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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

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Kategorien-Archiv: Kurzgeschichte

Tonne (7)

06 Montag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Bahnhof, Depression, Freundschaft, Hund, Land, Leben, Park, Schlägerei, Zug, Zugfahrt

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

 

Freitag
Unterwegs im Zug

Abfahrt 11.40 Uhr! Melanie hatte nur diesen einen Gedanken im Kopf. Sie wollte mit Karl mitfahren, auf keinen Fall durfte sie den Zug verpassen. Sie wollte nichts vom Jugendamt wissen, wollte bei ihrer Mutter bleiben, aber jetzt musste sie weg, weit weg.
Schwer atmend erreichte Melanie den Bahnhof. Beinahe hätte sie an diesem Morgen verschlafen. Schon von weitem fiel ihr Karl auf dem Bahnsteig auf. Er hielt Tonne im Arm, was er sonst nie tat.
„Du fährst also doch mit?“, begrüßte er sie ungläubig. Seine Augen strahlten und Tonne wollte sich aus seinen Armen befreien, um an ihr hochzuspringen, aber Karl ließ es nicht zu. „Zu gefährlich“, murmelte er. Melanie besorgte am Kiosk noch Proviant für die Reise. Dann endlich fuhr der Zug ein und sie setzten sich in ein leeres Abteil und Melanie atmete erleichtert auf.
Schweigend blickten sie während der Fahrt aus dem Fenster, sahen draußen die Landschaft vorbeiziehen, spürten das gleichförmige, einschläfernde Rattern des Zuges, genossen das angenehme Gefühl des Unterwegs-Seins, des Alles-Zurücklassens, spürten wie sich ein grenzen-loses Freiheitsgefühl in ihrem Inneren ausbreitete.
„Wir haben es geschafft, Karl. Freust du dich?“ Melanie sah Karl an. „Ja, sehr“, erwiderte er und sie erkannte an seinen leuchtenden Augen, dass auch er sich freute. Immer wieder streichelte er Tonne, der zufrieden schlief, eingerollt unter der Sitzbank.
Der Schaffner störte ihre friedvolle Ruhe, als er die Fahrkarten verlangte. Melanie reichte sie ihm stumm, hoffte inständig, er würde keine lästigen Fragen stellen, und steckte sie erleichtert wieder in ihren Geldbeutel, nachdem der Mann, sie freundlich grüßend, das Abteil verlassen hatte. Sie waren lange Zeit allein im Abteil, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Draußen flog die Landschaft in rasender Geschwindigkeit vorbei.
Karl begann in seinem Rucksack zu wühlen. „Hast du Hunger?“, wollte Melanie wissen und griff gleichzeitig nach ihrem Rucksack, um ein eingewickeltes Päckchen herauszuziehen. Tonne wurde sofort wach und schnupperte in ihre Richtung. Sie entfernte das Papier und zog drei Wurstsemmeln heraus. Zwei hielt sie Karl hin, der gierig zugriff. „Die Wurst der einen Semmel gehört Tonne“, lachte Melanie, als sie sah wie der Hund aufgeregt Männchen machte, mit dem Schwanz wedelte und sie dabei bittend ansah. Karl warf Tonne die Wurstscheiben entgegen, der sie aus der Luft auffing und mit einem einzigen Bissen verschlang. Melanie biss hungrig in ihre Semmel.
„Wie ist deine Mama denn so?“, wollte sie von Karl wissen. „Ist sie nett?“ Karl nickte kauend. „Sehr nett“, murmelte er undeutlich. „Sehr traurig.“
„Wieso traurig?“, platzte Melanie heraus und wusste im gleichen Moment schon den Grund: Bettina, natürlich.
„Bettina ist tot“, sagte Karl.
„Und wie war Bettina?“, bohrte Melanie neugierig weiter.
„Unser Engel. Mama und Papa sagen: Bettina war unser Engel.“
Ungeduldig schüttelte das Mädchen den Kopf. Die Sache mit dem Engel kannte sie nun schon zur Genüge. Aber warum war Bettina ein Engel? Es musste doch etwas passiert sein. Was hatte Bettina angestellt?
„Warum ist Bettina tot?“
Karl schien nachzudenken. Er versank in Schweigen und blickte zurück in eine Zeit, als es Bettina noch gab. Wie ein Film lief der letzte Tag mit Bettina vor seinem geistigen Auge ab:

Sie spielen im Garten, bauen Türme aus Bauklötzen, hohe Türme, die nicht umfallen dürfen. Bettinas Turm stürzt immer wieder um, da wird sie wütend, er will sie besänftigen und lässt seinen Turm einkrachen, das bringt sie wieder zum Lachen und er hört sie doch so gerne lachen, so unbekümmert und froh. Plötzlich erscheint Mutter und sagt: ,Ich komme gleich wieder, muss schnell weg, Papa hat eine Autopanne, ich werde ihn rasch abholen. Pass gut auf Bettina auf, Karl, ruft sie noch, schon im Weggehen.
Minuten später hört er das Geräusch, ein Geräusch, das er noch nie gehört hat. Es kommt von der Straße, ein leises Fiepen, Jammern, Winseln, ganz weit weg und doch in der Nähe. Ohne auf Bettina zu achten, rennt er los, vergisst in diesem Moment seine kleine Schwester, rennt los, magisch angezogen von diesem seltsamen Geräusch. Angestrengt lauschend steht er am Gartentor, versucht die Richtung ausfindig zu machen, aus der diese seltsamen Töne kommen.

„Karl, träumst du?“ Ungeduldig durchdrang Melanies Stimme seine Gedankenwelt und riss ihn zurück in die Gegenwart.
Erschrocken starrte er sie an. Was wollte sie von ihm?
„Warum, Karl, sag, warum ist Bettina tot?“
Er konnte es nicht sagen, hatte keine Worte dafür, schüttelte abwehrend den Kopf und schau-te aus dem Fenster.
„Lass mich in Ruhe.“ Er flüsterte es fast, beinahe flehend klang es. Melanie spürte an dem ungewohnten Tonfall, dass sie nicht weiter fragen durfte und versank in betroffenes Schweigen. Tonne seufzte und klopfte mit dem Schwanz kurz auf den Boden, als wollte er die Stimmung der beiden aufhellen.

Mama. Mutter. Sie würde Karls Mutter kennen lernen. Heute noch, dachte das Mädchen. Dabei tauchte das Bild ihrer Mutter vor ihren Augen auf. Sie mochte ihre Mutter, gewiss, auch wenn sie oft miteinander stritten, auch wenn sie sah, dass ihre Mutter anders war, als die Mütter, die ratschend und lachend vor dem Schulhaus standen, auf ihre Kinder wartend, um sie mit dem Auto nach Hause zu bringen, wo sicher schon der Tisch gedeckt war und ein Essen bereitstand, so jedenfalls stellte Melanie sich das Leben mit anderen Müttern vor. Ihre Mutter dagegen arbeitete aushilfsweise in verschiedenen Betrieben, zu unterschiedlichen Zeiten. Manchmal war sie gut aufgelegt und zeigte Interesse an Melanie, fragte nach der Schule, nach Melanies Freunden, die sie sich erfand, da sie keine wirklichen hatte und ganz selten fragte sie auch nach ihren Wünschen. Ein Hund, das wusste sie inzwischen, war Melanies Lieblingswunsch, den sie ihr aber nicht erfüllen konnte oder wollte. Von Karl und Tonne hatte ihr Me-lanie noch nichts erzählt, die blieben ihr Geheimnis, das waren ihre einzigen Freunde. Sie wollte sie mit niemand teilen. Sie ahnte schon, was passieren würde: Vor Karl würde sie gewarnt werden, sie würde ihr vor ihm Angst machen, ihr vielleicht sogar verbieten, sich mit ihm zu treffen. Das wollte sie unbedingt vermeiden.
Was aber war, wenn ihre Mutter sich heute Sorgen um sie machen würde, weil sie nicht nach Hause gekommen war? Ein unruhiges Gefühl beschlich sie auf einmal. Und Karls Mutter? Was würde sie sagen, wenn sie mit Karl und dem Hund unerwartet bei ihr auftauchten? Vielleicht war die Idee mit der Reise doch nicht so gut, noch dazu, da Karl sich wieder so abweisend verhielt.
Inzwischen waren zwei Männer in ihr Abteil gekommen. Geschäftsmänner wohl. Sie stellten vorsichtig ihre Aktenkoffer auf dem Boden ab, nicht ohne vorher einen misstrauischen Blick auf Tonne geworfen zu haben, der sie einfach ignorierte.
Melanie gähnte, lehnte sich zurück, spürte Tonnes weiches Fell an ihren Beinen, genoss die Wärme, die der kleine Hundekörper abstrahlte und schlief allmählich ein. Karl starrte weiter aus dem Fenster, reglos mit unbewegtem Gesichtsausdruck.
Die beiden Männer verließen beim nächsten Halt das Abteil, entfernten sich grußlos.
Da fielen auch Karl die Augen zu. Der Zug raste in gleichförmigen Tempo durch die eintretende Dämmerung.
An mehreren Bahnhöfen stoppte der Zug. Geräusche und Stimmengewirr von draußen dran-gen gedämpft bis in das Abteil von Melanie und Karl, Tonne spitzte im Halbschlaf kurz die Ohren, aber als weder Karl noch Melanie sich rührten, legte er seufzend seinen Kopf zwischen die Pfoten und döste weiter.
Plötzlich, der Zug ruckte stark beim Anfahren, schrak das Mädchen aus dem Schlaf hoch. Erschrocken sah sie sich um. Dunkelheit umgab sie, aber sie war nicht zu Hause, lag nicht in ihrem Bett. Ihre Hand lag auf einem Hundekopf. Alles wurde ihr wieder klar, in Sekundenschnelle: Sie unternahm mit Karl und Tonne eine geheime Reise.
Aber warum waren sie immer noch nicht am Ziel?
Sie klopfte Karl auf die Schulter:
„Wach auf.“
Karl bewegte sich nicht. Melanie gelang es im Abteil Licht zu machen. Endlich, vom grellen Licht geblendet, begann Karl zu blinzeln. „Wach auf, Karl, wir müssten schon längst da sein.“
Melanie blickte auf die Fahrkarten. Ankunft in N. um 17.21 Uhr. Ihre Armbanduhr zeigte 21.39 Uhr.
„Verdammt, wir sind zu weit gefahren, Karl. Wir müssen beim nächsten Bahnhof aussteigen. Los, wir packen schon mal alles zusammen.“
Aufgeregt griff Melanie nach ihrem Rucksack, legte Tonne an die Leine, der erwartungsvoll zu wedeln begann in Aussicht auf einen Spaziergang, reichte Karl seinen Rucksack.
„Mensch, Karl, jetzt wissen wir nicht, wo wir sind. Hoffentlich hält der Zug bald.“
Immer wieder blickte sie auf ihre Uhr. Unendlich langsam verging ihr die Zeit. Nach langen Minuten verlangsamte der Zug allmählich sein Tempo, Lichter tauchten von draußen auf, Ortsschilder flogen vorbei, helle Fetzen, unlesbar. Endlich. Der Zug stand, sie öffneten die Türen und stürzten hinaus auf den Bahnsteig, sich suchend umblickend: Wo waren sie nun? Karl deutete stumm auf das Schild, das sich auf der anderen Seite über dem Bahnhofseingang befand. Sie rannten los, fanden die Unterführung, die zur Bahnhofshalle führte, durchquerten sie, standen kurz darauf vor dem Schild. „F.“, las Melanie. „F? Mensch, Karl, wir wollten doch nach N.“ Panik stieg in ihr hoch. Sie begann auf einmal zu frieren, fühlte sich so hilflos. Jetzt standen sie weit weg von daheim und auch weit weg von Karls Mutter. Ganz allein. Sie schaute Karl an, der schweigend dastand und keine Ahnung hatte, was zu tun war. Von ihm konnte sie keine Hilfe erwarten. Warum war der auch so komisch?
Tonne sprang an ihr hoch, fühlte sich wohl auch verlassen, fremd in dieser Umgebung. Doch langsam verebbte ihre aufkeimende Verzweiflung. Sie waren doch nicht ganz allein. Sie waren zu dritt. Kein Grund zum Heulen, redete sie sich ein.
Einige vorübergehende Reisende starrten sie verwundert und neugierig an. Ihnen war klar, die zwei kannten sich nicht aus. Bevor sie denen verdächtig erschienen, mussten sie den Bahnhof verlassen. Niemand sollte doch wissen, was sie vorhatten.
„Komm, Karl“, energisch zog Melanie Karl an der Hand weiter. „Wir suchen uns einen Schlafplatz. Morgen finden wir dann schon zu deiner Mama.“ Widerstandslos folgte ihr Karl.
Sie schritten über den erleuchteten Bahnhofsplatz, die Bahnhofsuhr zeigte 22.19 Uhr und Melanie entschied sich spontan für eine Richtung, ohne nachher sagen zu können, warum sie gerade diese gewählt hatte. Sie liefen lange eine ruhige, kaum beleuchtete Straße entlang, die immer schmaler wurde und schließlich in einen Park führte. Nostalgische Straßenlaternen er-hellten halbwegs die angelegten Spazierwege. Karl zeigte auf Papierkörbe, die in großen Abständen die Wege säumten, Melanie sehnte sich nach einer Bank. Sie brauchte Ruhe, um zu überlegen, was weiter zu tun sei. Der Weg bog um eine Kurve und da entdeckte sie eine Bank, die etwas abseits stand, von Sträuchern halb verborgen. „Die Bank Karl, schau die Bank dort, die nehmen wir.“
Karl nickte und folgte ihr. Das Holz der Bank fühlte sich kalt an und ungemütlich. Sie rückten näher zusammen, suchten die Wärme des anderen. „Was jetzt?“ Karl blickte sie ratlos an. „Essen, wir essen erst etwas, dann überlegen wir weiter.“ Mit diesen Worten reichte Melanie Karl noch eine belegte Semmel und ein Stückchen Schokolade. „Gib Tonne auch noch etwas.“ Karl zog einen Wassernapf aus dem Rucksack hervor, füllte ihn mit Wasser aus der mitgebrachten Flasche und ließ Trockenfutter daneben auf den Boden fallen. Während Tonne geräuschvoll schlürfte und krachend sein Futter zerbiss, aßen Karl und Melanie schweigend ihre Semmeln.
Lange Zeit saßen sie wortlos und müde nebeneinander, versunken in eigene Gedanken.
„Du, Karl, ich muss mal, ganz dringend.“ Melanie spürte plötzlich einen gewaltigen Druck auf ihrer Blase.
„Ich verschwinde kurz, bin gleich wieder da“, erklärte sie dem verblüfften Karl. „Den Hund nehme ich mit, ja?“ Sie verschwand mit Tonne rasch im Dickicht.
Karl beachtete Melanie nicht. Er dachte an seine Mutter. Schon längst sollte er bei ihr sein. Melanie würde ihr dabei helfen, wieder gesund zu werden. Melanie wäre eine neue, eine andere Bettina. Alles würde wieder gut werden. Seine Mutter müsste bloß Melanie kennen lernen. Melanie würde bei ihnen bleiben, auch sein Vater würde sich freuen. Er war überzeugt davon. Die schrecklichen Bilder würden ihn nie mehr verfolgen, ihn nie mehr aus dem Schlaf reißen oder sogar aus seinen Tagträumen, er konnte sie nicht verbannen, so sehr er es auch versuchte.

Unvergessen

Er steht am Gartentor und lauscht. Da, er hört es wieder, das seltsame Geräusch. Rechts. Da steht eine Mülltonne, abgestellt, am Straßenrand gegenüber, bereit zur Leerung, das Müllauto kommt gleich, er muss schnell sein, will wissen, was das Geräusch bedeutet. Er rennt los, über die Straße auf die Tonne zu, reißt den Deckel hoch, greift blind hinein und zieht ein lebendiges Fellbündel heraus, das jämmerlich fiept.

Unerwarteter Besuch

Laute Stimmen reißen ihn heraus aus seiner Traumwelt. Karl blickt geblendet vom Licht mehrerer Taschenlampen in fremde Gesichter, in spöttische Augen, sieht grinsende Münder, vernimmt hämische Worte, deren Sinn er nicht versteht, senkt den Kopf, starrt auf dreckige Stie-fel, die ganz nahe seinen Füßen sind, bedrohlich nahe. Plötzlich spürt er das Gewicht fremder Körper auf seinen Füßen, wird hochgerissenvon mehreren Armen gleichzeitig, wird geschüttelt, angeschrien, ist unfähig zu antworten, bringt einfach kein Wort heraus, schweigt, da erhält er einen Schlag ins Gesicht, einen Hieb in den Magen, sackt zusammen, krümmt sich vor Schmerz, immer noch stumm, nimmt hilflos hin, dass er in den Rücken geboxt wird, ringt nach Luft, den Mund weit geöffnet, hängt zwischen fremden Armen, die ihn auf den Boden zwingen wollen, gnadenlos.
„Tonne, fass!“, gellt da eine schrille Stimme ganz in der Nähe. „Fass, Tonne.“ Ein weißes Knäuel wirft sich laut knurrend in das Gewühl aus fremden Beinen und Armen. „Verflixter Köter, hau ab.“ Drohende Stimmen. Immer wieder rast Tonne in das Gewühl, beißt, zerrt, reißt, fasst mit seinen Zähnen, was er zu packen bekommt, jault auf, wenn er von Fußtritten getroffen wird, gibt nicht auf, will zu Karl. „Hilfe!“, schreit Melanie. Ununterbrochen. „Hilfe!“
Erst als Tonne an ihr hochspringt und dann wieder Karl umkreist, bemerkt Melanie, dass sie wieder allein sind, zu dritt allein. Karl stöhnt leise. Er liegt am Boden, die Hände vor das Ge-sicht gepresst, zusammengekrümmt wie ein Embryo im Mutterleib. „Karl. Karl.“ Melanie streichelt ihn. Berührt vorsichtig seinen Kopf, seinen Rücken. „Sie sind weg. Karl, sie sind weg.“ Immer wieder, wie eine Mutter mit ihrem Kind spricht, so wiederholt Melanie die immer gleichen Worte, will Karl beruhigen, besänftigen. „Du blutest ja.“ Warmes Blut tropfte auf ihren Finger, Blut aus Karls Nase. „Diese Schweine“, flucht Melanie. „Ihr verdammten, ekligen Schweine, Ich hasse euch“, schreit Melanie mit erstickter Stimme, ehe sie in fassungsloses Schluchzen ausbricht.

Samstag, 4.10 Uhr
Karl erwacht im Krankenhaus in F.

