte nur den Blick auf die Landschaft genießen, erwartete den ersten Ruck des Zuges, freute sich darauf wie ein kleines Kind. Und tatsächlich, kaum merklich kam der Zug ins Rollen, sie spürte die beruhigende gleichförmige Bewegung, deren Vibrieren sich  in ihrem Körper fortsetzte. Sie war unterwegs, unterwegs nach Hause. Einen Tag früher als geplant war sie entlassen worden. Sie hatte keinem Bescheid gesagt, wollte ihren Mann überraschen, ihm die lange Anreise ersparen und sich selbst die Zugfahrt gönnen. Das Krankenhaus lag hinter ihr. Sie begann sich wohlzufühlen, schmiegte sich in die Polster und ließ die Landschaft wie einen Stummfilm vorbeiziehen, erkannte Fahrzeuge in weiter Entfernung, sah einzelne Gestalten sich auf den Feldern bewegen, weit weg, versuchte, sich die Namen der einzelnen Bahnstationen einzuprägen, notierte in ihren Gedanken die Namen von Ortschaften, die sie speichern wollte für später, für irgendwann einmal, wozu auch immer. Sie sammelte ausgefallene Ortsnamen wie andere Schmuck oder Briefmarken, erfreute sich am Klang origineller Namen wie Apfeldorfhausen oder Weibersbrunn. Ganz versunken in die bewegten Bilder vor ihrem Fenster bemerkte sie erst, dass sie nicht mehr allein im Abteil war, als sie das Geräusch, der sich schließenden Tür vernahm. Sie blickte kurz auf und nickte der jungen Frau zu, die ihr schräg gegenüber Platz genommen hatte. Keine Reaktion. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. Schade, das Alleinsein war vorbei. Sie fühlte sich gestört durch die Anwesenheit dieser fremden Person, die es nicht einmal für nötig hielt, ihren Gruß zu  erwidern. Aber eigentlich sollte sie dennoch zufrieden sein. Noch waren nicht mehr Plätze besetzt. Die Bahn war schließlich für alle da. Ein Rascheln. Erneut wandte sie den Blick in die Richtung der jungen Frau, die inzwischen in einer Zeitschrift blätterte. Unauffällig warf sie einen Blick darauf, erkannte überrascht Worte in italienischer Sprache, vermutete, dass die Fremde in „Adesso“ las, einer Zeitschrift, die auch sie gerne las, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Ein Hauch von Sympathie und Neugier berührte sie. Anscheinend hatten sie ein gemeinsames Interesse: Italienisch. Das Zuschnappen eines Brillenetuis ließ sie automatisch zu der jungen Frau hinüberblicken. In einer Momentaufnahme erfasste sie mit ihrem „Künstlerblick“ rasch deren Gestalt: Die Frau war hübsch. Sie war jung. Schlanke Figur. Modern gekleidet. Unauffällig geschminkt. Faltenlos das Gesicht. Eine Puppe, deren perfektes Äußeres nichts über ihr Innenleben verriet? Stopp. Vorsicht war geboten. Sie war doch gegen billige Vorurteile. Zum Malen forderte ihr glattes Gesicht allerdings nicht auf, bot es doch zu wenige Konturen, zu wenige Schattenseiten, zu viel Licht. Aber sie hatte ja nicht vor, ein Porträt zu machen. Warum sollte sie auch? Wieder versuchte sie sich auf das Draußen zu konzentrieren, die fremde Person zu ignorieren. „Hallo, ich bin’s.  Ja, ich sitze im Zug, ganz  wie geplant. Ich hoffe, heute Abend klappt es mit unserem Treffen. Um acht Uhr, wie vereinbart. Ach, du hast Plätze reservieren lassen beim Griechen. Moment, im Olympia, sagst du. Okay. Wunderbar. Ja, ja. Also gut. Versuchen wir es. Hast du heute schon im Krankenhaus angerufen? Nein? Wie? Gestern hieß es, sie sollte übermorgen entlassen werden.