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Innerlich aufgewühlt war sie von einem Besuch im Krankenhaus zurückgekommen. Nein, es war kein trauriger Anlass gewesen und auch nicht beunruhigend, wirklich nicht. Sie hatte eine Freundin besucht, die vor wenigen Tagen ihr zweites Kind geboren hatte, ein Mädchen.
Die glückliche Mutter hatte ihr in allen Einzelheiten den Verlauf der Entbindung erzählt, eine Traumgeburt wie es schien. Alles lief wie erwartet. Ihr Mann war anwesend, sie konnte auf Schmerzmittel verzichten und alles bewusst miterleben. Geduldig hatte sie zugehört und versucht, die leisen Neidgefühle, die irgendwo tief aus ihrem Inneren auftauchten, weit weg zu verbannen. Sie schämte sich deswegen, konnte mit niemandem darüber reden.
Gewiss, sie gönnte ihrer Freundin diese Traumgeburt. Gerade ihr, denn sie hatte bei ihrer ersten Tochter nicht so viel Glück gehabt. In letzter Minute, nach stundenlangen Wehen bekam sie noch einen Kaiserschnitt, was sie damals sehr frustriert hatte. Eine große Hilfe war ihr Mann, denn sogar während des Kaiserschnittes war er anwesend und leistete seelische Hilfestellung. Aufmerksam hörte sie ihrer Freundin zu und versuchte dabei ehrlich Freude zu empfinden. Hanna drückte ihr auch gleich das Baby in den Arm, vertrauensvoll. Da saß sie nun und spürte wieder den weichen duftenden Körper eines Neugeborenen. Wann hatte sie zum letzten Mal ihr eigenes Kind so im Arm gehalten?
Ohne es zu wollen tauchten ungerufen immer wieder Bilder auf, die sie längst vergessen glaubte. Langsam ahnte sie wieder das unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie überflutete als sie ihren Sohn zum ersten Mal auf den nackten Bauch gelegt bekam, blutverschmiert noch die zarten Finger, soeben aufgetaucht aus ihrem sicheren Inneren, abhängig nun von ihr und sie von ihm, eine unbekannte Zeit lang.
Ein Gefühl der Trauer verspürte sie immer noch, wenn sie an ihren zweiten Sohn dachte, den sie nach einem einsamen Kaiserschnitt nicht zu sehen bekommen hatte. Er musste sofort in eine Kinderklinik gebracht werden wegen einer Komplikation, die ihr bis heute noch niemand ausführlich erklärt hatte. Sie hatte sich die Nacht hindurchgequält, war jede Stunde von der Schwester geweckt worden, hatte Schmerzen ertragen, in der Hoffnung, am anderen Tag hätte sie das Schlimmste bereits überstanden. Sie freute sich auf das Kind, auf Besuche und Blumensträuße. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis die Erkenntnis durch ihr vernebeltes Bewusstsein drang, das Kind war ja gar nicht hier, es war fort, lag ebenso einsam wie sie in einem Bett und keiner tröstete es. Am anderen Morgen traf sie ein zweiter Schock. Sie wurde von einer Minute auf die andere ohne große Erklärungen in ein anderes Krankenhaus gebracht, angeblich war etwas nicht in Ordnung mit ihr.
Unfähig zu reden lag sie im Krankenwagen, hilflos ausgeliefert. Mit aller Kraft versuchte sie nicht zu weinen. Nur nicht weinen, nur keine Tränen, denn sie hätte nicht mehr aufhören können, lange Zeit nicht. Auf keinen Fall wollte sie hysterisch sein, nein stark, aber das tat so verdammt weh. Keiner hatte je hinterher gefragt, wie sie sich dabei gefühlt hatte und es hätte ihr so gut getan, darüber reden zu können.
Verdammt, diese dummen Gedanken schossen ihr immer wieder durch den Kopf, wenn sie Besuch auf einer Entbindungsstation machte. Ein freudiger Anlass. Alle waren fröhlich, überall herrschte entspannte Stimmung. Aber sie war sich sicher, dass es auch hier Frauen gab, deren Entbindung nicht so komplikationslos verlaufen war, deren Kind vielleicht in einer Kinderklinik lag und die deshalb litten, während um sie herum die glücklichen Mütter stolz auf ihre gesunden Kinder waren. Sie konnte gerade die unglücklichen Mütter gut verstehen. Irgendwoher kam da jedes Mal eine Wehmut, die sie stets überfiel bei solchen Besuchen und die eine quälende Unruhe bei ihr hinterließ. Wirklich, sie gönnte ihrer Freundin das Glück, aber sie beneidete sie auch ein wenig um ihren Mann. Ja, sie gab es ehrlich vor sich selber zu. So war es. Jetzt wusste sie plötzlich woher ihre traurigen Gefühle kamen.
Sie hatte beobachtet wie glücklich auch er war. Beide badeten das Kind, aber er war der Hauptakteur. Behutsam trug er das Baby, badete es und wickelte es. Durch die Glasscheibe sah sie zu und sehnte sich danach, dass ihr Mann auch einmal bereit wäre, ihr so zu helfen. Noch strahlten die jungen Mütter und Väter beim Baden und Wickeln ihrer Töchter und Söhne, noch hatten sie keine Ahnung was sie alles mit ihren Kindern erleben würden. Vor allem die Nächte fielen ihr dabei wieder ein. Schlaflos die Kinder, übermüdet die Mutter. Aber auch die Nächte konnte man sich teilen, wenn man nur wollte. Ihr war es nie gelungen, jahrelang hatte sie darunter gelitten. Wie sie ihren Mann hätte davon überzeugen können, sie wusste es nicht, weiß es heute noch nicht. Vorbei, diese Zeit, aber was bleibt ist die Erinnerung und die Vorstellung wie es hätte sein können, das Idealbild lässt sich nicht vergessen.
Äußerlich fröhlich verabschiedete sie sich von dem Elternpaar, länger wollte sie nicht stören.
Nachdenklich stieg sie ins Auto und begann sich über ihre unbehagliche Stimmung zu ärgern. Zuhause ging es ihr nicht besser. Sie fühlte sich aufgewühlt, von den Wogen der Erinnerung verschlungen. Da half kein Verdrängen. Mutig stellte sie sich ihren Gedanken, nur dann, das wusste sie aus Erfahrung, wurde sie wieder ruhiger, ein bisschen wenigstens. Sie griff nach einer Tafel Schokolade, einem Trostpflaster, was ihr auch völlig bewusst war. Aber sie wollte nur ihre innere Ruhe wieder haben und begann langsam ein Stück nach dem anderen in den Mund zu schieben, wohl wissend, dass sie sich selbst täuschte.