„Karl.“
Melanie beugte sich zu Karl. Ganz nah. Er sah so fremd aus. Sie erschrak und zuckte zurück. Dieses weiße Gesicht. Der weiße Verband. So fremd. Die Haare so kurz auf einmal. Die Augen geschlossen. Das weiße Hemd. War Karl jetzt ein Engel? Aber da lag die ihr vertraute Hand auf der Bettdecke. Sie strich sanft über die Finger. Immer wieder. „Karl?“
Er blinzelte mit den Augenlidern, geblendet von dem grellen Licht.
„Er wacht gleich auf“. Eine ältere Schwester nickte ihr aufmunternd zu, zog einen Stuhl ans Bett. „Setz dich.“
Melanie saß da, schweigend, wartend.
„Mein Engel“, flüsterte Karl mit heiserer Stimme.
„Karl, ich bin’s. Wie geht es dir?“

Verrat

31 Dienstag Jan 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Eifersucht, Erinnerung, Freundschaft, Gemeinsamkeit, Kindheit, Kurzgeschichten, Streit

Zufällig blickte ich heute aus dem Fenster im Wartezimmer meines Arztes und entdeckte auf der Häuserfront gegenüber an der Wand deinen Namen geschrieben in großen weißen Buchstaben als Werbung für dein Büro. Du bist nun also selbständig und es ist viele Jahre her seit ich dich  näher kannte.
Unsere Freundschaft fand damals ein jähes Ende und immer noch, wenn ich daran denke, überfällt mich ein starkes Unbehagen. Ich fühle mich irgendwie schuldig und hätte es dir so gerne einmal gesagt, dass es mir heute noch Leid tut, wie wir uns trennten. Beide waren wir noch Kinder. Du warst mein erster Freund und alles war gut. Wir spielten miteinander, lachten oft, gingen gemeinsam baden und keiner nahm Anstoß daran. Aber unser erstes Glück dauerte nicht lange.
Damals hatte ich auch eine Freundin, die oft mit uns gemeinsam unterwegs war und einige Zeit schien es nicht klar zu sein, wessen Freund du nun warst. Als du dich für mich entschieden hast, gab es die ersten Probleme. Meine Freundin erwies sich als sehr eifersüchtig. Mit aller Gewalt drängte sie sich zwischen uns und versuchte hartnäckig unsere gute Beziehung zu stören.
Ich erinnere mich noch genau daran wie sie dich plötzlich schlecht machte, gerne auch ins Lächerliche zog, dich verspottete. Sie konnte sehr hartherzig sein. Nach einem Streit war immer ich es, die nachgab und wieder Kontakt zu ihr aufnahm, obwohl ich sie dafür hasste. Aber ich verstand mich dann auch wieder wunderbar mit ihr und merkte wahrscheinlich gar nicht, dass ich ständig von ihr ausgenutzt wurde. Trotzdem traf ich mich weiter mit dir auf der Wiese, die es heute noch gibt. Erinnerst du dich? Du wohnst immer noch in meiner Nähe, aber ich sehe dich nicht mehr. Das liegt sicher daran, dass du nun mit dem Auto unterwegs bist und ich meist mit dem Fahrrad. Ich weiß, du bist verheiratet und hast einen Sohn, seit heute weiß ich auch, dass du ein eigenes Büro hast.
Manchmal frage ich mich, ob du ab und zu noch an unsere Freundschaft aus Kindertagen denkst. Ich würde zu gerne wissen, ob du unter der Trennung gelitten hast. Mir fällt es immer noch schwer, gelassen daran zu denken. Ich versuchte schon die ganze Angelegenheit als Kindersache abzutun und mit Humor zu betrachten, also nachsichtig darüber zu lächeln. Es will mir aber nicht gelingen, denn ich schäme mich vor mir, dass ich meiner Freundin nachgegeben habe und mit ihr diesen verletzenden Brief an dich geschrieben habe, die Aufkündigung unserer Freundschaft.
Nachher bin ich dir ständig ausgewichen, ich fühlte mich so unglücklich und hätte alles gerne wieder rückgängig gemacht, aber da war es zu spät.
Wehmütig denke ich an meine Kommunionsfeier zurück. Ich wollte dich einladen, aber meine Eltern erlaubten es nicht. Am Abend habe ich mich mit dir allein getroffen. Du hattest mich darum gebeten, heimlich, weil du mir etwas schenken wolltest. Heute noch habe ich dein Bild von damals. Es zeigte eine Mutter Gottes mit dem Jesu Kind im Arm. Auf die Rückseite des Bildes hattest du eine Widmung eingeritzt, für mich, mit weißem Stift. Das Glück von damals kann ich noch immer verspüren. Mein Gott wie war ich froh. Ich sehe mich wieder, klein und unendlich glücklich an jenem warmen Maiabend die dunkle Straße entlanggehen. Dein Bild hielt ich im Arm wie einen kostbaren Schatz und es war so gut zu wissen, du magst mich.
Lange Zeit begleitete mich dein Geschenk. Jetzt liegt es im Keller. Hin und wieder, wenn ich in meinen alten Ordnern krame, fällt es mir in die Hände, jedes Mal unerwartet und völlig überraschend. Gedankenverloren wische ich den Staub ab und sehnsüchtig denke ich an jene entfernte Zeit zurück, die auf einmal wieder so nah ist, jene Zeit, da Liebe, auch eine Kinderliebe so natürlich war.
Einmal nahm ich dich mit auf mein Zimmer, das ich damals neu eingerichtet bekam. Irgendetwas wollte ich dir zeigen, was, weiß ich nicht mehr so genau. Unerwartet tauchte da meine Mutter auf und sah mich seltsam an. Später erklärte sie mir, ich dürfte dich nicht mehr auf mein Zimmer mitnehmen, vor allem nicht allein. Der Grund dafür war mir rätselhaft, heute sehe ich darin eine Unterstellung, sicher ungerechtfertigt jedoch. Erwachsene sahen die Liebe anders, sie konnten sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich eine ernstzunehmende Kinderliebe geben konnte, die ehrlich und unschuldig war.
Meine Freundin versuchte mir einzureden, man könnte ein Kind bekommen, wenn man sich an der Hand gehalten hat. Du hast auch meine Hand gehalten, zärtlich, liebevoll beim Laufen durch hohes Gras und wir lagen nebeneinander, Seite an Seite, in den Himmel über uns blickend, grenzenlos unbeschwert und glücklich, unsere Nähe zu spüren. Schreckliche Angst quälte mich einige Tage, denn aufgeklärt war ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Wohl wusste ich, dass eine Frau schwanger werden konnte, denn das hatte mir meine Mutter schon erklärt, indem sie mich verlegen darauf hinwies, ich sollte Frauen mit dicken Bäuchen nicht auslachen, denn es könnte durchaus sein, dass sich in einem dicken Bauch ein Baby verbarg. Tagelang beobachtete ich daraufhin meinen eigenen Bauch, um endlich beruhigt festzustellen, dass er sich nicht veränderte. Schließlich dachte ich mir, konnte die Behauptung meiner Freundin logischerweise nicht stimmen, denn dann dürfte man sich ja die Hände auch nicht schütteln, ohne ständig Gefahr zu laufen ein Kind zu bekommen. Doch meine Freundin hatte mir Angst eingejagt und vor allem spürte ich, dass sie es absichtlich getan hatte.
Allmählich begann ich zu begreifen, was sie vorhatte. Sie wollte heimtückisch unsere Freundschaft zerstören. Wie lange es gedauert hat, bis sie mich endgültig davon überzeugt hat, es sei besser, auf dich zu verzichten, weiß ich nicht mehr.
Oft noch trafen wir uns, hatten uns immer eine Menge zu erzählen, aber der Schatten der anderen drängte sich unaufhaltsam zwischen uns. Heute würde man von einer Dreierbeziehung sprechen, die bekanntlich selten ohne Konflikte auskommt und alle Beteiligten in heftige Gefühlsausbrüche verstrickt. Auch bei Kindern ist das nicht anders. Immer wieder schaffte es meine Freundin mir feine Stiche zu verpassen, um unsere Beziehung schlecht zu machen und dich in Frage zu stellen. Irgendwie gelang es ihr dann auch, mir klar zu machen, ich müsste mich zwischen dir und ihr entscheiden. Meine Entscheidung kennst du ja und findest es vermutlich lächerlich und eine bloße Zeitverschwendung, darüber heute noch nachzudenken. Ich weiß, vermutlich denken alle so. Trotzdem möchte ich es dir einmal wenigstens gesagt haben wie Leid es mir schon kurz darauf getan hat, unsere Freundschaft auf so schäbige Weise verraten zu haben.

Zu spät – trop tard

15 Mittwoch Jun 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Bretagne, Briefe, Erfahrung, Erinnerung, Frankreich, Freude, Freundschaft, Gefühle, Künstler, Maler, Phantasie, Reise, Trauer

Seit Stunden saß sie nun schon im Zug, das Gesicht an die kühle Fensterscheibe gepresst, mit offenen Augen in das Dunkel der Nacht hinausstarrend, ohne mehr zu erkennen als ab und zu einen Lichtschimmer, weit weg. Vergeblich versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, sich zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Immer wieder befühlte sie das Stückchen Papier, das ihre Finger nicht mehr losließen als wäre es ihr Rettungsanker. Dabei war es doch gerade umgekehrt, die mühsam gekritzelten Zeilen, kaum leserlich, in fremder Sprache, waren an sie gerichtet, voll Verzweiflung und doch auch voll Hoffnung. Sie selbst fühlte sich aufgefordert zu helfen und sie hatte ihn sofort gespürt, diesen stummen Hilferuf, der sie aufwühlte und zu entscheiden zwang. Sie hatte eine Entscheidung getroffen mit so ungewohnter Entschlossenheit, dass sie sich selbst darüber gewundert hatte. Keiner hatte sie zurückgehalten. Allmählich fürchtete sie sich vor ihrem eigenen Entschluss. Wenn sie sich nun getäuscht hatte? Wenn sie zu spät kam? Ihre Finger strichen über das Papier und sie dachte an die ersten Briefe, die sie von ihm erhalten hatte. Eng beschrieben, mehrere Seiten lang. Erschöpft schloss sie die Augen und wehrte sich nicht mehr gegen die Bilder, die auf sie eindrangen.

Ihre erste Begegnung mit ihm, ihren Monsieur wie sie ihn liebevoll nannte, lag nun schon drei Jahrzehnte zurück, aber sie konnte sich fast an alle Einzelheiten erinnern, nur seine Stimme, die konnte sie nicht mehr hören, so sehr sie es auch versuchte, die Stimme blieb ihr verloren, aber seine Worte konnte sie in den Briefen nachlesen, die regelmäßig eintrafen. Oft wurde sie belächelt, nicht verstanden. Der, der ihr so treu schrieb, war nämlich schon alt, für viele zu alt, um einem jungen Mädchen, das sie damals noch war, so unermüdlich zu schreiben. Ihm aber verdankte sie ihre Liebe zu einem Land, dessen Sprache sie faszinierte und dessen Menschen sie begeisterten, seit sie deren Wärme gespürt hatte.
Frankreich. Sie fühlte sich diesem Land zugehörig, genoss die heitere Umgangsweise der Menschen miteinander, ihre sprühende Herzlichkeit. Nie würde sie ganz dazugehören, sie wusste es und trotzdem tat es ein bisschen weh. Ein Schmerz, den sie nicht erklären konnte, ein Traum, der sich nie erfüllen würde und den sie trotzdem träumte, in allen Farben sich ausmalte an einsamen Orten, den sie sorgfältig wegpackte, in ihr Herz versenkte, um ihn vor anderen zu schützen.

Heute lässt sie ihren Traum von damals nur noch selten an die Oberfläche kommen, lächelt müde über ihn, staubt ihn vorsichtig ab, aber die Farben leuchten nicht mehr so überzeugend, haben ihre Kraft eingebüßt. Mit anderen Augen fährt sie inzwischen durch dieses Land, nimmt alles Hässliche und Ungute neben dem Schönen wahr, sehnt sich immer noch nach der Vergangenheit, diesem Glück, das sie beinahe sprengte, das kaum zu ertragen war, ungeteilt.

Aber da war einer, ihr Monsieur, ein Maler, ein Bretone, der ihr Glück mit ihr teilte. Sein Atelier versetzte sie in wogende Begeisterung. Hier faszinierte sie alles, zog sie magisch an, dieses bunte Chaos, das strahlte, der herbe Duft nach Farben, eine Atmosphäre, in der sie hätte leben und arbeiten können, ein Reich für sich, das sie vom ersten Moment an verzaubert hatte. Der Maler zeigte ihr seine Landschaftsbilder, seine Skizzen, seine Entwürfe, erklärte ihr Techniken, Aufteilung von Bildern. Ihre Bewunderung wuchs, benutzte dieser Maler nur seinen linken Arm, erwähnte den Verlust seines rechten Armes jedoch mit keinem Wort.  Nie wagte sie ihn darüber zu befragen.

1916, 17 octobre – Sous-lieutnant de réserve, il est blessé sur front de la Somme et amputé du bras droit.
1916, 17. Oktober – Unter-Lieutnant der Reserve wurde an der Front an der Somme verletzt und sein rechter Arm wurde amputiert.

Erst Jahre später erfuhr sie, dass er diesen Arm im Krieg verloren hatte und somit verlor er auch den Traum vom Leben als Bildhauer, der er gerne geworden wäre. Auch darüber hatte er in seinen Briefen nie geschrieben, wohl aber von seiner Malerei. Als ob er es geahnt hätte, damals schon, lange vor ihr, dass auch sie sich mit Malerei beschäftigen werde. Jahre später.

Nun, lange Zeit danach erfährt sie aus seinen Briefen wie Bilder gelingen können, wie wichtig deren Aufbau ist. Jetzt, da sie nicht mehr mit ihm sprechen kann, jetzt könnte sie ihm ihre Bilder zeigen, ihn um seinen Rat, seine Meinung bitten, aber jetzt ist es nicht mehr möglich.

Wie oft hatte sie ihm aus Urlauborten geschrieben, wie oft daran gedacht, ihn einmal zu besuchen? Sie wusste es nicht mehr. Oft vergingen Wochen, ja Monate zwischen den Briefen, oft waren diese kurz, denn immer häufiger wurde er krank. Seine Hand zitterte stark, die Schrift wurde unleserlich und sie hatte Schwierigkeiten, die Wörter zu entziffern. Der Tod seiner Frau traf ihn hart, nun war er ganz allein, aber er schaffte es noch jahrelang, sich und seine Wohnung zu versorgen. Mit dem Tod seiner Frau beschloss er seine Malerei zu beenden.

1973, 13 aout – Décès de son épouse. Il décide d’arreter de peindre.
1973, 13. August – Tod seiner Ehefrau. Er beschließt, mit dem Malen aufzuhören.

Über seine Frau wusste sie kaum etwas, wohl hatte sie sie manchmal gesehen, aber wahrscheinlich war sie schon damals krank gewesen, denn immer war er es gewesen, den sie auf der Straße traf, die Einkaufstasche im Arm. Comment vas-tu? Ca va. Ihre Begrüßung, unkompliziert, freundlich. Wie seine Frau über ihren Briefwechsel dachte wusste sie nicht, nie schrieb er darüber ein Wort.

Les fleurs du mal. Das kleine Büchlein kam eines Tages mit der Post, völlig unerwartet, mit persönlicher Widmung. Sie versuchte es zu lesen, mehrmals, aber ihre Sprachkenntnisse waren inzwischen zu gering, nur mühsam konnte sie einiges verstehen. Die Übersetzung ins Deutsche sah sie vor Wochen in einem Buchladen, sie wird sie sich kaufen. Les fleurs du mal, in letzter Sekunde hatte sie den dünnen Band und die Mappe mit seinen Briefen noch eingesteckt, um wenigstens einen kleinen Halt zu finden auf der langen Reise, die kein Ende zu nehmen schien. Obwohl das Geräusch des Zuges in ihren Ohren sich eingenistet hatte, blieb das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen.
Sie schloss die Augen und schlug das dünne Buch an einer beliebigen Stelle auf, dann öffnete sie die Augen wieder und starrte auf die aufgeschlagene Seite, versuchte die Zeilen zu lesen und auch deren Bedeutung zu verstehen.
Leider war ihr Französisch nicht mehr so gut wie zu den Zeiten als sie Bekanntschaft mit ihrem Maler geschlossen hatte. Nur wenig konnte sie verstehen. Ma Douleur – mein Schmerz, ja das fand sie zutreffend und ließ die Seite aufgeschlagen.

RECUEILLEMENT
Sois sage, ô ma Douleur, et tiens-toi plus tranquille,
Tu réclamais le Soir; il descend; le voici:
Une atmosphère obscure enveloppe la ville,
Aux uns portant la paix, aux autres le souci.
SAMMLUNG
Sei still, mein Schmerz, du musst nun leiser klagen,
Den Abend riefst du, sieh, er kam zu dir, 
Hat um die Stadt sein weiches Tuch geschlagen
Und brachte Frieden dort und Kummer hier.

Der Strom der Zeit floss immer schneller. Ihrem Monsieur berichtete sie von ihrem Leben, der Heirat und später von der Geburt ihrer Kinder. Er schickte Karten, Glückwünsche und weiterhin Briefe. Sein Alltag wurde immer mühsamer, seine Krankheit schritt fort. Sie merkte es an der zunehmenden Unleserlichkeit seiner Schrift und an der Kürze der Briefe. Er war einsam und fürchtete sich davor, in ein Altenheim gehen zu müssen, in ein Maison de retraite wie er schrieb.
Nach mehreren Krankenhausaufenthalten erreichte sie ein Brief mit neuer Absenderadresse. Er wohnte also nicht mehr daheim. Wie sehr musste es ihn schmerzen, sein Atelier nicht mehr betreten zu können, seinen Blick nicht mehr über die kleine Stadt schweifen zu lassen, all die verwinkelten Dächer, mit ihren schmalen in den Himmel ragenden Kaminen zu sehen. Sie stellte ihn sich vor, wie er sein Atelier abschloss ehe er umsiedelte in ein Altenheim, an einem fremden Ort mit fremden Menschen. Sie hätte ihm gerne geholfen, schrieb wieder mehr Briefe, die er rasch beantwortete, als schiene er darauf gewartet zu haben.
Was er wohl dort tat, unter Fremden? Er ginge spazieren in den Gärten, schrieb er. Les fleurs du mal, nun blühten sie für ihn. Aber sie fühlte seine Einsamkeit, die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und sie wusste, die meisten Briefe waren bereits geschrieben.  Er hatte sich nie darüber beschwert, nun dort zu sein, allein in diesem Altenheim. Dass er einen Sohn hatte, erfuhr sie erst viel später. Sie fragte sich oft, wieso er ihn nie erwähnt hatte. Sie fragte sich, wie ihr Verhältnis zueinander gewesen war. Sie würde es nie mehr erfahren.

1922, 26 novembre – Naissance de son seul enfant, Hubert de Kerouallan.
1922, 26. November – Geburt seines einzigen Kindes, Hubert der Kerouallan.

Es wurde eine lange Nacht, in der ihre Gedanken wild umherirrten, sich nicht besänftigen ließen. Für kurze Momente fiel sie in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie immer wieder aufschreckte und sich fragte, wo sie sich befinde. Unterwegs. Sie war tatsächlich unterwegs, um ihm noch einmal zu begegnen nach so langen Jahren der Bekanntschaft, ja der respektvollen Freundschaft. Ein junges Mädchen und ein alter Mann, so hatte ihre Verbindung angefangen. Das junge Mädchen war sie in Gedanken noch und aus dem alten Mann war ein Greis geworden, aber beide fühlten sich noch miteinander verbunden. Seelenverwandte, die sie waren. Verwandte Seelen seit ihrer ersten Begegnung.

Stunden später

Ankunft in Redon. Bahnhofgeräusche und Gerüche und frischer Kaffeeduft ließen sie wieder wach werden. Stimmengemurmel, ihr geliebtes Französisch war zu hören und zu lesen. Frankreich, ein Gefühl, als ob sie daheim angekommen wäre. Ein Taxi brachte sie zum Maison de retraite, das sich an einem kleinen Ort außerhalb von Redon befand. Mit nie empfundene Angst betrat sie die Eingangshalle, fragte nach ihrem Monsieur, legte sicherheitshalber den Zettel mit seinem Namen vor die Frau an der Anmeldung. Ein erstaunter Blick begegnete ihr, freundlich, mitfühlend und da traf sie die Gewissheit mit solcher Wucht, dass ihre Stimme versagte. Trop tard – zu spät.
Sie kommen leider zu spät, Madame. Sie wurde an einen Tisch geführt, ein Stuhl wurde ihr untergeschoben und rasch eine Tasse Kaffee vor sie hingestellt. Fassungslosigkeit überfiel sie und eine grenzenlose Müdigkeit breitete sich plötzlich in ihr aus. Die lange Reise, ihr Entschluss – alles umsonst. Minuten später erschien eine Pflegerin und setzte sich ihr gegenüber. Sie begann zu sprechen, ganz langsam, behutsam, damit sie das Gesagte verstehen konnte. Es dauerte eine Weile bis sie begriff, was ihr gesagt wurde.
Gestern Abend war Monsieur friedlich eingeschlafen. Er hatte sich immer über ihre Briefe gefreut und ihr gerne geantwortet, auch wenn es ihm große Mühe bereitet hatte. Nein, sie konnte ihn nicht mehr sehen, er befand sich bereits an einem anderen Ort, für die Bestattung werde schon alles vorbereitet, in der Stadt, deren Ehrenbürger er gewesen sei. Man könne ihr, falls sie das möchte eine Übernachtungsmöglichkeit organisieren, in einem kleinen Hotel am Ort. Sie nickte. Merci. Merci beaucoup.

1984, 17 août – Décès d’Yves de Kerouallan à Redon.
1984, 17. August – Tod von Yves de Kerouallan in Redon.

Pendant que des mortels la multitude vile,
Sous le fouet du Plaisir, ce bourreau sans merci,
Va cueillir des remords dans la fête servile,
Ma Douleur, donne-moi la main; viens par ici,

Lass nun die Menge sich bei Festgelagen,
Gepeitscht von ihrem Henkersknecht, der Gier,
Den bittren Ekel und die Scham erjagen,
Gib mir die Hand, mein Schmerz, und komm mit mir.

Sie lag in einem fremden Bett, alles um sie erschien ihr plötzlich so fremd und abweisend. Sie vermisste das tröstliche Gefühl angekommen zu sein. Zu lange lag die Zeit zurück, die Zeit, in der sie dieses unbeschreibliche Glücksgefühl verspürt hatte, daheim zu sein in diesem fremden Land, in dieser fremden Sprache. Trop tard – zu spät. Diese Worte lähmten sie. Sie hatte es nicht geschafft, rechtzeitig zu kommen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sie das Mädchen von früher – allen seinen Freunden unbekannt, sie aus dem fernen Deutschland, unsichtbar, unscheinbar für alle, die mit ihm zu tun hatten, nein, das stimmte so nicht ganz, die Pflegerin wusste von ihrer Existenz, wusste von ihren Briefen und seiner Reaktion auf sie. Er hatte sich immer sehr über die Briefe gefreut. Wenigstens das hatte sie erreicht, ein wenig Freude in seinen tristen Alltag zu bringen. Plötzlich ließ sie ein Kälteschauer erzittern. So furchtbar kalt war ihr, so aufgewühlt ihre Seele, die nun ihren Partner verloren hatte. Wie ein Embryo rollte sie sich in die kalten Kissen, zog alle umliegenden Kleidungsstücke über ihren Körper, sehnte sich nach ein bisschen Wärme, hoffte endlich einschlafen zu können, der Wirklichkeit entfliehen zu können.

Loin d’eux. Vois se pencher
les défuntes Années,
Sur les balcons du ciel,
en robes surannées;
Surgir du fond des eaux le
Regret souriant;

Fern, fern wir zwei. – Siehst du
der Jahre Reigen
Sich im verblichnen Kleid vom
Himmel neigen,
Die Reu‘, die lächelnd in der Tiefe wacht?