“ Mit geschlossenen Augen lauschte sie unfreiwillig dem Gespräch. Sie hasste diese Handy-Leute, die, egal wo sie sich befanden, ihr Handy zückten, um so, völlig ohne jegliche Diskretion die Umstehenden an ihren meist nichts sagenden und – ihrer Meinung nach – vollkommen überflüssigen Gesprächen teilnehmen zu lassen, bzw. diese förmlich zum Zuhören zwangen, weil ihnen in überfüllten Abteilen oft keine Ausweichmöglichkeit blieb. Unfreiwillig wurde man somit zum Zuhören verdammt. Sie hätte aufstehen und das Abteil verlassen können. Gewiss. Sie hätte die Fremde bitten können, woanders ihre Gespräche zu führen. Sicher. Sie war immer noch zu schüchtern, wollte nicht unhöflich sein und außerdem, an dem Gespräch hatte sie etwas stutzig gemacht. Krankenhaus und entlassen? Genau das traf auf sie zu. Konnte es sein, dass der Gesprächspartner der jungen Frau ihr Mann war? Sie erstarrte plötzlich. Nein. Doch. Vollkommen absurd. Wie käme ihr Mann, ihr eigener Mann dazu, sich mit dieser unbekannten  Schönen zu treffen? Immerhin, sie war wochenlang weg gewesen, im Krankenhaus, auch sie sollte nach Aussagen der Ärzte erst morgen entlassen werden. Aber was keiner wusste: In der Nacht war plötzlich ein Bett benötigt worden und so durfte sie eher gehen. Wer sagte denn, dass das Gespräch mit einem Mann geführt worden war? Es könnte sich ja auch um ein Treffen von … zum Beispiel zwei Freundinnen handeln, oder? Es könnte ja die Mutter gemeint sein, die aus dem Krankenhaus zurückkommt? Zu spät. Das strahlende Gesicht der Fremden, verräterisch. In ihrem Gehirn hatte sich der Gedanke längst schon fest gebohrt, steckte dort drin wie ein Angelhaken, messerscharf, mit einem Widerhaken versehen, der sich nicht mehr ohne fremde Hilfe und größere Verletzungen entfernen ließ. Mein  Mann hat ein Verhältnis mit dieser jungen Schönen. Unentwegt wiederholte sie stumm diesen Gedanken. Drehte und wendete ihn wie eine heiße Kartoffel. Nein. Sie glaubte es einfach nicht. Und doch, sie wäre sicher nicht die erste ahnungslos hintergangene Ehefrau. „Wie es dann mit uns weitergehen soll? Wo, denkst du? Bei mir? Nein, meine Vermieterin ist eine üble Schwätzerin. Du würdest nicht unbemerkt in meine Wohnung gelangen und vor allem, da kannst du sicher sein, spätestens am Morgen würde sie dir auflauern. Das geht sie nichts an? Natürlich nicht, nein, aber sag du ihr das doch. Woher ich das weiß? Ach so, du glaubst doch nicht  …? Unverschämt? Du findest mich unverschämt? Also hör mal, bilde dir bloß nichts ein. Ich bin immerhin ungebunden, wie das so schön heißt. Und du kannst dir sicher sein, ungebunden werde ich auch bleiben. Von dir jedenfalls lasse ich mich nicht binden.“ Die junge Frau starrte wütend aus dem Fenster, vorbei an der anderen, die tat, als wäre sie völlig unbeteiligt. Entschlossen packte sie ihr Handy zurück in die Tasche, griff zerstreut nach der Zeitschrift, blätterte abwesend darin. Es war doch ein Mann, mit dem sie sich treffen wollte, heute Abend, acht Uhr, im Olympia, einem griechischen Restaurant. Sie kannte es. War oft und gerne mit ihrem Mann dort gewesen. Sie kannte auch ihren Mann, dachte sie, hatte geglaubt ihn zu kennen, bisher. Während in Sekundenschnelle Erinnerungen an vergangene glückliche Stunden jäh aufflackerten, schraubte sich der Gedanke unerbittlich immer tiefer in ihren Kopf, lautlos, schmerzvoll: Mein Mann betrügt mich. Mein Mann betrügt mich. Mein … Der Schmerz begann sich auszubreiten, überschwemmte ihren Kopf wie eine Flutwelle, trat über die Ufer, benetzte die Schläfen, verkrampfte den Nacken, spannte die Schultern. Alle Anzeichen eines nahenden Anfalls, plötzlich wieder spürbar. Hatte sie die langen Wochen umsonst im Krankenhaus zugebracht? Ein Rückfall, so schnell? Genügte