Durch ein Klopfen an der Tür wurde sie am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf geweckt. Sie verstand die fremde Stimme erst nicht. Französische Worte drangen an ihr Ohr. Endlich verstand sie, sie wurde danach gefragt, ob sie und wann sie frühstücken wollte. Nach einem kurzen Blick auf ihre Uhr nannte sie irgendeine Zeit, 9 Uhr dreißig. Die fremde Stimme bat sie um diese Zeit in den Speisesaal zu kommen und verschwand vor der Tür. Sie atmete auf, hatte Zeit gewonnen, Zeit um zu überlegen, was sie nun tun sollte. Sie warf einen Blick auf die aufgeschlagene Seite des kleinen Bandes Les fleurs du mal. Gestern hatte sie noch darin gelesen, es jedenfalls versucht und nun erst – auf einmal, begann sie das Ungeheuerliche langsam zu begreifen: Ihr Monsieur war tot, sie war einen Tag zu spät gekommen. Einen Tag – sie hatte die letzte Chance verpasst, ihm noch einmal zu begegnen. Zu spät war sie zurückgekehrt – trop tard.

Le Soleil moribond
s’endormir sous une arche,
Et, comme un long linceul
traînant à l’Orient,
Entends, ma chère, entends l
a douce Nuit qui marche.

Die Sonne stirbt dort unterm
Brückenbogen,
Und wie ein Bahrtuch kommt’s
von Ost gezogen,
Horch! Hörst du ihn, mein Schmerz,
den Schritt der Nacht?

Nach dem Frühstück packte sie ihre wenigen Sachen in die alte Reisetasche, die schon auf vielen Reisen ihr Begleiter gewesen war, beglich die Hotelrechnung, bat anschließend die freundliche Dame an der Rezeption des Hotels ihr ein Taxi zu rufen, das sie zum Bahnhof bringen sollte. Die Rückfahrkarte hatte sie schon zu Hause gekauft.

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Meine Erzählung – eine Hommage an den französischen Maler
Yves de Kerouallan (1895 – 1984)

Die Erzählung beruht auf einer wahren Begebenheit: Den Maler Yves de Kerouallan hatte ich während eines Schüleraustausches in Redon, einer kleinen Stadt in der Bretagne kennen gelernt. Damals begann ein intensiver Briefwechsel zwischen dem Maler und mir, der so lange währte bis ich einen Brief in einer fremden Schrift erhielt: Die Nachricht über seinen Tod, verfasst von einer Schwester aus dem Altenheim.

Oft hatte ich mir gewünscht, meinen Monsieur, wie ich ihn liebevoll nannte, den ich sehr verehre und mit großem Respekt und Bewunderung begegnet bin, noch einmal besuchen zu können. Leider habe ich es nicht mehr geschafft.

Im Jahr 2011 fand eine Ausstellung seiner Bilder im Museum von Pont-Aven statt:

Yves de Kerouallan (1895 – 1984)
Ombres et Lumières en Bretagne
(Schatten und Licht in der Bretagne)

Pont-Aven

http://www.ouest-france.fr/pont-aven-met-en-lumiere-kerouallan-le-discret-3606

Durch einen glücklichen Zufall entdeckte ich im Internet diese Ausstellung mit seinen Bildern. Ich schrieb an das Museum, schilderte meine Brieffreundschaft mit dem Maler und bat um einen Katalog mit seinen Bildern. Es erschien mir wie ein Wunder als ich tatsächlich einen Katalog über die Ausstellung zugeschickt bekam.
Auf diese Weise konnte ich nach vielen Jahren zum ersten Mal das Werk meines Malers bewundern und seine vielfältigen Bilder betrachten, die mich faszinierten und überraschten. Ich hatte ja keine Ahnung davon, dass er in der Bretagne berühmt war und zahlreiche Werke in unterschiedlichen Techniken gemalt hatte. Gleichzeitig erfuhr ich vieles über sein Leben, über das wir in unseren Briefen nie gesprochen haben. Über die Begegnung und langjährige Freundschaft mit diesem wunderbaren Menschen bin ich dem Schicksal auch heute noch überaus dankbar.

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Das Gedicht SAMMLUNG – RECUEILLEMENT entstammt dem Gedichtband „Les fleurs du mal – choix de poèmes“ von Charles Baudelaire. Die Übersetzung ist nachzulesen unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/-1363/1

Die zitierten Zeilen über das Leben des Malers stammen aus dem Katalog, der anlässlich der Ausstellung in Pont-Aven erschienen war.

Das Experiment (Teil 2)

29 Freitag Apr 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Schlagwörter

Afrika, Arzt, Aufbruch, Ausdruck, Bücher, Bücherausstellung, Charakter, Erfahrung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Gift, Giftschlange, Intensivstation, Männer, Organe, Puffotter, Rettung, Rettungshubschrauber, Wüste

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich meine Kurzgeschichte “Das Experiment” (Teil 1 und Teil 2)

Tagebuch – Dienstag 

Am nächsten Tag in der Wüste schafften wir es, uns zu organisieren: Stefan, wir nannten ihn Chef, teilte die Gruppen nach Leistungsfähigkeit ein. Ältere und gesundheitlich angegriffene Personen wurden zu einfacher Tätigkeit aufgefordert: Sie hatten die Bücher zu sortieren. Es gab Stapel von Büchern, deren Inhalt der Entspannung und Ablenkung von unserer Situation dienen konnten und es gab Stapel von Büchern, die das nötige Sachwissen enthielten, um uns aus dieser aussichtslosen Lage befreien zu können. Und es gab Stapel von Büchern, die zum Verfeuern dienten. „Kein Leben ohne Bücher.“ Klang der Name der Bücherausstellung nicht wie eine Herausforderung? Wir wollten, ja mussten über-leben mit Büchern. Wir nahmen die Herausforderung an. 

Es gelang uns tatsächlich, mit allen möglichen Teilen, die wir in dem Bücherraumschiff fanden, einen besseren Sonnenschutz zu bauen, um Schatten zu haben und Schutz vor der vernichtenden Kraft der Sonne. Aus den Trümmern der bei der Landung zerborstenen Bücherregale machten wir bei anbrechender Dunkelheit ein Feuer, das Licht und Wärme spendete.

Wasser und Nahrung fehlten. Woher nehmen?  

„Kein Leben ohne Bücher.“ Zu unseren wichtigsten Büchern wurden diejenigen von Überlebenskünstlern, von Expeditionsteilnehmern, von Wüstenforschern. Zum Glück hatten wir eine kleine Auswahl dabei. Wir begannen zu studieren, wie man ohne jegliche Erfahrung in der Wüste überleben konnte. 

Erste Schwächeanfälle traten auf. Anna und Karin, fühlten sich nur noch schlapp und erschöpft, wollten sich nicht an unseren Plänen beteiligen. Das durfte Stefan nicht zulassen, denn das wäre ihr schneller Untergang und es würde auch zu Verweigerung bei den anderen führen. Also wurden Thomas und Hannes zu ihren Begleitern ernannt, die die Aufgabe hatten, sie zu unterstützen und zu ermutigen. Ebenso wie Robert wurden sie aufgefordert einfache Aufgaben zu erfüllen.

Die Wassergewinnung wurde zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Eine Gruppe von fünf Männern war dafür verantwortlich: Stefan, unser Chef, Matthias, Paul, Hannes und Thomas. Sie mussten sich aus den Büchern die notwendigen Informationen beschaffen und vor allem mit unseren minimalen Mitteln verschiedene Möglichkeiten ausprobieren.  

Fasziniert las Dr. Wenz wie die Überlebenden versucht hatten Wasser zu gewinnen. Er selbst hatte nie länger darüber nachgedacht, wie das möglich wäre in der Wüste zu Wasser zu gelangen. Unglaublich: Er überflog die Skizzen, die mit ungeübter Hand, aber durchaus nachvollziehbar angefertigt worden waren.

In den Sand wurden Mulden gegraben, die mit Planen oder ähnlichem abgedeckt wurden, an der tiefsten Stelle befand sich unter der Abdeckung ein Gefäß, das das gewonnene Wasser – entstanden aus Verdunstung und Kondensierung – sammelte. Das sollte möglich sein? Nun ja, er war kein Experte in Sachen Überlebenskunst, aber es klang realistisch und schien funktioniert zu haben. 

Nur geringe Wassermengen standen uns nun zur Verfügung. Wir durften sie nur äußerst sparsam verbrauchen. Jeden Abend mussten wir dieses Vorgehen wiederholen. Ein Schluck Wasser wurde zum Kostbarsten, was wir hatten. 

Keine unnötige Bewegung tagsüber, um Wasserverlust durch Schwitzen zu vermeiden! Schutz vor Hitze und Sonne suchen, erst am Abend bewegen. Das wurden unsere wichtigsten Regeln.

Schuhe, Kleidungsstücke ausschütteln, um sicher vor unliebsamen Überraschungen zu sein wie Skorpionen, Spinnen und Schlangen.

Aber wir mussten längerfristig auch Nahrung beschaffen. Insekten? Pflanzen? Wurzeln? 

„Kein Leben ohne Bücher.“ Wir nutzten die freie Zeit, um zu lesen, schöne Texte, Gedichte, Märchen, die alle ein gutes Ende fanden, Liebesgeschichten – jeder hatte seine besonderen Vorlieben. Die Bücher gaben uns Kraft, Mut und Zuversicht, wenigstens für ein paar Stunden. Wir versuchten ganze Textstellen auswendig zu lernen und sie einander vorzutragen, immer in der Hoffnung, unsere verzweifelte Lage dadurch zu vergessen, sie besser verdrängen zu können, um den nahenden Wahnsinn, der sich erahnen ließ abwenden zu können. Alle wussten es, jeden Tag mussten Bücher verbrannt werden, die Auswahl wurde immer geringer: Waren es zuerst scheinbar unnütze Bücher wie z. B. über Mode oder Gartenbau, so rückten unsere wirkungsvollsten Bücher allmählich dem Stapel der zu verbrennenden Bücher immer näher. Niemand sprach es aus, aber alle dachten: Was dann? Wie lange würden wir unsere Texte und Gedichte noch auswendig aufsagen können? 

Intensivstation

Samstag

Dr. Jawara bittet Dr. Wenz um Hilfe. 

1 Uhr 30. Endlich. Das Serum ist eingetroffen. Jetzt muss alles schnell gehen. Gemeinsam mit Dr. Jawara, der Dr. Wenz um Unterstützung gebeten hatte, wird dem Kranken das Antivenin mittels Infusion verabreicht.

Gleichzeitig weiteres Monitoring.

1 Uhr 40. Plötzlicher Blutdruckabfall als Hinweis auf eine allergische Reaktion, der seltenen aber gefürchteten Nebenwirkung auf das Anitvenin. Allergischer Schock. Zustand des Kranken verschlechtert sich; nur mit erneuten starken Mitteln gelingt es seine Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten, ihn zurückzuholen, zumindest in den Zustand wie vor der Gabe des Antiserums.

Zu alldem äußert Dr. Wenz bei Kontrolle der Wunde auch noch den Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom: Gewebe schwillt nach der Bissverletzung an, kann sich aber nicht ausdehnen. Der Druck steigt, das Gewebe nimmt Schaden. Starke Schmerzen.

1 Uhr 45. Dr. Wenz entschließt sich nach kurzer Besprechung mit Dr. Jawara eine Fasziotomie durchzuführen. Er fordert kurzfristig ein Operationsteam an: Anästhesist und OP-Schwestern bereiten den Patienten vor.

2 Uhr 10. Durchführung der Fasziotomie ohne sofortigen kompletten Wundverschluss.

2 Uhr 40. Erfolgreiche Druckentlastung im Bein erkennbar, die Durchblutung und die Nervenleitung scheinen wieder zu funktionieren. Auch der Allgemeinzustand des Patienten hat sich stabilisiert, seine Schmerzen deutlich nachgelassen. Entwarnung – vorläufig.

Die Wachphasen des Operierten wurden im Laufe des Tages zusehends länger. Die weitere Beobachtung der Vitalfunktionen und die Kontrolle und Überwachung der Wunde ließen eine zunehmende Besserung erkennen. Endlich zeigte das Antivenin wohl auch seine eigentliche Wirkung, nicht nur die Nebenwirkungen.

Dr. Wenz war erleichtert: Sein Patient war außer Lebensgefahr, er würde wieder gesund werden, aber es würde dauern, lange Zeit. Ein endgültiger Verschluss der Wunde durch eine Naht würde in der Regel erst nach Ablauf von mehreren Wochen möglich sein. Er konnte also noch einige Zeit mit dem Unbekannten verbringen und er war fest entschlossen, mehr über diesen Mann zu erfahren.

Was hatte er in der Wüste erlebt? Würde er davon berichten können aufgrund seines Gedächtnisverlustes?

Endlich – der Arzt konnte aufatmen und sich von der anstrengenden Nacht erholen. Sein Dienst war bereits seit Samstagabend zu Ende. Noch wollte er die Klinik nicht verlassen. Das Tagebuch beschäftigte ihn ununterbrochen, aber er brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf, ehe er endlich weiter darin lesen konnte.

Tagebuch – Mittwoch 

Schwerer Notfall am frühen Morgen.

Paul hatte sich gleich nach Sonnenaufgang von unserem Lageplatz entfernt, er glaubte in einiger Entfernung einen Strauch entdeckt zu haben, dessen Wurzeln als Wasserquelle dienen könnten. Plötzlich ließ uns ein durchdringender Schrei auffahren. Erschrocken folgten wir Pauls Fußspuren im Sand und fanden ihn in einiger Entfernung keuchend auf dem Boden liegend, beide Hände auf den rechten Oberschenkel gepresst. „Schlange“, flüsterte er heiser. „Sie hat mich gebissen.“ Paul wollte schon aufstehen, aber das ließen wir nicht zu. War die Schlange giftig gewesen? Wir befürchteten es, also war Vorsicht geboten.

Hannes und Thomas setzten ihn auf und trugen ihn auf ihren Armen gemeinsam zurück in unser Lager. Dort betteten wir ihn im Schatten, redeten beruhigend auf ihn ein. Von dem wenigen Wasser, das wir noch hatten, flößten wir ihm in kurzen Abständen schluckweise etwas ein. Die Wunde wurde mit einem Tuch abgedeckt, das Bein ruhiggestellt. Wir versuchten Paul Mut zuzusprechen und machten ihm Hoffnung auf baldige Rettung. Innerhalb von wenigen Minuten schwoll das verletzte Bein stark an, Paul klagte über zunehmende Schmerzen und seine Stirn fühlte sich zunehmend heißer an. Unsere Befürchtung war zu bitterer Gewissheit geworden: Es war tatsächlich eine Giftschlange gewesen.

Am Nachmittag schrie Matthias plötzlich aufgebracht: „Tauben – da fliegen Tauben“ und deutete aufgeregt zum Himmel, an dem tatsächlich – kaum noch erkennbar zwei Tauben über uns flogen und allmählich aus unserem Blickfeld entschwanden. Waren das bereits erste Anzeichen beginnenden Wahnsinns? Hatten wir schon Halluzinationen?  

Wenige Stunden später – kurz vor Einbruch der Dunkelheit entdeckte Anna eine tote Taube im Sand.

Wir waren zunächst sprachlos, dann brach es aus uns heraus: „Wo Tauben waren, mussten Menschen in der Nähe sein … aber Tauben in einer Wüste, wer glaubt daran?“  

Bevor eine wilde Diskussion darüber losbrach, ob wir nun verrückt seien, an einer Einbildung litten oder ob es tatsächlich Tauben waren, versuchte uns Matthias zu beruhigen. „Es waren tatsächlich Tauben und ich weiß jetzt auch, wo wir uns ungefähr befinden: in Afrika in der Nähe von Johannesburg, denn dort findet jährlich ein Wettfliegen von Brieftauben statt, das unter Taubenzüchtern ganz berühmt ist. Mein Onkel hat mir davon berichtet, denn er wollte mit seinen Tauben schon lange daran teilnehmen.“ Wir starrten ihn ungläubig an und unsere Gedanken begannen wie wild zu kreisen, um sich über mögliche Folgen für unsere Rettung klar zu werden. 

„Wo Tauben sind, da sind auch Menschen und unterwegs der Flugstrecke befinden sich womöglich Funker, vielleicht auch Amateurfunker, die das Ganze beobachten und darüber Meldung geben. Funker – diese Leute könnten unseren Standpunkt herausfinden und uns Hilfe schicken.“ Erregtes Gemurmel brach aus, Wortfetzen flogen durch die Luft, alle waren in Bewegung, neue Hoffnung keimte auf. 

Obwohl die Nacht mit Kälte und Dunkelheit inzwischen hereingebrochen war, wollten alle noch darüber reden, was als nächstes zu tun sei. Funken – Amateurfunk, wer hatte da eine Ahnung? Vorerst niemand, aber noch hatten wir einige Sachbücher zur Verfügung, die eventuell weiterhelfen konnten. „Kein Leben ohne Bücher.“

Wir durften unseren Plan, mehr über die Möglichkeit des Funkens zu erfahren nicht länger aufschieben. Die Zeit drängte, Paul brauchte dringend Hilfe. Er hatte starke Schmerzen und Fieber.  Kaum einer konnte ruhig schlafen, jeder dachte an eine nahe Rettung, wälzte sich unruhig hin und her. 

Sie werden es kaum glauben, aber einigen – genauer gesagt unseren beiden Studenten der Elektrotechnik, Hannes und Thomas – gelang es noch in derselben Nacht, wichtige Informationen über das Amateurfunkwesen herauszufinden. Sie begannen unser Bücherraumschiff und unsere Handys nach verwertbaren Teilen zu durchsuchen, um eine Funkstation bauen zu können. Aber – alles war noch ungewiss: Würde das möglich sein? Würde das funktionieren? Und vor allem wann? 

Tagebuch – Donnerstag 

Irgendwann in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag schickten uns Hannes und Thomas zur Ruhe. Sie wollten weitermachen – abwechselnd – beschlossen sie. Ich bin mir sicher, dass in dieser Nacht keiner gut schlief. Wir legten uns hin und lauschten weiter angestrengt unseren angehenden Funkern und den Geräuschen, die zu vernehmen waren. Keine menschliche Stimme ertönte – nur Rauschen und Knacken waren zu hören. Kurz vor Sonnenaufgang klangen auch die Stimmen der Funker erschöpft und matt. Sie legten eine kurze Pause ein, ehe sie weiter machten mit ihren Versuchen, angetrieben von einer enormen Anspannung und der Hoffnung auf Erfolg.

Aber erst am frühen Nachmittag war es soweit: eine primitive Funkstation stand bereit, ein erster Versuch sollte unternommen werden. In erwartungsvollem Schweigen versammelten wir uns um Hannes und Thomas, unsere Funker.

Immer wieder wurde der Funkruf wiederholt:

„MAYDAY, MAYDAY – DIES IST EIN HILFERUF VON NEUN PERSONEN, WIR BEFINDEN UNS IN NOT, ÄRZTLICHE HILFE IST ERFORDERLICH, MANN WURDE VON EINER SCHLANGE GEBISSEN. WIR SIND AUS UNERKLÄRLICHEN GRÜNDEN IN DER WÜSTE GELANDET. WIR KONNTEN ZWEI TAUBEN AUF IHREM FLUG SEHEN, EINE TOTE TAUBE WURDE GEFUNDEN!“  

Erwartungsvolle Stille breitete sich unter uns aus: Alle warteten auf eine Antwort. Rauschen ertönte – Stille – Knacken – Knistern. 

Plötzlich änderten sich die Geräusche – menschliche Stimmfetzen waren zu vernehmen. Noch klangen die Stimmen undeutlich und die Sprache war fremd. Alle waren aufs äußerste gespannt, unsere Funker wiederholten ihren Hilferuf in verschiedenen Sprachen. Wieder gespanntes Warten. Sekundenlanges Schweigen. Funkstille. Rauschen. Knacken. Knistern. Und dann eine menschliche Stimme: 

„WIR HABEN DEN HILFERUF VERNOMMEN. ACHTUNG, WIR SUCHEN EURE POSITION. SOFORT STARTEN ZWEI HUBSCHRAUBER, UM EUCH ZU FINDEN. HALTET DURCH! MACHT EUCH BEMERKBAR!“ 

Da brach die Verbindung ab. Trotz mehrmals wiederholter Funkversuche konnten wir keine Antwort geben. Ich blickte auf meine Armbanduhr, die noch funktionierte: 15 Uhr. 

Stefan suchte schon seit Stunden verzweifelt nach einem Buch über Schlangen in Afrika, in der Wüstenregion, Giftschlangen.

Endlich. Stefan hielt einen Reiseführer in der Hand mit Fotos von gefährlichen Tieren, darunter auch Schlangen. „Welche Schlange war es?“, bedrängten wir Paul, der leise stöhnte, über starke Schmerzen klagte. Ich hielt ihm die Bilder vor die Augen. Nachdem er mehrmals den Kopf geschüttelt hatte, schrie er unerwartet auf: „Die – genau die war es.“ Er deutete auf das Bild einer afrikanischen Puffotter, einer gefährlichen Giftschlange.

Tagebuch – Während der Nacht von Donnerstag auf Freitag 

Wir hatten es geschafft! Es hatte geklappt. Hilfe würde kommen. Wir standen wie erstarrt, ein – zwei Sekunden lang, dann lagen wir uns erschöpft in den Armen, lachend und weinend – gleichzeitig. Die Angst fiel wie ein tonnenschweres Gewicht von uns ab. Eine einzige Nacht lag noch vor uns. Ich rannte zu Paul, wollte ihn beruhigen, „Paul, gerettet, wir werden gerettet, du schaffst das! Sie holen uns mit einem Hubschrauber!“

Stunden später. Mitten in der Nacht.

Ich schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Ungewohnter Lärm hatte mich geweckt. Hubschrauber. – Ein knatterndes Geräusch, das sich langsam näherte, die Nacht durchdrang, immer lauter wurde, bedrohlich laut. Ein unerklärliches Unbehagen überkam mich, da stimmte etwas nicht. Ich rannte zu Paul, warf rasch einige Jacken über ihn. Warum – ich konnte es mir nicht erklären. „Bleib ruhig“, flüsterte ich ihm zu, versteckte mein Buch und einen Stift unter seinen Jacken. „Schreib weiter, später.“ 

Intensivstation

Sonntag

Am Sonntagnachmittag besuchte Dr. Wenz den Kranken erneut. Das Tagebuch hatte er in der Hand und zeigte es dem Mann, der keine Ahnung zu haben schien, was das zu bedeuten hatte. Er las ihm aus dem Buch vor und beobachtete die Reaktion des Patienten. Gleichgültigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Immer wieder schloss er die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

Am späten Abend trat Dr. Wenz wieder vor das Bett. Er hielt das zerfetzte Bild einer Frau in der Hand, zeigte es dem Mann. „Diese Frau – war sie bei euch in der Wüste? Es müssen mehrere Personen gewesen sein. Denken Sie nach!“ Leichtes Kopfschütteln war die Antwort.

Dr. Wenz blätterte immer wieder suchend in dem Tagebuch, als ob er etwas übersehen hätte. Auf einmal entdeckte er einige Wörter, nach vielen leeren Seiten, die in einer anderen Schrift geschrieben waren, schief hin gekritzelt, kaum zu entziffern, in unterschiedlicher Buchstabengröße. Hubschrauber – Nacht – Hilfeschreie – alle weg.

Das hatte ein anderer geschrieben.

Wieder las er dem Geretteten diese Wörter vor, ließ sie ihn selbst lesen, mehrmals. Da ertönte plötzlich das Propellergeräusch eines Rettungshubschraubers, der von der Klinik aus startete und in diesem Augenblick zuckte der Mann zusammen mit vor Angst geweiteten Augen. Panisch wollte er sich reflexartig die Decke über den Kopf ziehen, wollte unsichtbar sein. Aber vor wem und warum?

Dr. Wenz beruhigte ihn. „Keine Gefahr, das ist ein Rettungshubschrauber.“ Als wieder Stille eingekehrt war, setzte sich der Mann im Bett auf und griff nach dem Tagebuch. „Wo sind die anderen? Wo ist Rita?“, wollte er wissen.

Allmählich schienen einzelne Erinnerungsfetzen aus dem Nebel des Vergessens aufzutauchen. Der Arzt zeigte ihm das Bild der Frau erneut. „Rita“, murmelte der Mann „ich habe alles aufgeschrieben. Wo bist du?“ Er begann wieder unruhig zu werden. „Alles ist in Ordnung. Versuchen Sie zu schlafen, Sie sind bald wieder gesund. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Paul, Paul Grassner“, flüsterte er und schlief ein.

Nachdenklich verließ der Arzt das Zimmer, das Tagebuch fest in der Hand haltend.

Intensivstation

Die folgenden Wochen

Im Verlauf der folgenden Wochen besuchte Dr. Wenz täglich seinen Patienten, immer mit dem Buch in der Hand, immer mit der Hoffnung das Erinnerungsvermögen von Paul wieder aktivieren zu können. 

An folgenden Donnerstag blätterte er in seiner Mittagspause in einer Tageszeitung, wollte sie schon schließen, da fiel sein Blick auf einen Artikel mit einer Überschrift, die seine Aufmerksamkeit erregte:

„MYSTERIÖSES AUFTAUCHEN VON DEUTSCHEN PERSONEN IN DER AMBULANZ DES KRANKENHAUSES IN BUJUMBURA, BURUNDI.

Am Mittwoch erschienen acht Personen in der Ambulanz des Krankenhauses und baten um Hilfe. Sie waren auf der Suche nach einer weiteren Person und wussten nicht, wie sie auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus gelangt waren, konnten ihre Namen angeben und ihren Herkunftsort, sich jedoch nicht ausweisen, wirkten sehr verwirrt und sprachen von einem Aufenthalt in einem anderen Krankenhaus, von Operationen und Behandlungen. Genaueres war nicht zu erfahren. Eine der Personen hatte starke Schmerzen. Eine ärztliche Untersuchung ließ erkennen, dass alle Personen frische Operationsnarben aufwiesen, die auf eine Organentnahme hindeuteten. Weitere Untersuchungen ergaben bei fünf Personen, dass eine Niere fehlte und bei den drei anderen war ein Lungenflügel entfernt worden.

Wer waren diese mysteriösen Organspender? Trotz einer durchgeführten Nachfrage in allen Krankenhäusern, die Organverpflanzungen vornehmen, konnten in letzter Zeit nur wenige Organ-Empfänger ausfindig gemacht werden, die jedoch nachweislich andere Spender hatten.“

Unterhalb des Artikels befand sich ein kleines Foto der erwähnten Personen, die trotz der geringen Bildgröße deutlich zu erkennen waren. Es handelte sich um drei Frauen und fünf Männer, alle unterschiedlichen Alters. Eine Frau glaubte er bereits schon einmal gesehen zu haben: Rita, die Frau auf dem Foto, das an der Absturzstelle aufgetaucht war.

Dr. Wenz starrte wie elektrisiert auf das Foto und den Artikel, las ihn zum wiederholten Mal und spürte plötzlich, dass es da einen Zusammenhang gab mit Paul. Er begann das Ungeheuerliche zu ahnen, das da passiert sein könnte, wagte aber nicht, es zu glauben: Wehrlose Menschen als unfreiwillige Organspender missbraucht?

Minuten später nahm Dr. Wenz telefonischen Kontakt mit dem Chefarzt des Krankenhauses in Bujumbura auf und berichtete ihm von seinen Erfahrungen mit Paul Gassner, dem ungewöhnlichen Flugobjekt und seiner Vermutung aufgrund des Tagebuches: Menschen waren Opfer eines organisierten Organhandels geworden. Davon war er nun überzeugt und auch davon, dass es zwischen Paul und der Personengruppe einen Zusammenhang gab. Der Chefarzt versicherte ihm, er werde weitere Nachforschungen einleiten und ihn auf dem Laufenden halten.

Zwei Stunden später stand Dr. Wenz bei Paul am Krankenbett. Er zögerte, dann entschloss er sich zu einem Experiment. Er las den Zeitungsartikel vor, zeigte dem Kranken das Foto, der wie aus dem Nichts aufgetauchten Personen. Mehrmals. Paul ließ keinerlei Reaktion erkennen. Anschließend las der Arzt aus dem Tagebuch die Stelle vor, von der er annahm, dass Paul sie geschrieben hatte und beobachtete Pauls Gesicht dabei. Nichts veränderte sich in dessen Ausdruck. Danach reichte er ihm das ausgebleichte Bild der Frau, das an der Absturzstelle entdeckt worden war. „Rita. Sie hat Sie gerettet, sie hat Sie versteckt vor dem falschen Hubschrauber.“ Dr. Wenz legte auch das Zeitungsfoto auf Pauls Bettdecke und deutete auf das Gruppenbild. „Und hier ist wieder Rita“, erklärte er, indem er mit seinem Zeigefinger auf eine Frau verwies, deren Kopf er farbig umrahmt hatte.

Paul schaute den Arzt verwundert, aber interessiert an, betrachtete abwechselnd die beiden Bilder, dann griff er nach dem Buch. „Ich lasse Sie jetzt allein. Lesen Sie!“, forderte Dr. Wenz ihn freundlich, aber bestimmt auf. „Vielleicht kommt die Erinnerung zurück.“

Am nächsten Tag las ihm der Arzt erneut den Zeitungsartikel vor, zeigte ihm die Bilder. Mehrmals. Paul blieb stumm.

„Paul, ich glaube, ich weiß jetzt, wer Sie sind. Sie sind die gesuchte Person.“ Erst nach kurzem Zögern nickte Paul zustimmend. 

Der Arzt war inzwischen fest davon überzeugt, dass Pauls Erinnerungsvermögen zurückkehren würde. Allerdings brauchte das seine Zeit, er würde geduldig sein müssen. Aber noch war Paul im Krankenhaus, unter seiner ärztlichen Obhut. Leider zeigte er keine erkennbaren Reaktionen, die auf eine Rückkehr des Gedächtnisses schließen ließen. Seine körperliche Genesung machte dagegen deutliche Fortschritte, das Schlimmste hatte er wohl überstanden, aber wo sollte er nach seiner Heilung hin? Was ging in seinem Kopf vor? Sein Aufenthalt im Krankenhaus war begrenzt. Noch immer beunruhigte Dr. Wenz, dass Paul ihm nur seinen Namen gesagt hatte und auch den Namen seiner Heimatstadt, ihm aber keine Auskunft über seine Angehörigen geben konnte. Wohin sollte er sich nach seiner Entlassung wenden?

Eines Nachts – zwei Wochen nachdem Dr. Wenz Paul zum ersten Mal den Zeitungsauschnitt vorgelesen hatte – dröhnten wieder die Propeller eines Rettungshubschraubers durch die Stille. Wenige Minuten danach holte eine Schwester den Arzt an Pauls Bett. Er fand seinen Patienten in aufgewühlter Verfassung vor. Während Paul das Tagebuch in der einen Hand hielt, triumphierend wie eine Trophäe, winkte er ungeduldig mit der anderen Hand den Arzt zu sich heran.

„Hören Sie! Ich weiß wieder, was in der Nacht passiert ist!“, rief er aufgeregt.

„Der Hubschrauberlärm, das Rotorgeräusch! Ich erstarrte vor Schreck und Angst, vergaß in dem Augenblick meine Schmerzen, fragte mich: Was bedeutete dieser Höllenlärm? Die Hilfeschreie, laut, durchdringend, das Rotorgeräusch, das sich langsam entfernte und die Stille, die zurückkehrte und mich wieder umschloss wie einen Sarg. Ich fühlte es, jetzt war ich ganz allein. Warum hatten sie mich versteckt? Erschöpft schloss ich die Augen. ‚Schreib weiter!, hatte Rita geflüstert und mir ihr Tagebuch zugesteckt. Mühsam tastete ich nach dem Buch, in das sie jeden Tag geschrieben hatte, alles, was sie für wichtig befunden hatte, für die Nachwelt, hatte sie lächelnd hinzugefügt. Aber es war kein Scherz. Es gab nur noch mich. Allein – verletzt, ohne Hilfe. ‚Schreib weiter!‘ Also versuchte ich es, ehe ich zu schwach dazu wurde. Mit zitternden Fingern umklammerte ich den Stift, suchte  mühsam blätternd nach einer freien Seite und begann zu schreiben.“

 (Ende Teil 2)

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Danksagung 

An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem wunderbaren Sohn bedanken, der mir diesen Blog vor ungefähr einem Jahr erstellt hat und mich seitdem dabei unterstützt ihn zu verwalten. Er war der erste Leser meiner Kurzgeschichte „Das Experiment“ und hat mir wertvolle Tipps und Anregungen zum besseren Verständnis für alle weiteren Leserinnen und Leser gegeben.  

Mein besonderer Dank gilt meiner besten Freundin, von Beruf Ärztin. Sie hat sich konstruktiv mit dem Inhalt der Geschichte auseinandergesetzt und mich vor allem bei der Klärung der vorkommenden medizinischen Sachverhalte hervorragend und äußerst geduldig beraten. Von ihr habe ich sehr viel gelernt über die Behandlung von Schlangenbissen und die Vorgehensweise von Ärzten.

 

 

 

Das Experiment (Teil 1)

27 Mittwoch Apr 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich meine Kurzgeschichte „Das Experiment“ (Teil 1 und Teil 2)

 

In der Wüste

Der Arzt Dr. Wenz hielt ein zerfleddertes Notizbuch in der Hand und blickte ungläubig auf das Krankenbett, in dem der verletzte Mann lag. Diagnose: Schlangenbiss in den linken Oberschenkel. Der Mann befand sich in akuter Lebensgefahr. Er war bewusstlos und seine Stirn glühte vor Fieber.

Wie hatte dieser Mann überleben können? In der Hitze, im Sand der Wüste, ganz allein?

Er war der einzige Überlebende, der an der Absturzstelle eines geheimnisvollen Flugobjektes aufgefunden worden war. Er war allein und es waren in seiner näheren Umgebung keine weiteren Begleiter zu finden, obwohl gestern im eingegangenen Notruf beide Funker von neun Personen gesprochen hatten, von denen eine, wohl der Mann, von einer Schlange gebissen worden war.

Der ärztliche Notdienst war am Donnerstag, gegen 15 Uhr, alarmiert worden. Und sofort waren zwei Rettungshubschrauber gestartet, um sich auf die Suche zu machen. Einziger Anhaltspunkt: In der Nähe der Absturzstelle waren Brieftauben gefunden worden. Tot, wahrscheinlich vor Erschöpfung. Im Umkreis von Johannesburg, das der Austragungsort des bekannten „South African Million Dollar Pigeon Race“ war, bei dem mehr als 6000 Vögel aus aller Welt teilnehmen, hatten sie sich anscheinend verflogen, waren von ihrer Route abgekommen.

Alle möglichen Streckenverläufe wurden überflogen und der Wüstenboden genau kontrolliert. Es konnte in den nächsten Stunden trotz intensiver Bemühungen keine weitere Funkverbindung hergestellt werden. Aufgrund einer defekten Wärmebildkamera der Rettungshubschrauber musste die Suche während der Nacht eingestellt werden.

Erst am nächsten Tag entdeckten die Retter in den Nachmittagsstunden ein riesiges SOS-Zeichen im Sand, das auf die Absturzstelle verwies. Nach der Landung erkannten die Piloten und die Rettungsmannschaft, dass dieses Zeichen aus Büchern gebildet worden war. Büchern unterschiedlichster Art, zum Teil zerfetzt, verschmutzt, oft nur noch aus Buchdeckeln bestehend. Zunächst blieb keine Zeit für eine genauere Untersuchung.

Die Helfer erwarteten neun Personen und fanden nach intensivem Suchen – fast verborgen hinter einer Art notdürftig errichtetem Schutzzelt – eine einzige Person, den Mann mit dem Schlangenbiss, bedeckt mit mehreren Jacken. In der Brusttasche seines Hemdes steckte ein zerknittertes Blatt Papier mit einem Foto: vermutlich eine Seite aus einem Reiseführer, schlampig, scheinbar in Eile herausgerissen, als ob sie dort in letzter Sekunde entdeckt worden wäre.

Überrascht stellte der Arzt fest: „Puffotter. Der Biss stammt von einer gefährlichen Giftschlange.“ Dr. Wenz drückte dem Piloten rasch das Handy in die Hand: „Rufen Sie in der Klinik in S. an. Schnell, wir brauchen sofort das passende Antiserum. Der Biss stammt von einer Puffotter. Kümmern Sie sich darum. Das ist ein Notfall!“

Dem Arzt kam es wie eine Ewigkeit vor, ehe mitgeteilt wurde, dass das benötigte Serum von einer anderen Klinik angefordert werden müsste. Momentan sei keines zur Verfügung. „Notfall, das ist ein Notfall!“, rief Dr. Wenz aufgebracht ins Handy. „Wir brauchen das Serum – so schnell wie möglich!“

Ein prüfender Blick des Arztes genügte, um festzustellen, dass der Mann neben dem Schlangenbiss deutliche Symptome einer Exsikkose zeigte:

Trockene aufgesprungene Haut der Lippen und Nase. Die Zunge war dick und geschwollen, der Mann konnte kaum reden.

Dr. Wenz untersuchte die Bisswunde und versorgte sie mit Hilfe seines Helfers. Desinfektion – Anlegen eines sterilen Verbandes – Tetanusspritze – Ruhigstellung des Beines.

Mit großer Anstrengung gelang es dem Verletzten die Augen kurz zu öffnen. Er versuchte den Rettern mit letzter Kraft etwas mitzuteilen, war aber unfähig einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Obwohl sich der Sanitäter und der Arzt nahe zu seinem Mund neigten, konnten sie schwer verstehen, was der Mann mit heiserer Stimme flüsterte: „Zu spät … Hubschrauber war schon da – Hilfeschreie – alle jetzt weg.“ Für Dr. Wenz, der aus einer deutschen Familie in Namibia stammte, war es kein Problem, dass der Mann deutsch sprach. Er hatte ihn verstanden.

„Keine Angst, wir kümmern uns um Sie“, versuchte Dr. Wenz den Mann zu beruhigen, während er eine Infusion anlegte und sein Helfer Atmung, Bewusstsein und Herzfunktion überprüfte. Der Verletzte hörte seine Worte nicht mehr, er versank im Schweigen tiefer Bewusstlosigkeit.

Die Helfer legten den Verletzten behutsam auf eine Liege und brachten ihn in das Innere des Hubschraubers. Dort wurde sofort ein EKG geschrieben und Notfallmedikamente zur Herzstützung und Entzündungshemmung gegeben. Im Sofortlabor wurden u. a. Blutzucker und Gerinnung überprüft. Der Patient schien einen gefährlichen Blutverlust erlitten zu haben. Sein Zustand war äußerst kritisch.

Dr. Wenz warf einen besorgten Blick auf den Verletzten und beschloss, kein Risiko einzugehen und keine Sekunde länger zu warten. Er ließ sofort das Krankenhaus, an dem er arbeitete ansteuern, es war das nächstgelegene, auch  wenn es nicht besonders modern ausgestattet war, so musste es doch genügen, den Mann zunächst außer Lebensgefahr zu bringen. Sein Rettungsassistent kündigte sie dort über Funk an. Auf der Intensivstation wurde für die Ankunft und Weiterversorgung inzwischen alles Nötige vorbereitet.

Während der vierzigminütigen Flugdauer wurde der Zustand des Patienten weiterhin beobachtet und kontrolliert. Nach der Ankunft im Krankenhaus erfolgte dann sofort die Überwachung auf der Intensivstation und ständige Anpassung der Therapie abhängig von den auftretenden Symptomen.

Dr. Wenz legte dem Verletzten einen Blasenkatheter zur Kontrolle der Harnausscheidung. So war es möglich, ein drohendes akutes Nierenversagen aufgrund nierenschädigender, blut- und muskelzerstörender Gifteffekte rechtzeitig erkennen zu können. 

Der zweite Hubschrauber blieb vor Ort. Das Rettungsteam, bestehend aus einem weiteren Arzt, einem Sanitäter und dem Piloten durchsuchten zum wiederholten Mal die Umgebung der Absturzstelle und auch das Innere dieses seltsamen Flugobjektes, das einem querliegenden Raumschiff glich. Sie fotografierten das ungewöhnliche Flugobjekt sowie das SOS-Zeichen, geformt aus auf dem Boden verstreuten Büchern. Seltsamerweise waren keine Spuren aufzufinden. Trotz intensiver Suche war nichts zu erkennen, was auf die Anwesenheit mehrerer Personen schließen ließ. Die Landung – woher auch immer – war wohl nicht problemlos verlaufen. Das Flugobjekt lag der Länge nach im Sand und war teilweise zerstört.

Was war passiert? Sie versuchten sich an die Worte des verletzten Mannes zu erinnern. Was sagte er? „Zu spät … Hubschrauber war schon da – Hilfeschreie – alle jetzt weg.“

Es war eindeutig von mehreren Menschen die Rede, das stand fest. Wo aber waren sie geblieben?

Sobald der Mann wieder aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde, könnte er ihnen vielleicht weitere Auskünfte geben.

Der Pilot bestand darauf, noch einmal das Innere des seltsamen Raumschiffes genau zu durchsuchen. Es musste doch etwas zu finden sein. Menschen hinterlassen Spuren, Abfälle. Irgendwo musste doch etwas zu erkennen sein. Irgendetwas. Noch einmal begaben sich die drei Männer in das Innere und blickten sich aufmerksam um: Teile von Büchern lagen verstreut auf dem Boden, gesplittertes Holz kaputter Regale, Glassplitter zertrümmerter Fensterluken.

Plötzlich fiel der wachsame Blick des Piloten auf unscheinbare schwarze Punkte, die sich emsig am Boden bewegten. Ameisen? Eine Ameisenstraße war deutlich zu erkennen. Die Männer verfolgten den Weg der Ameisen, suchten unter den Büchern. Tatsächlich – die Tiere transportierten unermüdlich winzige Krümel, Papierteilchen, Stofffäden, kaum erkennbare Holzsplitter. Unbeirrbar steuerten sie ihr Ziel an: Sie verschwanden wie ferngesteuert in einem Spalt im Boden.

Kurz darauf entdeckten die Männer unter einem Haufen Glasscherben ein Bild, darauf war – kaum noch zu erkennen, von der Sonne ausgebleicht – das Gesicht einer jungen Frau zu sehen. Dunkle Haare, kurz geschnitten, freundliches Lächeln, helle Augen.

Als Dr. Wenz seinen Patienten fürs Erste versorgt wusste, fiel etwas von der Daueranspannung von ihm ab, die er nur zu gut von anderen Notfalleinsätzen kannte. Er schlug das Notizbuch auf.