ein einziger Gedanke? Verzweifelt  presste sie ihre Hände an den Kopf, drückte kräftig gegen die Schläfen, massierte den Nacken, versuchte den Schmerz weg zu pressen, den Gedanken zu ersticken. Mein Mann betrügt mich. Mein Mann betrügt mich. Mein Mann betrügt mich. Mein Mann … „Ach, du bist es wieder. Na, inzwischen beruhigt? Ich soll nicht so hart sein mit dir, ausgerechnet ich … Also, du siehst ein, dass wir uns woanders treffen sollten. In Zukunft, das hast du schön gesagt. Du meinst tatsächlich, es gibt eine Zukunft für uns? Ach, vergiss es, war nur so dahin gesagt, darüber reden wir später weiter, in Zukunft …“ Der Ärger im Gesicht der Schönen schien verflogen, Belustigung trat an seine Stelle. Die spielt mit dem. Geschieht ihm recht. Böse Gedanken tauchten auf einmal auf, ballten sich haufenweise zusammen wie düstere Wolken, die am Abend eines schwülen Sommertages ein Gewitter ankündigten. Sie wollte es ihm heimzahlen, spürte auf einmal neue, bisher ungekannte Energieströme durch ihren Körper fließen, vergaß den Kopfschmerz, sann auf Rache. Rache und Genugtuung. Wie hatte er sich  fürsorglich um sie gekümmert, sie so oft – trotz des weiten Weges – besucht, ihr Geschenke mitgebracht, sie zärtlich getröstet, wenn Rückfälle auftraten, ihr versichert, wie sehr er sie liebte, auch mit den Kopfschmerzen, von denen sie sich nie endgültig würde befreien können, so jedenfalls sagten die Ärzte. Die Häufigkeit der Anfälle könnte reduziert werden, die zeitlichen Abstände könnten vergrößert werden. Das waren die Aussichten. Damit musste sie leben. Ihre Einstellung müsste sie ändern, ihr Perfektionsstreben einschränken, ihr Harmoniebedürfnis verringern, ihr Selbstbewusstsein stärken. Das vor allem. Genau. Damit wollte sie beginnen. Gleich. Sofort. Heute Abend, acht Uhr, im Olympia. Es blieb noch ausreichend Zeit. Zeit genug, um eine dunkle Sonnenbrille zu kaufen, sich die Haare färben zu lassen, sich ein schickes Kleid zuzulegen und natürlich auch passende Schuhe. Acht Uhr. Sie würde vorher nicht mehr in ihre  Wohnung gehen können, egal. Sie musste das auch so schaffen. Ihre Einstellung ändern, gewiss. Verzicht auf Harmonie, aber natürlich. Selbstbewusstsein stärken, ganz klar. Ihr Perfektionsstreben brauchte sie allerdings noch. Vor allem heute. Aber dann, in Zukunft … Geschminkt, gefärbt, in Schale geschmissen würde sie auf die beiden zugehen, ganz lässig, (so hoffte sie,) eine elegante Handtasche im Arm. Sie würde sie öffnen, ganz langsam und das Erstaunen der beiden genießen, würde aufreizend lange in der Tasche kramen und das Geschenk hervorholen, das sie ihm zugedacht hatte … Der Zug verringerte sein Tempo, sie erkannte den heimischen Bahnsteig, schreckte auf, völlig überrumpelt von ihren düsteren Gedankengängen. „Ach, du holst mich wirklich ab? Schön. Ich bin im vorletzten Wagen. Bis gleich. Du, ich freue mich schon so!“ Die Schöne stand auf, winkte lässig aus dem Fenster und verließ das Abteil. Der Zug stand still. Gebannt starrte sie auf den Bahnsteig. Starrte unentwegt auf den Mann mittleren Alters, der beide Arme ausbreitete. Flüchtig kreuzten sich ihre Blicke. Spöttische braune Augen sahen sie an. Sie registrierte kaum die Frau, die halb verdeckt hinter ihm stand, vor Glück strahlend. Zitternd starrte sie auf das Bild in ihrer Hand. Das Gesicht darauf lächelte ihr aufmunternd zu. Graue Augen blickten sie an, während sich – von ihr unbemerkt – die junge Schöne und die wartende Frau laut lachend in die Arme fielen.

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