Tagebuch – Montag 

Diese Zeilen sind eine letzte Nachricht, eine letzte Hoffnung einiger, die es gewagt haben sich noch zu Büchern zu bekennen. Sie werden lachen, sollten Sie jemals von dieser Botschaft zu hören bekommen. Sie werden ungläubig den Kopf schütteln, sie nicht glauben wollen, ja nicht glauben können, so unfassbar erscheint sie. Und doch behaupte ich, dass ich nichts als die Wahrheit sage, die Wahrheit soweit sie mir bewusst ist. Was soll das alles, werden Sie fragen und sich mit anderen Dingen beschäftigen wollen. Ich aber rate Ihnen, obwohl es unbequem ist, lesen Sie meine Botschaft, vielleicht können Sie uns noch retten oder aber sich selbst und viele andere, die ebenso bedroht sind wie wir alle.

Welche Bedrohung, wollen Sie wissen. Sie leben schon lange genug angesichts drohender Umweltkatastrophen, angesichts des über uns schwebenden Damoklesschwertes der Atombombe und selbst der Kriege in unserer Nachbarschaft, die ihre furchteinflößende Wirkung auf uns längst verloren haben. Welche Bedrohung nun also?

Neben all den bekannten Bedrohungen, an die wir uns schon fast gewöhnt haben solange sie uns nicht selbst betreffen, wächst noch völlig unbemerkt mitten in unserem Land eine neue, noch nie dagewesene Gefahr. Aber nun genug, ich muss meine Kräfte einteilen, um noch ein paar Tage überleben zu können, in der Hoffnung auf Hilfe von irgendwoher in irgendeiner Form. 

Wie es genau passierte, daran habe ich keine Erinnerung mehr. An den Tag allerdings kann ich mich genau erinnern, denn noch habe ich die Eintrittskarte samt Datum und sogar Uhrzeit aufbewahrt: Montag, 5. April, 14 Uhr. Die Fahrkarte ins Unglück sozusagen. Mit vielen anderen besuchte ich damals die seit langem angekündigte Bücherausstellung in unserer Stadt. „Kein Leben ohne Bücher“, so stand es in riesigen bunten Buchstaben auf den Plakaten mit denen überall in unserer Stadt für diese Ausstellung geworben worden war. Einmalig, unvergesslich sollte sie sein.

Das Wetter war denkbar schlecht, aber Leute, die gerne lesen, störte das nicht. Es regnete heftig. Immer wieder neu herabprasselnde Regenschauer, gemischt mit Hagelkörnern und starke Windböen trieben die Besucher, die sich in die Ausstellung gewagt hatten in die Ausstellungszelte und vor allem in die „Attraktion“: Zum ersten Mal war zu diesem Zweck ein raumschiffähnliches Gebäude geschaffen worden, das der Länge nach auf dem Boden liegend einem Buch glich, das mit der weithin sichtbaren Aufschrift „Kein Leben ohne Bücher“ einen Menschenstrom anzog und ihn einlud, sich in sein Inneres zu begeben, um die ausgestellten Bücher bewundern zu können.  

Eine enge Wendeltreppe führte in sein Inneres. Zu beiden Seiten schmaler Gänge waren Bücher ausgestellt, seltsamerweise völlig ungeordnet, was mir aber nicht gleich auffiel. Die Enge in dieser Bücherrakete erinnerte mich an das Innere eines U-Bootes, sie erdrückte mich fast und erzeugte ein be­klemmendes Gefühl in mir, so als ob ich in einer Blechdose gefangen wäre. Plötzlich konnte ich kaum mehr schlucken und verspürte das gierige Verlangen nach einem Schluck Wasser und kühler Luft. Das war meine letzte Erinnerung und was dann geschah, wie es geschah, ja überhaupt möglich war, bleibt für mich im Ungewissen. 

Tatsache aber ist, nach unbestimmter Zeit befanden wir uns alle noch in diesem Bücherraumschiff, allerdings an einem anderen Ort, in einem anderen Land. Wir starrten benommen aus den schmalen Luken, die bei der Landung zum Teil zerstört worden waren und konnten es nicht glauben, wollten nicht erkennen, was wir mit eigenen Augen wahrnahmen: Wüste. Wüste um uns herum. Sand, heißer gelbrot glühender Sand, ein unermesslicher Reichtum an Sand umgab uns. Heiße Luft strömte durch die zerstörten Luken, nahm uns den Atem, drohte uns zu ersticken. Wir fühlten uns innerhalb von Sekunden wie in einem heißen Backofen. Schweiß bedeckte uns am ganzen Körper, klebte an uns, rann unaufhörlich unseren Körper hinab. Wir rissen uns die Regenkleidung vom Leib, wollten vorerst nur eines: Abkühlung und frische Luft. Stolperten unsicher aus dem Raumschiff, versammelten uns in dem wenigen Schatten, den es uns bot. 

Dann erst blickten wir uns an, um zu erkennen, mit wem wir denn da gefangen waren an einem Ort, der einer Verbannung gleichkam. Mit wem wir denn nun unser Leben teilen mussten, mit wem wir die vielleicht letzten Tage verbringen mussten.

Fassungslose, erwartungsvolle Blicke wurden getauscht. Jeder schien auf eine Erklärung des anderen zu warten. Das konnte doch nicht wahr sein, sich plötzlich in der Wüste zu befinden, das durfte so nicht sein. Angst, Empörung, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung brachen aus, äußerten sich in aufkommender Panik. 

Intensivstation

Freitag

Der Patient bewegte sich, murmelte undeutlich. Aufmerksam beobachtete ihn Dr. Wenz. Rasch schloss er das Notizbuch, das er in der Hand gehalten hatte. Die Seiten fleckig, teilweise eingerissen und zerknittert, viele Wörter unleserlich, ausgebleicht. Wer hatte das geschrieben? Was war da passiert?

Später. Später, zwang er sich zu denken. Zuerst musste dem Mann geholfen werden. 

Trotz der eingeleiteten Maßnahmen zur Notfallversorgung versank der Kranke immer wieder in Bewusstlosigkeit. Haben wir etwas übersehen, überlegte der Arzt. Lag es am Zustand der Austrocknung? Er besprach sich mit einem Kollegen, der Erfahrung mit Schlangenbissen hatte. Vorerst war kein Versäumnis zu erkennen.

Die Wunde dagegen bereitete dem Mediziner Sorgen: Schwellung und fortschreitende Rötung am Oberschenkel, die gesamte Region wegen der starken Entzündung offensichtlich sehr schmerzhaft und äußerst berührungsempfindlich, Ödeme mit Blasenbildung um die Bissstelle herum, wahrscheinlich beginnende Nekrosen.

Nach weiteren Stunden der genauen Beobachtung und erneuten Kontrolle, auch der Laborwerte, konnte (gegen 22 Uhr) eine leichte Tendenz zur Stabilisierung festgestellt werden. Es gelang auch, den Patienten stündlich aufzuwecken und kurze Zeit wachzuhalten. Allerdings konnte er sich immer noch nicht zusammenhängend äußern.

Dr. Wenz nützte jede freie Minute, in der er nicht gebraucht wurde, um in dem Tagebuch weiter lesen zu können.

Als die ersten, zwei ältere Frauen, durchdringend zu schreien begannen, taten die beiden jungen Männer neben ihnen das einzig Richtige, sie hielten ihnen den Mund zu, versuchten es wenigstens, brauchten aber die Hilfe der anderen. Ratlos blickten die Helfer um sich, denn schon zeichneten sich auf einigen Gesichtern weitere Panikreaktionen ab.  

So durften wir nicht reagieren, das wäre für alle zu gefährlich. Ich blickte mich um, suchte mir schnell einige noch unbekannte Gesichter aus, nickte ihnen aufmunternd zu und stellte mich neben einen älteren Herrn, der ganz langsam immer heftiger zu zittern begann. Um ihn zu beruhigen, legte ich ihm sanft meine Hand auf den Arm.

Endlich sprach da einer, zerschnitt mit seiner wohltuenden Stimme den Vorhang der Angst und Düsternis, der uns zu ersticken drohte. Endlich übernahm da einer die Führung und somit die Verantwortung, war da einer bereit zu helfen. Alle atmeten auf. Die Gesichter entspannten sich, glätteten sich wie das Meer nach einem Sturm. Alle Augen blickten vertrauensvoll auf den einen, der sprach, ein hochgewachsener schlanker Mann, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte: „Ich bin Stefan Koller, 54 Jahre alt, verheiratet und arbeite seit zwanzig Jahren als Filialleiter in einer Sparkasse. Dort bin ich unter anderem auch verantwortlich für die Weiterbildung unserer Mitarbeiter. Keine Sorge. Wir werden diese Situation gemeinsam durchstehen, wenn wir gemeinsam bereit sind, alles Mögliche zu tun. Wir sind zusammen“, er zählte rasch die Anwesenden „neun Personen. Wir dürfen nicht verzweifeln, denn wir können uns die Ideen von neun Gehirnen, die Erfahrungen ebenso vieler zu Nutze machen. Und“, er drehte sich um und deutete lächelnd auf das Innere des Flugobjektes, in dem die Bücher, wild durcheinander auf dem Boden lagen, „wir haben noch viele Helfer um uns. Am allerwichtigsten ist es, Panik zu vermeiden, darüber muss sich jeder von uns klar sein. Jeder.“ Mit Nachdruck sah er uns fest in die Augen, jedem einzelnen von uns, bis er durch ein Nicken die Bestätigung eingeholt hatte. 

In den nächsten Stunden machten wir uns miteinander bekannt. Unser Chef forderte uns zu einer Vorstellungsrunde auf.  

Thomas, 25 Jahre und Hannes 27 Jahre, zwei Studenten der Elektrotechnik, kannten sich vom gemeinsamen Studium an der gleichen Universität, wirkten ruhig und gefasst, als ob sie unsere Notlage nicht erschüttern könnte. Anna, 62 Jahre, gab an Hausfrau zu sein. Sie war Oma von drei Enkelkindern im Alter von drei, fünf und acht Jahren um die sie sich große Sorgen machte, weil sie befürchtete, sie nicht mehr wiedersehen zu können. Karin, alleinstehend, 58 Jahre, arbeitete als Altenpflegerin in einem Altenheim. Robert, 69 Jahre, ehemaliger Versicherungsangestellter, seit fünf Jahren im Ruhestand. Paul, 43 Jahre, verheiratet, eine erwachsene Tochter, war als Landschaftsgärtner bei der Stadtverwaltung angestellt. Matthias, 17 Jahre, angehender Bürokaufmann, befand sich im dritten Ausbildungsjahr. Als letzte stellte ich mich vor: Rita, 32 Jahre, Kindergärtnerin. 

Wir bestimmten Gruppen, die zu wachen hatten, während andere schliefen. Wir teilten uns ein in körperlich kräftige und geschwächte Personen. Wir durchsuchten unsere Taschen nach brauchbaren Dingen. Sonderbarerweise funktionierte keines der vorhandenen Handys mehr. Kein Empfang. Funkstille. Wir kontrollierten unseren Proviant, was sehr wenig war, denn keiner hatte damit gerechnet, in der Wüste zu landen und das für ungewisse Zeit.

Nur wenige hatten überhaupt Essensvorräte dabei, die sie nach kurzem Zögern mit den anderen teilten: einige Äpfel, ein Sandwich, mehrere Packungen Kekse und einige Powerriegel. Fast alle hatten dagegen Trinkflaschen, die zum Teil noch mit Wasser gefüllt waren.

Wir versuchten Bücher zu sortieren, die uns nützlich sein konnten. Aber die ungewohnte Hitze drang in unser Raumschiff, lähmte uns, ließ all unsere eben gewonnene Hoffnung schmelzen, Tropfen für Tropfen im Sand versickern. Wir mussten uns vor der Hitze schützen, auf den Abend, die Nacht mit ihrer Kühle warten. Aus allen geeigneten Kleidungsstücken – Regenmänteln und Jacken – und den zerbrochenen Teilen von Bücherregalen sowie der Bespannung der vorhandenen Regenschirme gelang es einigen von uns, vor dem Bücherraumschiff ein notdürftiges Zeltdach zu errichten, das ein wenig Schutz vor der Hitze gewährte. Reglos und stumm erwarteten wir unsere erste Nacht im Freien in der Hoffnung auf Abkühlung. 

Es dauerte. Stunde um Stunde wehrte sich zu vergehen. Zeit, die sonst immer kostbar, kaum verfügbar war, Zeit umgab uns nun in ungewolltem Ausmaß. Wir saßen, lagen hilflos herum, wühlten in dieser freien Zeit mit unseren Gedanken wie Maulwürfe in der Erde, schütteten Fragen auf, die beantwortet werden wollten – und immer noch blieb ein Übermaß von Zeit.  

Rilke. In dieser Lage an Rilke zu denken schien verrückt. Und doch fielen mir einzelne Wortfetzen seiner Gedichte ein, die ich genoss wie ein Stück Schokolade, ganz langsam auf der Zunge zergehend. „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem …“ 

Endlich war die Temperatur erträglich und es war möglich, unsere erste Nachtsitzung abzuhalten. Wir sprachen über unsere Vorstellungen, wie wir überleben könnten. Wie lange, danach wagte keiner zu fragen, aber ich machte mir wenig Hoffnung. Dreißig Tage ohne Nahrung, drei Tage ohne Wasser. Aber diese Frage musste ignoriert werden, um Panik zu vermeiden.

Heute war Montag, der erste Tag. Heute bekam noch jeder etwas zu trinken. Heute noch … 

Intensivstation

Freitag

Die Schwester rief Dr. Wenz plötzlich. „Der Blutdruck fällt! Blutungen an der Bissstelle sind aufgetreten.“

Eilig warf Dr. Wenz das Buch auf seinen Stuhl und rannte in das Zimmer seines unbekannten Patienten. Die Schwester hatte die Blutung beim Verbandswechsel bemerkt. Der Arzt untersuchte die Wunde und das Gewebe im Umfeld. Bis auf die Blutung war der Zustand der Wunde unverändert. Die neuerlichen Laborwerte deuteten dazu passend auf eine Gerinnungsstörung hin, die Niere arbeitete allerdings noch gut.

„Wo bleibt das Antivenin?“, der Arzt wandte sich an eine weitere Schwester. „Rufen Sie bitte noch einmal in der Klinik in S. an. Wir brauchen es dringend. Es könnte seine Rettung sein.“

Der Patient befand sich wieder in einem Dämmerzustand, bewegte sich jedoch immer wieder und wirkte sehr unruhig. Ab und zu gab er undeutliche Laute von sich, fuchtelte aufgeregt mit den Armen, als wehrte er eine ihm drohende Gefahr ab. Die Schwester strich ihm beruhigend über die Stirn. Plötzlich bäumte der Mann sich auf, stieß einen gellenden Schrei aus und sank erschöpft wieder zurück. Der Arzt und die Schwester blickten sich an. „Glauben Sie, dass er Alpträume hat? Fieberphantasien?“, fragte die Schwester. Stumm nickte der Arzt.

Und erneut fragte er sich: Was war da passiert? Was haben wir übersehen? 

Schichtwechsel

Freitagabend 

Vor Beendigung seiner Dienstzeit besprach sich Dr. Wenz mit seinem Kollegen Dr. Jawara, der Nachtdienst hatte. „Denken Sie bitte daran: Kontrolle in kurzen Abständen! – Beibehaltung aller Intensivmaßnahmen, auch wenn es dem Patienten besser zu gehen scheint! Ich bleibe in der Klinik. Sie können mich bei Verschlechterung des Zustandes rufen. Jederzeit.“ 

Das zerfledderte Buch ließ Dr. Wenz nicht zur Ruhe kommen. Er hoffte auf eine Aufklärung dieser seltsamen Geschichte und begann im Arztzimmer weiter darin zu lesen. 

Noch war es möglich miteinander zu diskutieren, gemeinsam Ideen zu sammeln und erste Pläne für die nächsten Tage zu entwickeln, erste aufkeimende Ängste zu ersticken. Aber wie lange würde das funktionieren? Die lang ersehnte Nacht brachte uns eine unangenehme Kälte, die uns am Schlafen hinderte wie vorher die unerträgliche Hitze des Tages. Allen war klar, wir mussten irgendwie dafür sorgen, ein Feuer machen zu können und dazu geeignetes Brennmaterial finden. Voll wirrer Gedanken im Kopf ließ mich schließlich die Erschöpfung für einige Stunden in einen unruhigen Schlaf fallen, um wenigstens kurz dieser unglaublichen Situation zu entfliehen.   

(Ende Teil 1)

Wish you were here – Kapitel 2

09 Samstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kunst, Kurzgeschichte, Literatur

≈ Ein Kommentar

Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Lehrer, Lehrerin, Mobbing, Schüler, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 2 – Die Situation

Ich haste den dunklen Gang entlang und spüre wieder dieses bleierne Gefühl des Ausgeliefertseins, das mich beinahe zwei Jahre lang lähmte und an meiner Arbeit verzweifeln ließ.

Heute ist vieles anders. Ich kann endlich wieder gehen ohne zu humpeln, Schmerzen im Bein spüre ich nur noch selten, die

flammend rote Narbe unter dem linken Auge beginnt zögernd zu verblassen und wird mit der Zeit ganz verschwinden, so sagen die Ärzte tröstend. Ja, ich hatte wirklich Glück gehabt, das stimmt. Aber ich reagiere immer noch in gewissen Situationen wie damals, muss mir jedes Mal bewusst machen, „das“ ist vorbei, aber ich weiß auch, „das“ kann jederzeit wieder kommen. „Das“, damit ist die Situation eines Lehrers gemeint, der hilflos wie ich vor seiner Klasse steht und nicht fähig ist, seine Funktion auszuüben.

Wish you were here. Wie oft habe ich gewünscht von anderen verstanden zu werden, mit Kollegen darüber sprechen zu können ohne gleich als Versagerin abgestempelt zu werden.

Du, der Sozialpädagoge, wurdest mir als Hilfe angeboten, wohl in erster Linie darum, weil es sich gut machte an einer Schule ein Projekt mit dem Thema „Toleranz“ durchzuführen. Ich nahm das Angebot an, weil ich wollte, dass andere, die nicht in der Lehrerolle steckten, dieses Empfinden mit mir teilen sollten und vielleicht konnte ich ja von ihnen lernen, es besser zu machen. Du sagtest selbst, dein Vorteil mir gegenüber sei, nicht Lehrer zu sein und wieder gehen zu können. Wie oft hatte ich mir das gewünscht: einfach gehen zu können, das Klassenzimmer zu verlassen.

Ich genoss es, wenn du und deine Kollegin mit der Klasse arbeiteten und ich zusehen und beobachten konnte, ohne handeln zu müssen, obwohl es mir manchmal sehr schwer fiel, nicht einzugreifen, das musste ich zugeben.

Zu wenig Zeit hattest leider auch du. Nur kurz konnten wir über die Kinder sprechen, immer in Eile blieb nicht viel Zeit zu ausführlichen Gesprächen. Allerdings wurde mir bald klar, auch du hattest zu kämpfen mit dieser Klasse, aber wie gesagt, du gingst wieder.

Zurück blieb ich mit meiner Wut, meiner aufkeimenden Aggression einzelnen Schülern gegenüber und meiner Hilflosigkeit. Ich war unfähig, diese Kinder irgendwo in der Seele berühren zu können, ihre eiskalte Fassade zu durchbrechen.

Manche hätte ich gerne festgehalten, kräftig geschüttelt bis ihre harte Schale zu bröckeln begann und andere dagegen am liebsten getröstet und im Arm gehalten. „Fassen Sie mich nicht an.“ Dieser Befehl aus Kindermund verfolgte mich.

Eine Mathematikstunde. Klaus streikt. Höhnisch grinsend verweigert er seine Mitarbeit. „Ich brauche gar nichts tun. Meine Mutter kann mir das besser erklären.“ Provokativ schneidet er mir Grimassen, die Lacher sind auf seiner Seite. Ich spüre langsam die Wut in mir aufsteigen, die Ohnmacht sich ausbreiten und einen grenzenlosen Hass auf dieses Kind, das all meine Pläne zunichte macht. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe. Wen sieht es in mir? Ich kann Klaus nicht länger ertragen. „Geh vor die Tür.“ Er bleibt sitzen, spöttisch lächelnd. In wenigen Schritten bin ich bei ihm, schleudere ihn vom Stuhl – „Fassen Sie mich nicht an.“ – und schlage ihm meine Hand klatschend ins Gesicht, links, rechts, links, rechts, rasend vor Wut. „Nun geh und beschwer dich.“  Bedrohliches Schweigen breitet sich im Klassenzimmer aus. Schrill  zerreißt der Gong plötzlich die jähe Stille.  

Ich wachte auf, stellte den Wecker ab und fürchtete mich vor meiner eigenen in mir schwelenden Aggression. Ein rumorender Vulkan vor dem Ausbruch. Von nun an begleitete mich die Angst auszurasten, wirklich einmal die Beherrschung zu verlieren und in eines dieser Gesichter, die mich so höhnisch und provozierend angrinsten in dem Wissen, die schlägt nicht, die wagt es nicht, die darf das nicht,  brutal hineinzuschlagen.

*

Von meinem Chef, unserem neuen Schulleiter erhielt ich ein weiteres Hilfsangebot: In der Lehrerkonferenz wurde beschlossen, dass ich die schwierigsten  Schüler aus dem Unterricht in der Klasse ausschließen durfte, d.h. sie mussten eine bestimmte  Zeit lang in eine andere Klasse gehen. Die Entscheidung musste ich treffen. Was als Erleichterung beabsichtigt war, entpuppte sich als Bumerang: Die ausgeschlossenen Schüler steigerten ihre Aggressionen mir gegenüber, denn ihrer Ansicht nach trug nur ich die Schuld an ihrem Verhalten, sie waren auch der falschen Meinung, sie könnten nur einmal ausgeschlossen werden und nach ihrer Rückkehr in die Klasse benahmen sie sich entsprechend aufsässig.

Boris schaukelt auf dem Stuhl, steckt sich Stifte in die Nase.

Gökhan rennt im Klassenzimmer umher, reißt die Fenster auf, spuckt hinaus, spielt mit dem Lichtschalter, knipst das Licht an und aus, immer wieder, möchte mehrmals hintereinander auf die Toilette, beschwert sich lautstark, weil ich ihn nicht gehen lasse.

*

Einzig wohltuend waren die Stunden, in denen ich unterrichten konnte, während einige Störenfriede ausgeschlossen blieben. Ein Aufatmen ging dann durch die Klasse. So sollte es immer sein, was natürlich eine Illusion war. So blieb es natürlich nicht. Der Ausschluss aus der Klasse führte bei keinem der Betroffenen zu der erwünschten Einsicht über sein Verhalten.

„Fehlendes Unrechtbewusstsein? Seelisch verhungert? Mangelerscheinungen an Gefühlen? Unfähigkeit zu sozialem Verhalten? Spielball ihrer Lust? Unfähigkeit Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren?“ Immer wieder vergebliche Versuche das unfassbare Verhalten vieler Schüler meiner Klasse in Worte zu fassen, Erklärungen zu finden.

Nicht nur ich als Klassenlehrerin, sondern auch andere Fachkollegen standen fassungslos vor diesen Kindern, die nichts schreckte oder überzeugte: stichhaltige Argumente, vernünftige Erklärungen über das Warum und Wieso von gewissen Regeln verpufften, prasselten bei vielen ab. Vom Lehrer erteilte Anordnungen wurden einfach nicht ausgeführt, wurden verweigert mit unvorstellbarer Selbstverständlichkeit. 

„Das mache ich nicht. Sie können mich mal. Halten Sie die Fresse.“ Manuel 

*

„Kommen Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Ein Angebot meines neuen Chefs, von dem ich mich in der ersten Zeit verstanden fühlte. Hieß es am Anfang noch „Es liegt nicht an Ihnen.“, klang es später doch ganz anders. Zu spät wurde mir bewusst, dass mein Chef nicht wirklich an meiner persönlichen Lage Interesse zeigte, sondern vor allem an der Darstellung seiner schulleiterlichen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit. Zu tief steckte ich da schon im Sumpf der täglichen Gehässigkeiten, die mir wie faule Luft entgegenschlugen, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Zu spät erkannte ich die wahren Absichten.

 

Unterwegs zu Freiheit

14 Freitag Aug 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Schlagwörter

Abenteuer, Afrika, Aufbruch, Ausdruck, Charakter, Elefant, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Flaschenpost, Freiheit, Freude, Freundschaft, Herz, Phantasie, Reise, Tiere

Der kleine Elefant lag im Tor zum Licht. Tagein, tagaus lag er da, beobachtete Plitsch-Platsch, die lustigen Delphine, die miteinander spielten, sich unter den Gischtkronen der Wellen versteckten und – kaum waren sie untergetaucht – elegant aus dem Wasser sprangen, um sich gleich darauf wieder unermüdlich zu jagen. Da sehnte er sich danach in die weite Welt zu wandern, um einen Freund zu finden. Stundenlang starrte er in die Meerestiefe, wartete und wusste selbst nicht worauf. So vergingen endlos die Tage bis er eines Morgens, gleich nach dem Aufwachen, als er die Traumtropfen der letzten Nacht energisch abgeschüttelt hatte, auf einmal wusste, ja mit deutlicher Sicherheit sogar fühlte: Heute ist ein besonderer Tag. Heute ist mein Tag. Aufgeregt starrte er in das geheimnisvolle grünblaue Dunkel unter Wasser – und plötzlich stutzte er: eine Flasche stieg geheimnisvoll aus der Tiefe des Meeres empor, schaukelte oben in den Wellen, wiegte sich und trieb ganz langsam auf ihn zu.

Er streckte seinen Rüssel aus, tauchte in das kalte Wasser, fasste behutsam die Flasche am Hals, zog sie an Land und betrachtete sie genauer. Er drehte und wendete sie. Sie war mit winzigen glitzernden Muscheln bedeckt und etwas Helles schimmerte durch den trüben Flaschenhals. A message in a bottle?

Eine kleine Papierrolle fiel heraus, nachdem er den Verschluss geöffnet hatte. Aber abgrundtief war die Enttäuschung, als er feststellte, dass er nicht lesen konnte, was da in geheimnisvollen Zeichen geschrieben stand, versehen mit Pfeilen und verziert mit Zauberblumen, die einen betörenden Duft ausströmten und seine Sehnsucht weckten nach Ferne, nach der weiten Welt, nach Reisen und Ankommen, nach Gemeinschaft und Freundschaft. Ihm wurde ganz schwindlig, als er den Duft einatmete, dabei die Augen schloss und wunderbare Bilder vor seinem inneren Auge auftauchten. Da wusste er, was zu tun war: Er musste sich auf die Reise machen, um den Absender der geheimnisvollern Botschaft zu finden, denn er war sich sicher, dass dieser so fühlte wie er und irgendwo in der weiten Welt auf ihn wartete. Neue Kräfte, die ihn zum Fortgehen drängten, durchströmten seinen Körper und der kleine Elefant spürte großen Mut in ihm aufsteigen. Entschlossen verließ er am nächsten Tag das Tor zum Licht und machte sich auf zu einer Reise ins Unbekannte.

Kurz darauf begegnete er einer winzigen Elfe, die verträumt auf einer Wiese lag und schon früh am Morgen mit glitzernden Tautropfen spielte, die sie in die Luft warf und geschickt wieder auffing mit ihren zierlichen Händen. Fasziniert beobachtete der Elefant sie, während er ausruhte und frisches Grün genoss. „Hallo, kleine Elfe“, sprach der Elefant das zarte Wesen an und versuchte seine laute Stimme zu dämpfen, um es nicht zu erschrecken. „Du willst doch sicher von mir wissen, was auf dem Papier steht, das du in einer Flasche mit dir herumträgst?“, plapperte die Elfe mit einem hellen Stimmchen, das ganz unerschrocken klang.

„Woher weißt du denn das?“, wunderte sich der Elefant und sprach vor Überraschung wieder mit seiner lauten Stimme.

„Ach du, ich fürchte mich nicht vor dir. Du kannst ruhig mit deiner tiefen Stimme reden. Ich kenne dich doch schon so lange. Auf meinen Phantasiereisen bist du mir schon oft begegnet. Ehrlich – ich warte schon seit einiger Zeit auf dich.“

„Ja, wenn das so ist“, wunderte sich der kleine Elefant, „dann kannst du mir vielleicht weiterhelfen.“

„Aber klar: Überquere die große Zauberwiese, gehe vorbei an den Tulpen, geradewegs auf den großen Roten Mohn zu, biege dort links ab zur Weißen Orchidee, und marschiere weiter zu den Zauberblumen, die so stark duften, dass du den Weg nicht verfehlen kannst, du brauchst nur deinen Rüssel in die Luft zu strecken, er wird dir die Richtung weisen. Dort musst du dann weiter fragen“, wisperte die kleine Elfe und warf verspielt mit ein paar Tautropfen nach ihm, die auf seiner schuppigen rauen Elefantenhaut kleben blieben und seine Stirn schmückten – genau zwischen den großen Ohren. Es sah aus, als trüge er Diamanten.

„Danke, danke, du hast mir sehr geholfen.“

„Keine Ursache und viel Glück unterwegs“, sprach die Elfe, kuschelte sich ins Gras, zog sich ein Löwenzahnblatt über das Gesicht und – der Elefant glaubte sich verhört zu haben – schnarchte tatsächlich in leisen Tönen.

Erleichtert machte sich der Elefant auf den Weg, den ihm die Elfe geschildert hatte. Stundenlang marschierte er über die große Wiese, die sich immer weiter ausdehnte, kaum glaubte er am Ziel zu sein, vorbei an den Tulpen, dem Roten Mohn, da endlich drang ihm ein unbeschreiblicher Duft in seinen Rüssel. Das mussten sie sein, die Zauberblumen, endlich, er konnte seine Beine kaum mehr bewegen, spürte eine bleischwere Müdigkeit in seinen Gliedern und einen quälenden Durst. Mühsam kämpfte er sich Schritt um Schritt voran. Die Sonne war längst schon untergegangen und am Himmel leuchteten die ersten Sterne.

„Wasser. Nur ein paar Tropfen Wasser“, murmelte er vor sich hin und torkelte schon leicht vor Erschöpfung. Sein Körper begann zu schwanken und er sehnte sich zurück in das Tor zum Licht, wo er sich den ganzen Tag nicht so anzustrengen brauchte.

Schon hatte er vergessen, wie langweilig ihm da oft war, schon wollte er nichts mehr wissen von seiner Reise um die Welt, vergaß die geheimnisvolle Botschaft und wünschte sich nur Ruhe und Erholung. Urlaub in der Toskana – das wäre jetzt etwas! Ab in den Süden! Vor Müdigkeit glaubte er schon zu phantasieren. Unzählige Turmspitzen und Kuppeln tauchten vor seinem Auge auf, aber das war nicht die Toskana, nein, er befand sich in einer Stadt aus 1001 Nacht.

„Hilfe!“, schrie da in seiner Nähe jemand, der sich in höchster Not befand. Erschrocken blickte sich der Elefant suchend um, aber er konnte niemanden entdecken. „Hilfe!“ Noch lauter gellte der Ruf, noch dringender. Wer brauchte da seine Hilfe? Und wo? Der Elefant drehte sich aufgeregt im Kreis und blickte dabei hinter sich. Vor Staunen und Verblüffung riss er seine Augen weit auf, als er plötzlich erkannte, wer da so verzweifelt schrie.

Ein winzige Katze hing an einem Seil, das zwischen zwei niedrigen Pfosten gespannt war, klammerte sich ganz entsetzt mit den Pfoten daran fest, um nicht herunterzufallen – was übrigens kein Unglück gewesen wäre. Angst stand in ihren weit aufgerissenen kullerförmigen Augen, die in der Dunkelheit grün wie Edelsteine leuchteten.

„Na, na“, sprach der Elefant beruhigend auf das Kätzchen ein, fasste es vorsichtig am Kragen mit seinem Rüssel und setzte es behutsam auf dem Boden ab.

„Was ist denn mit dir los?“ Das Kätzchen zitterte am ganzen Körper, erholte sich aber rasch wieder, putzte sein Fell erst ganz ausgiebig, bevor es flüsterte: „Ich wollte beweisen, dass ich mutig bin.“

„Wem wolltest du das beweisen?“, erkundigte sich der Elefant neugierig.

„Dem kleinen Hamster.“

„Wieso dem denn?“

„Er hat behauptet, dass ich ein Feigling bin, weil ich mich nicht traue auf Bäume zu klettern, obwohl das doch alle Katzen machen. Aber ich traue mich das wirklich nicht. Bäume sind doch so entsetzlich hoch, da bekomme ich Höhenangst, aber das glaubt mir keiner und ich werde immer ausgelacht.“

„Und der Hamster? Ist der mutig?“, wollte der Elefant wissen.

„Weiß ich nicht. Er sagt immer: Komm doch mal rüber, wenn er auf der anderen Seite eines Grabens steht, denn er weiß genau, dass ich mich das nicht traue.“

„Mir geht das auch so“, flüsterte da ein unbekanntes Stimmchen in der Nähe. Beide – die Katze und der Elefant – beugten sich hinter den grauen Stein am Wegrand und scheue Hundeblicke begegneten ihren Blicken. „Dir auch?“, maunzte die Katze erstaunt, „aber du bist doch ein Hund und musst nicht auf Bäume klettern.“ „Das nicht, aber ich soll die Hasen jagen, die mein Herr fangen will, wenn er auf die Jagd geht und das bringe ich nicht fertig, weil sie mir so Leid tun. Und ich kann auch keine Katzen jagen“, fügte er noch schnell hinzu, als er bemerkte, wie die kleine Katze sich mächtig anstrengte und einen Katzenbuckel machte, um ihn einzuschüchtern. „Dann bin ich ja beruhigt“, schnurrte das Kätzchen und die beiden beschnupperten sich vorsichtig.

„Aber was ist denn mit dir los?“ Wie aus einem Munde schrien die beiden entsetzt auf, als der Elefant neben ihnen in die Knie ging und stöhnte „ich kann nicht mehr.“

„Er ist erschöpft“, meinte das Kätzchen.

„Wir müssen ihm helfen“, sagte der Hund.

„Aber wie?“ Beide überlegten und dachten angestrengt nach.

Über ihren Köpfen spürten sie auf einmal einen kühlen Lufthauch und erschraken.

„Keine Angst“, erklang da aus der Luft eine schnarrige Stimme. „Ich bin Federleicht und möchte euch helfen.“ Ein seltsamer Vogel ließ sich auf dem Boden neben ihnen nieder und begutachtete den Elefanten, der kaum vernehmbar seufzte: „Hunger – Durst“.

„Nur ein paar Meter von hier, da sitzt ein Mann, der kann dir helfen. Steh auf, du schaffst das, wir schieben dich hoch, nur ein paar Meter, dann bist du gerettet.“ Federleicht pickte energisch mit seinem spitzen Schnabel in das Hinterteil des Elefanten, so dass dieser vor Schreck schnell aufsprang und automatisch weiter lief, geradeaus, direkt auf den nackten Mann zu, der sich gerade eine Flasche Wasser über Gesicht und Rücken kippte. Endlich. Wasser. Der Mann lächelte, als er die Tiere auf sich zukommen sah und bot dem Elefanten seine Flasche an, die dieser mit dem Rüssel ergriff und sich über den Kopf leerte, wie vorher der Mann. Ein wohliger Seufzer drang aus seiner Kehle. „Ah, das tut gut. Erfrischend. Mehr Wasser, bitte“. Der Mann ließ an einem langen Seil einen Eimer in den Brunnen hinab, zog ihn gefüllt mit dem köstlichen Nass wieder nach oben und reichte ihn dem Elefanten, der seinen Rüssel eintauchte und gierig trank.

„Danke. Vielen Dank“, dröhnte der Elefant. Der nackte Mann nickte freundlich, „gern geschehen“, antwortete er, hüllte sich in sein Gewand, das er vorher abgelegt hatte, und verschwand lautlos in der Dunkelheit.

„Geht es dir jetzt wieder besser?“, fragten die Tiere den kleinen Elefanten, nachdem er sich die letzten Wassertropfen von seinem Rüssel geschüttelt hatte.

„Ich bin wieder topfit und sogar mein Hunger ist wie weggeblasen“, lachte der Elefant.

„Steigt alle auf meinen Rücken, damit wir gemeinsam weitergehen können.“

Die ängstliche Katze und der schüchterne Hund schauten ihn hilflos an.

„Ach, ihr traut euch ja nicht“, kicherte der Elefant, schlang seinen Rüssel behutsam um die Tiere und setzte sie auf seinen Rücken.

Über der Stadt erstrahlten immer mehr unzählige Sterne, die glänzten und funkelten wie Perlen auf dunkelblauem Samt. Der aufsteigende Vollmond goss sein blassgelbes Licht in dichten Strahlen über die Stadt und leuchtete ihnen den Weg. Vor Staunen hielt der Elefant inne.

Unter einem Baum saß eine Frau, die ihren blau schimmernden Körper im Mondlicht badete und sich nicht von den neugierigen Blicken fremder Augen stören ließ. Sie hielt die Augen geschlossen, blickte nur kurz auf, nachdem sie die Schritte des Elefanten vernommen hatte, hob grüßend die Hand und lächelte ihnen freundlich zu. „Entspannung“, flüsterte die kleine Reisegruppe.

„Ihr wollt den Weg wissen, den euer großer Freund nehmen muss, nicht wahr?“, sagte die blaue Frau. „Woher …“, setzte der Elefant überrascht an. „Ich warte schon lange auf dich, wundere dich nicht“, lachte die Frau. „Erhaben wartet auch schon auf dich“, fuhr sie fort. Verwundert blickten sich die Tiere an. Aus der Krone des Baumes herab flog ein Papagei, dessen buntes Federkleid im Mondlicht aufblitzte, landete neben der Frau und stellte sich vor. „Gestatten, mein Name ist Erhaben.“

Federleicht und Erhaben schienen miteinander bekannt zu sein, denn sie begrüßten sich Schnabel wetzend, ehe Federleicht sie einander vorstellte:

„Mein Freund Erhaben. Meine Freunde, der kleine Elefant, die ängstliche Katze und der schüchterne Hund.“ Erhaben nickte ihnen zu und sprach den Elefanten an. „Ich soll dir helfen hat mir die blaue Frau aufgetragen. Was kann ich für dich tun?“

„Ich habe eine Nachricht in einer Flaschenpost erhalten und bin auf der Suche nach dem Absender. Leider kann ich die Zeichen nicht entziffern und weiß daher nicht, welcher Weg mich zu ihm führt.“

„Kein Problem“, meinte der Papagei. „Zeig mir doch mal den Plan.“ Die Flasche wurde geöffnet, der Plan vorsichtig entrollt. Von allen Seiten begutachtete Erhaben die Zeichen und

Ziffern. „Ich hab’ s. Du kannst ihn wieder einpacken“, krächzte er. „Folgt mir. Ich fliege euch voraus.“

Der Elefant mit der Katze und dem Hund auf seinem Rücken machte sich auf den Weg, dem Papagei hinterher. Er marschierte durch ein Gewirr von kleinen verwinkelten Gässchen, vorbei an unzähligen Häusern, marmornen weißen Palästen mit üppigen Gärten, überquerte mehrere steinerne Brücken, passierte einen Marktplatz, begegnete geheimnisvollen schweigenden Gestalten, deren Gesichter verschleiert waren bis auf schmale Schlitze, spürte neugierige Blicke aus fremden Augen, die sie aufmerksam beobachteten, war endlich am Stadtrand angekommen, wanderte einen Hügel hinauf und hatte einen wunderbaren Blick auf die Kuppeln der vielen Paläste, die im Mondlicht golden schimmerten und glänzten. „Wie romantisch“, flüsterten die Tiere andächtig und konnten sich lange nicht satt sehen.

Der Papagei ließ sich auf einem Baum nieder. „Stopp“, meinte er energisch. „Siesta. Bis zum Sonnenaufgang wird jetzt ausgeruht. Ihr habt euch ein Nickerchen verdient.“ Ohne Widerspruch ließ sich der Elefant in das kühle Gras gleiten und fiel augenblicklich mit seinen Begleitern in einen tiefen Schlaf.

Eine blaue Traumgestalt tauchte schwebend aus einem unterirdischen Gang auf, der hinaus in eine unendliche Weite führte. Die Gestalt in dem wallenden Kleid zeigte auf eine Zauberblume und einen Schmetterling, der den Blütenkelch umkreiste. Da fühlte der Elefant wie Hoffnung ihn umhüllte und Zuversicht ihn erfüllte. Er tauchte immer weiter hinein in diese zauberhafte und unergründliche Seeelenlandschaft bis tiefes Blau – Deep Blue – am Horizont erschien und zartblaue Wolken ihn umnebelten.

Lautes Hufgetrappel schreckte den kleinen Elefanten und die kleine Katze und den schüchternen Hund am nächsten Morgen aus ihrem tiefen Schlaf. Erschrocken richteten sie sich auf, blickten verwirrt umher, wussten im ersten Moment nicht, wo sie waren. Staub wirbelte in ihrer Nähe auf, als ein blaues Pferd in wildem Tempo auf sie zu galoppierte, plötzlich stehen blieb und sich aufbäumte zu beeindruckender Größe.

„Hilfe“, miaute die kleine Katze erschrocken und der schüchterne Hund versteckte sich hinter ihrem Katzenbuckel.

„Keine Sorge“, wieherte das Pferd. „Ich bin Cavallo Azzuro, das blaue Pferd und werde euch helfen, den richtigen Weg zu finden. Meine Freunde Eleganz, Temperamentvoll und Ungezähmt werden uns dabei begleiten.“ Kaum hatte der Hengst zu Ende gesprochen, tauchten aus der Ferne drei wunderschöne Pferde auf, die sich in rasendem Galopp näherten und eine aufsteigende riesige Staubwolke hinter sich ließen.

Erwartungsvoll warteten der Elefant und seine Begleiter auf die Ankunft der Pferde.

„Ihr könnt nun ohne mich weiterreisen“, krächzte Erhaben. „Vertraut Cavallo Azzuro und seinen Freunden, denn sie kennen den Weg. Gute Reise und auf Wiedersehen!“ Sprach’ s, breitete seine Flügel aus und flog zurück in die Stadt.

Cavallo Azzurro, der Anführer der Pferde, neigte seinen Kopf Richtung Süden. Der Weg führte den Berg hinunter über die weite sonnenbeschienene Ebene, die sich bis zum Horizont auszudehnen schien. „Dorthin müssen wir“, wieherte der Hengst. „Aber ich bin nicht so schnell wie du und deine Freunde“, gab der Elefant zu bedenken. „Keine Sorge. Wir werden schneller unser Ziel erreichen als du ahnst“, versicherte Cavallo Azzurro und Eleganz, Temperamentvoll und Ungezähmt nickten bestätigend und stellten sich zu beiden Seiten und hinter dem Elefanten auf, während Cavallo Azzurro vor dem Elefanten Stellung bezog.

„Bin ich gefährlich?“, tönte da eine helle Stimme aus der Krone des Baumes, unter dessen Schutz sie die letzte Nacht verbracht hatten. Niemand hörte die Stimme des kleinen Leoparden, der sich träge in eine Astgabel schmiegte und aus der Höhe, im sicheren Schutz grüner Blätter, die Tiere beobachtete. Lautes Hufgetrappel übertönte sie und so antwortete ihm niemand. Fasziniert blickte der kleine Leopard den dahingaloppierenden Pferden nach, in deren Mitte der kleine Elefant mit der ängstlichen Katze und dem schüchternen Hund auf dem Rücken wie von Zauberhand fort getragen wurden. Der Leopard starrte ihnen so lange hinterher, bis nur noch eine wandernde Staubwolke zu erkennen war.

„Du hast ja einen prächtigen Ausblick“, sprach ihn ein bunter Vogel an. Vor Überraschung hätte der kleine Leopard beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre aus dem Baum gepurzelt wie ein reifer Apfel. „Wo kommst du denn her?“ „Von ganz oben, denn dort habe ich den besten Überblick und kann bis zum Horizont alles wunderbar beobachten.“

„Und, ist der Elefant mit seinen Freunden schon am Ziel angekommen?“, wollte der kleine Leopard wissen. „Am Ziel? Wer weiß schon, wo das ist? Ich sehe nur, dass sie wohlbehalten Afrika verlassen haben und Richtung Indien weiterziehen“, antwortete der bunte Vogel etwas

herablassend. „Afrika“ seufzte der kleine Leopard sehnsuchtsvoll. „Afrika, da wärst du doch wohl auch gerne?“ fragte ihn der Vogel. „ Aber ja!“ Plötzlich aber sprang der kleine Leopard auf wie von einer Tarantel gestochen. „Du Spinner“, fauchte er wütend, „wir sind doch alle in Afrika. Das ist doch unsere Heimat.“ „Haha“, lachte der bunte Vogel spöttisch. „Hereingefallen.“

Beleidigt sprang der Leopard vom Baum und stolzierte majestätisch davon, ohne den Vogel noch eines Blickes zu würdigen. Er bemerkte auch nicht, dass sich in einiger Entfernung bunt gekleidete Gestalten rasch in Sicherheit brachten, nachdem sie seine geschmeidige Gestalt entdeckten hatten. Immer noch wütend auf den hochnäsigen Vogel, ganz versunken in unsinnige Rachegedanken, achtete er nicht weiter auf den Weg.

Der kleine Elefant, die ängstliche Katze und der schüchterne Hund hatten vor Angst ihre Augen fest geschlossen, nachdem die wilde Reise mit den Pferden begonnen hatte. Sie wagten lange Zeit nicht die Augen zu öffnen. Erst nachdem sie fühlten, dass sie sich nicht mehr in rasendem Tempo bewegten, blinzelten sie vorsichtig mit den Augenlidern und schließlich überwand Neugier ihre Furcht und sie öffneten mutig die Augen. In ihrer Nähe erholten sich ihre Begleiter, die Zauberpferde. Sie grasten ganz gemächlich auf einer Wiese, deren frisches Grün wie gemalt wirkte.

Nach einiger Zeit begann sich der Elefant beobachtet zu fühlen. Verunsichert blickte er um sich. Einige Meter vor ihm begegnete sein aufmerksamer Blick den unerschrockenen Blicken mehrerer Tiger, die ihn belustigt beobachteten und ihm gelassen entgegensahen. Respektvoll blieb der Elefant in sicherer Entfernung vor ihnen stehen und blickte bewundernd auf die riesigen Gestalten, deren Fell in goldenen und schwarzen Streifen in der Sonne glänzte. Königliche Würde umgab die kräftigen geschmeidigen Körper, die friedlich in der Savanne ruhten.

Der Elefant wusste jedoch, dass ihre Ruhe durchaus täuschen konnte und war sich der Schnelligkeit und Kraft dieser Tiger bewusst. Wild Life. Wildes Leben, das war es, was sie bevorzugten. Wild lebten sie und gefährlich waren sie für alle jene, die sie sich zur Beute auserkoren hatten. Die kleine Katze und der ängstliche Hund auf seinem Rücken wussten das allerdings auch und sie begannen jämmerlich zu klagen, als sie die Tiger erblickten.

„Ihr braucht euch nicht zu fürchten“, beruhigte sie der größte der Tiger mit dunkler Stimme. „Bald seid ihr am Ziel eurer Reise angelangt. Folgt uns, wir werden euch weiter führen.“ Die Tiger erhoben sich zu ihrer vollen Gestalt, reckten und streckten sich und dehnten genüsslich ihre Glieder. Sie wendeten ihre herrlichen Köpfe nach Süden. Dorthin führte nun ihr Weg. Der Elefant bedankte sich bei den Pferden und Cavallo azzurro wünschte ihm und seinen kleinen Freunden eine gute Weiterreise und versprach, ihn mit den anderen Pferden eines Tages zu besuchen.

Erwartungsvoll marschierte der Elefant den Tigern hinterher. Er verspürte einen nie gekannten Bewegungsdrang, der seine Beine unaufhörlich und in immer rasenderem Tempo vorwärts laufen ließ. Nach einigen Stunden ballten sich in der Ferne gefährlich schwarze Wolken am Horizont zusammen, eine finstere Wand türmte sich vor ihnen auf. Sie vernahmen leises Grollen, das in Sekundenschnelle zu bedrohlicher Lautstärke anstieg. Grelle Blitze zuckten wie Feuerschwerter aus der dunklen Wolkenwand, gefolgt von ohrenbetäubenden Donnerschlägen. Schwere Regentropfen prasselten unaufhörlich auf sie nieder. Der Elefant glaubte für Sekunden sich in einem Bild von Picasso, dem berühmten Maler, zu befinden. Erschrocken wollte er stehen bleiben, aber er konnte nicht anhalten. Orkanartige Windböen peitschten ihn mit wütender Gewalt vorwärts. Wie von Zauberhand bewegt musste er weiterlaufen, immer den Tigern hinterher, deren goldene Streifen im Licht der Blitze, die unaufhörlich nieder zuckten, aufleuchteten und ihm den Weg wiesen. Die ängstliche Katze und der schüchterne Hund krallten sich in Todesangst verzweifelt an seinem Rücken fest.

Endlich. Weiße Häuser tauchten wie aus dem Nichts vor ihnen auf, vom Regen blank gewaschen, letzte Blitze leuchteten auf, die Donnerschläge verstummten allmählich. Der Regen ließ nach und der Wind beruhigte sich. Der Elefant und seine kleinen Freunde atmeten erleichtert auf. Das Donnerwetter war überstanden.

Sie ließen die weißen Häuser zurück und bewegten sich mühelos vorwärts, verspürten weder Hunger noch Durst, weder Erschöpfung noch Müdigkeit.

In der Morgendämmerung erkannten sie, dass sich das Land um sie herum verändert hatte. Erstaunt blickten sie sich um. Vor ihnen erhoben sich riesige Bäume, die Schatten und Kühle spendeten. Ein frischer Wind hatte sich erhoben und begleitete sie auf ihrem kaum erkennbaren Weg durch den dichten Wald, der bald einem undurchdringbaren grünen Dschungel glich. Unbekannte Geräusche ließen die Freunde immer wieder zusammenzucken. Alle Tiere, die die gefährliche Nacht überlebt hatten, freuten sich so darüber, dass sie das jeden Morgen lautstark allen Dschungelbewohnern kundgaben. Ein Gezwitscher, Gefiepe, Gegrunze und Geraune brach los und für kurze Zeit herrschte ein Höllenspektakel.

„Wahre Lebensfreude“, erklärte der Anführer der Tiger gelassen und gähnte herzhaft. Die ängstliche Katze und der schüchterne Hund warfen einen schnellen Blick in das riesige Maul des Tigers und klammerten sich ängstlich aneinander. Der Tiger lachte. „Nur noch ein kurzes Stück“, versprach er dem Elefanten.

Seltsame Gefühle beschlichen diesen, so kurz vor dem Ziel – er wusste nicht, was ihn erwartete. Vielleicht wäre er besser doch bei den Delphinen geblieben? Angst wollte ihn packen und Zweifel ihn verunsichern, da hörte er, wie die kleinen Freunde auf seinem Rücken überrascht aufschrien. „Schau doch!“ Aufgeregt sprangen sie auf seinem Rücken hin und her und deuteten dabei in eine bestimmte Richtung.

Es dauerte einen langen Moment, ehe der Elefant seinen Artgenossen erblickte: Ein weißer Elefant stand reglos im Schatten eines riesigen Baumes, starrte ihn unentwegt an und plötzlich – wie auf ein unsichtbares Kommando – rasten die beiden aufeinander zu, stießen laute Freudenschreie aus, erhoben ihre Rüssel und begrüßten sich liebevoll.

„Willkommen meine Freunde“, trompetete der weiße Elefant fröhlich. „Endlich seid ihr bei mir angekommen. Mein Name ist Freiheit und ich erwarte euch schon lange.“

Der kleine Elefant wollte seinem neuen Freund die Flasche mit der geheimnisvollen Botschaft, die ihnen den Weg gewiesen hatte, überreichen. Verwundert stellte er fest, dass die Flasche mit einem Mal so schwer war, dass er sie nicht mehr halten konnte. Sie plumpste auf den Boden und zersprang in Tausende von Scherben, die sich im Nu in bunt schillernde Schmetterlinge verwandelten, die um ihre Köpfe tanzten und allmählich wie eine farbige Wolke in den Himmel aufstiegen. Zurück auf dem Boden aber blieb etwas liegen, das alle fasziniert anblickten: Ein faustgroßes Herz, gebrannt aus rotem Lehm, durchzogen von tiefen Furchen.

„Das sind die Spuren des Lebens, die euch zu mir geführt haben“, erklärte der weiße Elefant glücklich.

Hausbesichtigung

05 Mittwoch Aug 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Efeu, Einsamkeit, Erfahrung, Garten, Gedanken, Gefühle, Haus, Katze, Verlassenheit, Vermutungen, Verwilderung

Seit langem schon komme ich auf meinen Spaziergängen an dem leerstehenden Haus vorbei. Es steht ein Stück außerhalb des Waldes, den ich nun bald kenne wie meine Hosentasche. Nur dieses alte Haus, von dem ich annehme, dass es leersteht, habe ich noch nie aus der Nähe betrachtet. Heute aber biege ich entschlossen von meinem gewohnten Weg ab und gehe mit seltsamen Gefühlen auf dieses Haus zu. Dabei möchte ich unterwegs keinem begegnen und bin froh, als ich endlich davorstehe.
Ein verwilderter Garten umgibt das Haus wie einen schützenden Wall. Das Gartentor ist halb geöffnet und es quietscht, als ich es vorsichtig ganz aufdrücke, um einige Schritte in den Garten zu wagen. Kein Mensch ist zu sehen, keine Geräusche sind zu hören. Angespannt lausche ich in die Stille, bleibe einen Augenblick zögernd stehen, aber meine Neugierde verdrängt schließlich meine unbehaglichen Gefühle und entschlossen gehe ich weiter.Der Weg zum Haus ist fast schon zugewachsen mit Efeuranken, die die Hausmauern bedecken und sich auch auf dem Boden besitzergreifend in allen Richtungen ausbreiten. Wenige Schritte noch und ich stehe vor der Haustür, die nur angelehnt ist.
Erwartungsvoll öffne ich sie. Modergeruch schlägt mir entgegen und ich stehe plötzlich in einem dunklen Flur. Zuerst können meine Augen kaum etwas erkennen, aber ich spüre ganz deutlich, dass ich beobachtet werde. Erst bin ich erschrocken und möchte zurückweichen, da höre ich aus der Ecke hinter mir ein leises Fauchen, eine Katze beobachtet mich. Miit freundlichen Worten versuche ich das Tier hervorzulocken aus der finsteren Ecke. Es dauert eine Weile, dann schleicht die Katze langsam, aber immer noch misstrauisch, näher.
Sehr mager und verwahrlost  sieht sie aus. Das rotbraune Fell fühlt sich struppig an. Ihre rechte Vorderpfote ist verletzt, deshalb hinkt sie ein wenig. Leise miauend streicht sie um meine Beine, in der Hoffnung, ich werde ihren Fressnapf füllen. Ich wühle in meinen Taschen, aber ich finde nichts, was ihren Hunger stillen könnte.
Auf dem Küchentisch entdecke ich eine leere Kaffeetasse, daneben liegt aufgeschlagen eine Zeitung, deren Seiten längst vergilbt sind. Der Stuhl ist weggeschoben, als ob gleich jemand zurückkommen würde, um weiterzulesen und sich nebenbei eine Tasse frischen Kaffee einzugießen.
Ich überlege, wer hier gewohnt hat: ein Mann, eine Frau? Obwohl ich außer der Katze keinen störe, bewege ich mich sehr leise und erschrecke jedes Mal, wenn der Fußboden laut knarzt und die Katze immer wieder klagende Laute von sich gibt. Angespannt öffne ich die nächste Tür und bin im Wohnzimmer.
An den Wänden kleben noch Reste von ehemals geblümten Tapeten. Aus dem abgewetzten Polster des kleinen gemütlich wirkenden Sofas ragt wie ein drohender Finger eine rostige Sprungfeder. Ein rundes Tischchen, zierlich mit einem verschnörkelten Bein aus Eisen, steht davor. Auf der zerkratzten Tischplatte liegt, mit der Titelseite nach unten, ein abgegriffenes, wahrscheinlich oft gelesenes Buch und griffbereit daneben, eine Brille mit starken Gläsern. In der Ecke entdecke ich einen Schaukelstuhl, der sehr einladend aussieht. Aber ich wage nicht, ihn auszuprobieren, obwohl ich es gern getan hätte.
Stattdessen blicke ich aus dem großen Fenster, dem einzigen im Raum. Die zum Teil gesprungenen Scheiben geben den Blick frei auf den riesigen Garten, der sicher einmal ein kleines Paradies war. Aber inzwischen macht sich auch hier unaufhaltsam wilder Efeu breit und der Garten verschwindet allmählich unter einer grünen Decke.
Ein klirrendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meinen Gedanken und ich zucke heftig zusammen. Schnell drehe ich mich um, verspüre rasendes Herzklopfen und befürchte schon, in der nächsten Sekunde dem Bewohner des Hauses gegenüberzustehen. Da erkenne ich erleichtert, dass die Katze mit einer alten, verbogenen Stricknadel spielt, die sie unter dem Schaukelstuhl hervorgeholt hat. Aus dem verblichenen Korb daneben zupft sie nun ein Wollknäuel nach dem anderen und beginnt, die ausgebleichten Fäden am Boden wie wild hin und her zu zerren. Dabei schaut sie mich immer wieder fragend an, als ob sie mich zum Spielen auffordern möchte.
Ich aber fühle mich gepackt von einer unwiderstehlichen Neugier, die mich drängt, in den nächsten Raum zu gehen.Neben dem zerwühlten Bett, dessen schmutziger Bezug an vielen Stellen zerlöchert ist, entdecke ich einen Rollstuhl. Betroffen bleibe ich stehen und bin sonderbar berührt, komme mir vor wie ein Eindringling, der, ohne es zu wollen in die Intimsphäre eines anderen vorstößt. Am liebsten würde ich gleich wieder umkehren, dieses Zimmer verlassen, aber wie gebannt bleibe ich stehen, weiß selbst nicht warum. Und jetzt bemerke ich erst den Kleiderschrank. Weit aufgerissen sind seine Türen, ein ausgebeulter Koffer steht davor. Überall, auf dem Boden verstreut, liegen achtlos hingeworfene Kleidungsstücke herum.
Es sieht aus, als hätte jemand fluchtartig das Haus verlassen müssen, ohne genügend Zeit zu haben, in Ruhe packen zu können und Ordnung zu schaffen.
Was aber mag der Grund dafür gewesen sein? Eine Krankheit – unerwartet aufgetreten? Eine Einweisung ins Altersheim – überstürzt vorgenommen? All das erscheint mir unwahrscheinlich. Nie werde ich den wahren Grund erfahren, kann ihn nur erahnen.
Draußen scheint die Sonne, aber ich friere. Ein letztes Mal drehe ich mich um, versuche, mir möglichst viele Einzelheiten einzuprägen: Die zarten Spinnweben zwischen der Gardinenstange und dem Lampenschirm kunstvoll gespannt, die zerbrochene Fensterscheibe blind vor Schmutz, auf dem Schrank unförmige Pappkartons, sorgsam verschnürt und dick mit Staub bedeckt.
Jetzt erst nehme ich den unangenehmen Geruch im Raum wahr. Die feuchten Wände, mit grauem Schimmel bedeckt, verbreiten einen Hauch von Verwesung.
Langsam ziehe ich mich zurück, sehne mich nach frischer Luft und wärmender Sonne. Die rotbraune Katze begleitet mich lautlos bis zur Haustür. Sie hat anscheinend immer noch Hoffnung auf einen Leckerbissen. Gedankenverloren streichle ich sie. Dabei spüre ich die Wärme ihres mageren Körpers, der sich eng an meine Beine schmiegt. Einen kurzen Augenblick nur – bevor ich sie verlasse – genießen wir beide unsere gegenseitige Nähe als Zeichen unserer Lebendigkeit.

Mütter

29 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Frau, Frauen, Geburt, Glück, Mütter, Väter

Hände_small

Innerlich aufgewühlt war sie von einem Besuch im Krankenhaus zurückgekommen. Nein, es war kein trauriger Anlass gewesen und auch nicht beunruhigend, wirklich nicht. Sie hatte eine Freundin besucht, die vor wenigen Tagen ihr zweites Kind geboren hatte, ein Mädchen.
Die glückliche Mutter hatte ihr in allen Einzelheiten den Verlauf der Entbindung erzählt, eine Traumgeburt wie es schien. Alles lief wie erwartet. Ihr Mann war anwesend, sie konnte auf Schmerzmittel verzichten und alles bewusst miterleben. Geduldig hatte sie zugehört und versucht, die leisen Neidgefühle, die irgendwo tief aus ihrem Inneren auftauchten, weit weg zu verbannen. Sie schämte sich deswegen, konnte mit niemandem darüber reden.
Gewiss, sie gönnte ihrer Freundin diese Traumgeburt. Gerade ihr, denn sie hatte bei ihrer ersten Tochter nicht so viel Glück gehabt. In letzter Minute, nach stundenlangen Wehen bekam sie noch einen Kaiserschnitt, was sie damals sehr frustriert hatte. Eine große Hilfe war ihr Mann, denn sogar während des Kaiserschnittes war er anwesend und leistete seelische Hilfestellung. Aufmerksam hörte sie ihrer Freundin zu und versuchte dabei ehrlich Freude zu empfinden. Hanna drückte ihr auch gleich das Baby in den Arm, vertrauensvoll. Da saß sie nun und spürte wieder den weichen duftenden Körper eines Neugeborenen. Wann hatte sie zum letzten Mal ihr eigenes Kind so im Arm gehalten?
Ohne es zu wollen tauchten ungerufen immer wieder Bilder auf, die sie längst vergessen glaubte. Langsam ahnte sie wieder das unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie überflutete als sie ihren Sohn zum ersten Mal auf den nackten Bauch gelegt bekam, blutverschmiert noch die zarten Finger, soeben aufgetaucht aus ihrem sicheren Inneren, abhängig nun von ihr und sie von ihm, eine unbekannte Zeit lang.
Ein Gefühl der Trauer verspürte sie immer noch, wenn sie an ihren zweiten Sohn dachte, den sie nach einem einsamen Kaiserschnitt nicht zu sehen bekommen hatte. Er musste sofort in eine Kinderklinik gebracht werden wegen einer Komplikation, die ihr bis heute noch niemand ausführlich erklärt hatte. Sie hatte sich die Nacht hindurchgequält, war jede Stunde von der Schwester geweckt worden, hatte Schmerzen ertragen, in der Hoffnung, am anderen Tag hätte sie das Schlimmste bereits überstanden. Sie freute sich auf das Kind, auf Besuche und Blumensträuße. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis die Erkenntnis durch ihr vernebeltes Bewusstsein drang, das Kind war ja gar nicht hier, es war fort, lag ebenso einsam wie sie in einem Bett und keiner tröstete es. Am anderen Morgen traf sie ein zweiter Schock. Sie wurde von einer Minute auf die andere ohne große Erklärungen in ein anderes Krankenhaus gebracht, angeblich war etwas nicht in Ordnung mit ihr.
Unfähig zu reden lag sie im Krankenwagen, hilflos ausgeliefert. Mit aller Kraft versuchte sie nicht zu weinen. Nur nicht weinen, nur keine Tränen, denn sie hätte nicht mehr aufhören können, lange Zeit nicht. Auf keinen Fall wollte sie hysterisch sein, nein stark, aber das tat so verdammt weh. Keiner hatte je hinterher gefragt, wie sie sich dabei gefühlt hatte und es hätte ihr so gut getan, darüber reden zu können.
Verdammt, diese dummen Gedanken schossen ihr immer wieder durch den Kopf, wenn sie Besuch auf einer Entbindungsstation machte. Ein freudiger Anlass. Alle waren fröhlich, überall herrschte entspannte Stimmung. Aber sie war sich sicher, dass es auch hier Frauen gab, deren Entbindung nicht so komplikationslos verlaufen war, deren Kind vielleicht in einer Kinderklinik lag und die deshalb litten, während um sie herum die glücklichen Mütter stolz auf ihre gesunden Kinder waren. Sie konnte gerade die unglücklichen Mütter gut verstehen. Irgendwoher kam da jedes Mal eine Wehmut, die sie stets überfiel bei solchen Besuchen und die eine quälende Unruhe bei ihr hinterließ. Wirklich, sie gönnte ihrer Freundin das Glück, aber sie beneidete sie auch ein wenig um ihren Mann. Ja, sie gab es ehrlich vor sich selber zu. So war es. Jetzt wusste sie plötzlich woher ihre traurigen Gefühle kamen.
Sie hatte beobachtet wie glücklich auch er war. Beide badeten das Kind, aber er war der Hauptakteur. Behutsam trug er das Baby, badete es und wickelte es. Durch die Glasscheibe sah sie zu und sehnte sich danach, dass ihr Mann auch einmal bereit wäre, ihr so zu helfen. Noch strahlten die jungen Mütter und Väter beim Baden und Wickeln ihrer Töchter und Söhne, noch hatten sie keine Ahnung was sie alles mit ihren Kindern erleben würden. Vor allem die Nächte fielen ihr dabei wieder ein. Schlaflos die Kinder, übermüdet die Mutter. Aber auch die Nächte konnte man sich teilen, wenn man nur wollte. Ihr war es nie gelungen, jahrelang hatte sie darunter gelitten. Wie sie ihren Mann hätte davon überzeugen können, sie wusste es nicht, weiß es heute noch nicht. Vorbei, diese Zeit, aber was bleibt ist die Erinnerung und die Vorstellung wie es hätte sein können, das Idealbild lässt sich nicht vergessen.
Äußerlich fröhlich verabschiedete sie sich von dem Elternpaar, länger wollte sie nicht stören.
Nachdenklich stieg sie ins Auto und begann sich über ihre unbehagliche Stimmung zu ärgern. Zuhause ging es ihr nicht besser. Sie fühlte sich aufgewühlt, von den Wogen der Erinnerung verschlungen. Da half kein Verdrängen. Mutig stellte sie sich ihren Gedanken, nur dann, das wusste sie aus Erfahrung, wurde sie wieder ruhiger, ein bisschen wenigstens. Sie griff nach einer Tafel Schokolade, einem Trostpflaster, was ihr auch völlig bewusst war. Aber sie wollte nur ihre innere Ruhe wieder haben und begann langsam ein Stück nach dem anderen in den Mund zu schieben, wohl wissend, dass sie sich selbst täuschte.

Josef

22 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Bruder, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Flucht, Schicksal, Schuld, Tod, Verrat, Verzweiflung, Vorherbestimmung, Zweifel

Josef-small

Jetzt sind sie beide tot. Endlich kann ich dir schreiben, denn mein Zorn ist verraucht und geblieben ist die Trauer über den Tod unserer Söhne. Du wirst dich fragen, woher mein Zorn kommt. Ich werde dir antworten:
Es war dein Sohn, der mir meinen Sohn entfremdet hat. Plötzlich war ich allein, ohne Hilfe, die ich so nötig hatte. Aber dir ging es ja nicht anders. Auch du warst allein. Ich habe lange nachgedacht und versucht mich in deine Lage zu versetzen. Wie hast du es ertragen können, einen Sohn aufzuziehen, von dem nicht bekannt war, dass du ihn gezeugt hast? Ein Sohn, der dich nicht zum Vorbild nahm. Du sahst ihn aufwachsen, umsorgt von der Liebe deiner Frau. Wie oft haben dich wohl Zweifel geplagt über seine Herkunft? Ein Kuckucksei, das man dir ins Nest gelegt hatte. Wie stark hast du wohl geglaubt an deine Frau? Es gingen vielerlei Gerüchte um, die ein schales Licht auf dich und deine Familie warfen. Es ist bekannt, dass du immer zu deiner Frau und deinem Sohn gehalten hast. Mir und meiner Frau erschien das lange Zeit unerklärlich. Wie waren wir doch stolz auf unseren einzigen Sohn, der neben mir in der Werkstatt stand und mir von klein auf  bei meinem Handwerk zusah, begierig es möglichst schnell zu erlernen, was ihm auch gelang. Wir beide wissen, was es bedeutet für den eigenen Handwerksbetrieb den richtigen Nachfolger zu haben, einen, für den es sich lohnt, die ganze Mühe auf sich zu nehmen,  seine Kräfte zu verschwenden, um dann im Greisenalter von den Früchten der eigenen Arbeit zehren zu können. Ich hatte wohl die besten Aussichten auf ein ruhiges Dasein im Alter mit meinem Sohn als Nachfolger, der sich um unsere Familie kümmern würde. Du aber? Wie man so hörte, fiel dein Sohn ganz aus der Reihe. Er war nicht zum Handwerker bestimmt, weigerte sich die Hände schmutzig zu machen, wollte sich nicht plagen mit schweren Arbeiten und lehnte es ab, in der Hitze seinen Schweiß zu vergießen, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Dein Sohn trieb sich stattdessen in der Gegend herum, hielt kluge Reden und fand sogar einige Anhänger, die dem Faulenzen nicht abgeneigt waren und sich ihm anschlossen zum Ärger derer Familien.
Du bist stumm geblieben, hast einfach mehr gearbeitet, nie ein böses Wort verloren, sagt man. Aber mal ehrlich: Was hast du wirklich gedacht, gefühlt? Von deiner Frau verwöhnt, ohne jede Rücksicht auf dich und dein Alter, in dem die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht, zog dein Sohn frei nach seinem Geschmack herum, sorglos, rücksichtslos. Viele haben sich damals gefragt, hinter vorgehaltener Hand, wie kann Josef, das Familienoberhaupt dieses respektlose Verhalten dulden? Viele zweifelten an deinem Verstand, erwarteten ein strengeres Vorgehen, einen Beweis deiner Autorität dem Sohn und seiner Mutter gegenüber. Die Mutter war vielleicht zu jung, zu jung für dich, Josef und zu jung für dieses schwierige Kind, das schon in frühen  Jahren selbstständige Wege ging.
Hatte dein Sohn Freunde in seinem Alter? War er schon von klein auf ein Rebell? Ich habe ihn erst später kennen gelernt, zu spät. Da hatte ich keinen Einfluss mehr auf meinen Sohn, der doch mein ganzer Stolz war. Kräftig gewachsen, arbeitsam, geschickt und willig, meinen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Ohne Rücksicht auf seine alten Eltern verließ er uns eines Tages. Seine Mutter leidet noch immer unter dem Verlust ihres einzigen Sohnes, der sich von uns abgewandt hatte trotz der Fürsorge, die er von uns erhalten hatte. Sie ist krank und lebt seitdem in einer dunklen Welt ohne Freude und Sinn. Sie hat sich zurückgezogen und hofft in einer Ecke ihres Herzens wohl noch immer auf seine Rückkehr. Ich aber war wütend und traurig zugleich. Du hast deinen Sohn in seiner Entwicklung nicht gebremst, du hast es zugelassen, so aus der Art zu schlagen, hast ihn unterstützt und ihm Freiheiten gewährt, die dir zum Nachteil gereichten und nicht nur dir, auch uns. Und dein  Sohn bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus und Judas Iskariot, der ihn überliefert hat. Unser Sohn schloss sich deinem an und wir, seine Eltern, zählten nicht mehr für ihn. Wir waren nicht die einzigen, die durch deinen Sohn unsere Söhne verloren, aber wir waren die einzigen, die den Tod unseres Sohnes zu beklagen hatten. Geschützt vor ihm waren die Frauen, die Töchter, von denen nur wenige es wagten, mit seiner Gruppe zu gehen. Er verkehrte auch mit den übelsten Kreisen, sank wohl immer tiefer, rief Unverständnis und Abneigung hervor, gab sich mit Menschen ab, die von unserer Gesellschaft ausgestoßen und verachtet wurden. Er legte sich mit den geistigen Führern an, verkündete seine Lehren und begeisterte immer wieder neue Anhänger, die mit ihm zogen und ihre Familien im Stich ließen. Wie hast du dich da wohl gefühlt, Josef? Wie schwer war es zu ertragen, Lästerungen über deinen Sohn zu hören? Ist das nicht … der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus, Jose, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern verächtlich mit den Fingern. Seht, auch sein Sohn ist hier bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Hast du dich innerlich von ihm abgewandt oder konntest du seine Reden verstehen? Und seine Mutter, deine junge Frau, wie konnte sie es ertragen, ihren geliebten Sohn an die Menge zu verlieren? Viele Gerüchte waren im Umlauf. Und er begann sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden und von den Hohenpriestern  und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Das sprach er ganz offen aus. Wir hörten nicht richtig hin, waren zu beschäftigt mit dem Verlust unseres Sohnes. Erst allmählich erkannten wir die Gefahr, in der sie alle schwebten. Dein Sohn entwickelte sich zum Gegner des Regimes und die Geheimpolizei wurde hellhörig. Seine Reden wurden aufgeschrieben, seine Auftritte genau beobachtet und protokolliert. Meine ursprüngliche Wut verwandelte sich in Sorge. Was, wenn mein Sohn im Gefängnis landen würde? Widerstand gegen die Regierung, Mitläufertum, das alles könnte sein Todesurteil bedeuten. Seine Mutter betete Tag und Nacht für ihn, hoffte inständig auf seine Rückkehr und sprach mit keinem anderen mehr. Ich arbeitete und versuchte auf diese Weise meine Sorgen und Ängste zu verdrängen, aber die Leute ließen es nicht zu. Ständig erfuhr ich Neuigkeiten über die Gruppe dieser Aufständischen, der Rebellen, wie sie auch von vielen genannt wurden. Aus meinem Stolz wurde Scham. Auch auf meinen Sohn zeigten nun andere ein Anhänger von Josefs Sohn. Seht, auch er wagt es, seine Eltern im Stich zu lassen. Ich schwieg und verschloss mich den anderen gegenüber.

Nun aber, da beide tot sind, sehe ich vieles anders. Ich habe mit vielen seinen Anhängern gesprochen und mir seine Reden noch einmal durchdacht. Er kündigte sein Ende ganz klar an und mein Sohn spielte dabei eine entscheidende Rolle, ohne sich dieser vorher bewusst zu sein. Ja, ich wage jetzt zu behaupten, mein Sohn war unbedingt notwendig für deinen Sohn, um seine Prophezeiungen wahr werden zu lassen. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert, und sie werden ihn töten. Und wenn er getötet worden ist, wird er nach drei Tagen auferstehen.“ Leider war es eine schmähliche Rolle, die er meinem Sohn zugedacht hatte, aber auch diese musste übernommen werden. Keine leichte Rolle, das wirst du zugeben müssen. Ein Rolle, die ihm einen schlechten Ruf über den Tod hinaus einbringen würde, nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. Er brachte Schande über seine Eltern, die ihm stets Ehrlichkeit und Wahrheitsstreben zu vermitteln suchten. Nun trat unser Sohn als feiger Verräter an die Öffentlichkeit und deinem Sohn, der wohl auch mit dem Tod bezahlen musste, gereichte dies zum nachträglichen Ruhm, wenn man es so sehen will. Sicher, auch für deine Familie war es nicht leicht, seinen Tod anzunehmen, aber er hatte somit seine Ankündigungen erfüllt und galt nicht länger als Lügner. Das mag dir vielleicht Genugtuung bedeuten, aber den Schmerz lindert es sicher nicht. Mir aber bleibt die Schande über meinen Sohn, die nicht mehr zu tilgen sein wird. Und Judas Iskariot, der eine von den Zwölfen, ging zu den Hohepriestern hin, um ihn ihnen zu überliefern. Die aber freuten sich, als sie das hörten, und versprachen, ihm Geld zu geben; und er suchte, wie er bei guter Gelegenheit ihn überliefern könnte.

Du willst wissen, warum ich dir diesen Brief schreibe? Eine Hoffnung, die ich noch habe drängt mich dazu, die Hoffnung, das Licht der Wahrheit auf seinen Tod scheinen zu lassen. Es hängt nun von dir ab, ob du bereit bist, diesen Brief mit meiner Erkenntnis weiter zu verbreiten unter den Anhängern deines Sohnes.

Ich konnte nicht glauben, dass mein Sohn als Verräter in die Geschichte eingehen würde, also wollte ich näheres erfahren und habe Nachforschungen betrieben. Nachdem man ihn tot aufgefunden hatte, hatte man mir seine Kleidungsstücke überbracht. Ich durchwühlte sie immer wieder, in der Hoffnung, wenigstens ein Zeichen, einen Hinweis auf seine Unschuld zu finden, denn nach wie vor war ich davon überzeugt: er hatte nicht aus böser Absicht so gehandelt.

Tatsächlich entdeckte ich, eingenäht in seinen Kleidern ein Stück Leinen, auf dem er seine Not, die ihn zum Verräter werden ließ, geschildert hatte.

„Ich war entsetzt und gleichzeitig wie gebannt. Wie konnte mein Freund und Meister, den ich so schätzte und verehrte, behaupten: Wahrlich, ich sage euch. Einer von euch wird mich überliefern, einer, der mit mir isst. Da begannen wir traurig zu werden und fragten ihn nacheinander: Ich bin es doch nicht? Er aber antwortete: Einer von den Zwölfen, der mit mir die Hand in die Schüssel taucht. Zwar geht der Menschensohn dahin, so wie es von ihm geschrieben steht. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren.

Plötzlich wusste ich es: Jesus meinte mich. Ich starrte sekundenlang auf meine Hand, die neben seiner in die Schüssel tauchte, ich konnte nicht mehr schlucken und auch nicht reden. Ich fiel lautlos aus der Gemeinschaft seiner Jünger und keiner schien es zu bemerken. Selbst Jesus wandte sich von mir ab. Sein Urteil war gesprochen, ich hatte es verstanden, aber ich schrie in meinem Innersten: Nein. Dieser wollte ich nicht sein, von dem gesagt wurde, es wäre besser, er wäre nie geboren. Das machte mein ganzes bisheriges Leben sinnlos, das machte mich zum Verräter,  ja zum Mörder eines Unschuldigen. Diese Last der Schuld wollte ich nicht tragen ein Leben lang. Warum blieben die anderen, die es doch auch vernommen hatten, so gleichgültig? Sie aßen weiter, als wäre nichts geschehen. Doch in diesem Augenblick war mein Schicksal bestimmt worden von dem Menschen, den ich so liebte, dem ich vertraut hatte bis zu dieser Stunde, mit dem ich bei Tische lag, zum letzten Mal, Seite an Seite, stolz darauf, ihm nahe zu sein, näher als den anderen. Was hatte ich verbrochen, um ein Verbrecher werden zu müssen? Warum wählte er gerade mich dazu aus, die Schrift zur Erfüllung zu bringen? Warum? Am liebsten hätte ich geschrien, getobt, ihn geschüttelt um eine Antwort zu erfahren. Aber ich blieb stumm, wie gelähmt und besessen von dem einzigen Gedanken: Es muss eine andere Lösung geben, so kann es nicht sein.
In der Finsternis, an einen Baumstamm gelehnt kam ich wieder zu mir. Was war passiert? Ich sollte Jesus verraten? Nein, dazu war ich nicht bereit. Warum flüchtete Jesus nicht? Noch bot sich günstige Gelegenheit. Er blieb, also musste ich wohl gehen. Flucht in die Einsamkeit. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die uns stark gemacht hatte, den Feinden gegenüber. Kein zurück wäre mehr möglich. Geflohen, um kein Verräter sein zu müssen und doch einer zu sein, der sich geweigert hatte, seinen Auftrag anzunehmen, damit sich Jesu Schicksal erfüllen könne. Um mich nur Dunkelheit, ein Loch, in das ich fiel, unaufhaltsam, immer schneller, atemlos. Nie zuvor war ich so allein gewesen, so verzweifelt. Ich warf mich auf den Boden und flehte zu meinem Gott, er solle mich nicht verlassen, sondern mir einen Weg, einen Ausweg weisen, den ich gehen könnte. Ich raufte mir die Haare und schlug mir Steine vor die Brust, wollte Schmerz fühlen, um aus meiner Erstarrung aufzuwachen.

Da wurde ich grob von fremden Händen gepackt und hochgerissen, der Schein einer Fackel leuchtete mir ins Gesicht und höhnische Stimmen drangen in mein Ohr. Das ist einer von den Zwölfen, haltet ihn fest, er kann uns zu ihm führen. Ich wehrte mich und wollte flüchten, aber es waren zu viele und sie trugen Waffen und meine Angst war zu groß. Die Angst, hier und jetzt sofort sterben zu müssen. Verzeih mir, mein Gott, wenn dies der erflehte Ausweg war, habe ich ihn aus Feigheit nicht angenommen und bin schuldig geworden. Sie drückten mir einen Sack mit 30 Silbermünzen in die Hand, den ich erzürnt wegschleuderte, sie aber hoben ihn erneut auf und banden ihn an meinen Gürtel und mir die Arme auf den Rücken. Nun sollte es also doch geschehen, was mir prophezeit worden war? Sie schoben mich durch die Straßen und verlangten, ich solle sie zu meinem Meister führen. Ich bewegte mich wie in Trance, immer noch auf einen Ausweg hoffend, eine günstige Gelegenheit, ihnen zu entkommen. Wie ein Schlafwandler führte ich sie ziellos durch die kleinen Gassen, um Zeit zu gewinnen, dem Schicksal zu entkommen. Bald bemerkten sie meine Absicht und wurden grober, begannen mich mit ihren Schwertern heftig zu berühren, drängten mich so in die von ihnen gewünschte Richtung. Woher aber wussten sie, wo sich Jesus mit den Jüngern aufhielt? Ahnten sie es, oder wussten sie es? Warum aber musste ich sie dann führen? Brauchten auch sie einen Sündenbock, um ihre Schuld abladen zu können, wohlwissend, dass mit Jesus ein Unschuldiger festgehalten wurde? Wirkten sie als die Besetzer unseres Landes glaubwürdiger, wenn unser Meister von einem aus den eigenen Reihen bloßgestellt werden würde? Hatten sie etwa Angst vor das jüdische Volk zu treten? Befürchteten sie gar einen Aufstand der wütenden Massen und Pilger im Ort?

Ehe ich noch eine Antwort fand, betraten wir den Garten, in dem Jesus sich aufhielt, auch er gepackt von tiefer Angst, auch er in großer Einsamkeit und Verzweiflung, aber er war bereit, sein Schicksal anzunehmen. War auch ich bereit? Und er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: „Schlaft ihr weiter und ruht!“ Es ist  genug. Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überliefert. Steht auf, wir wollen gehen. Siehe, der mich überliefert ist nahe.“ Durchflutet von einem Gefühl unbeschreibbarer Nähe, geistig und körperlich spürbar, trat ich meinen letzten Schritt auf ihn zu. Rabbi,  ein letztes Mal, diesem Gesicht so nahe, ein letztes mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dieses vertraute Gesicht, diese sanften Augen, dieser Mund, der so wunderliche und heilsame Worte sprach. Sollte ich es also sein, der ihn auslieferte? Hatte er es so gewollt? Vielleicht erwies ich ihm einen Dienst, vielleicht befand er mich am stärksten, als seinen Freund, der ihm dazu verhalf, seinen schwierigen Weg zu gehen, damit sich die Schrift erfüllen könne? Konnte ich ihm in dieser Sekunde einen kleinen Beistand bieten? Überwältigt von dieser neuen Erkenntnis trat ich auf ihn zu und küsste ihn, ein Liebeskuss. Ein Abschiedskuss, ein Versöhnungskuss. Täuschte ich mich oder entdeckte ich in seinen Augen ein wohlwollendes Leuchten? Er verzieh mir, er war der einzige, der mich verstanden hatte, nachdem wir uns nach qualvollen Stunden, ausgeschlossen von jeglicher Gemeinschaft wieder trafen. Mehr konnte ich nicht tun. Schon rissen sie ihn mit sich und den Jüngern gebot Jesus Einhalt. Ich aber gepackt von Scham und Schuld jenen gegenüber, die von nichts ahnten, entfloh den Soldaten, die sich nun nicht mehr um mich kümmerten. Ich raste durch die Dunkelheit erneut von Entsetzen gepackt, dem Wahnsinn nahe. Das Säckchen mit den Münzen riss ich von meinem Gürtel, stürzte zu Pilatus und warf es ihm vor die Füße. Er ist unschuldig, schreiend so laut ich konnte. Nehmt mich und lasst ihn laufen. Die Wachen aber lachten, warfen mich hinaus und sprachen. Was kümmerst du uns? Wieder vernahm ich meines Meisters Worte. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren. Ununterbrochen vernahm ich diese Worte, sie ließen mich nicht mehr los. Auch sie mussten sich erfüllen. Ein letzter Schritt noch.

Bevor ich diesen Schritt aus dem Leben gehe, habe ich aufgeschrieben, was mich bewegte, in der Hoffnung, nach meinem Tod, wenigstens einen Menschen zu finden, der für mich betet, damit Gott mir meine Schuld, die er mir bestimmt hatte, vergeben wird.

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