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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Mütter

Wish you were here – Kapitel 11

18 Montag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Mütter, Mutter, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 11 – Schülerportraits

Jürgen, der beliebteste Schüler. Ein stiller, schüchterner Junge, der nie unangenehm auffiel, regelmäßig seine Hausaufgaben machte, sich im Unterricht zurückhielt und meist erst zum Sprechen ermuntert werden musste. Seine besten Freunde befanden sich nicht in der Klasse, aber er kam mit allen gut aus und zeigte sich verträglich. Seltsamerweise gehörte er nicht zu den Opfern. Er wurde respektiert und wohl kaum belästigt.

Allerdings, ich erfuhr es erst in einer deiner Toleranz-Stunden, war es wegen eines beschädigten Federmäppchens zwischen ihm und seinem Nachbarn Florian, der ebenfalls ein ruhiger Typ war, zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen.

Korbinian, ein sehr lebhafter, bestimmender Schüler, hatte sich eingemischt und darauf bestanden, dass die beiden sich bekämpfen mussten, während einige andere Schüler einen Ring um sie herum gebildeten hatten, den sie nicht verlassen durften.

Ich war entsetzt, als ich davon erfuhr, vor allem, weil es nicht bemerkt worden war. Der Kampf hatte in der Pause stattfinden können, weil keiner eingegriffen hatte, weder Pausenaufsicht noch andere Schüler.

Jürgen und Florian war es sichtlich peinlich, dass dieser Kampf angesprochen wurde, während die anderen Beteiligten eher stolz darauf waren, dass es ihnen gelungen war, zwei friedliche Schüler auf Befehl in eine Schlägerei zu verwickeln. Sie hatten die Rächer gespielt, ungefragt und von den beiden auch unerwünscht. Die Rolle der Rächer erlaubte einigen Gewalt auszuüben für einen – in ihren Augen – „guten Zweck“. Das Federmäppchen war so allerdings weiterhin kaputt geblieben, zwei ehemals befreundete Jungen waren, ohne es wirklich zu wollen, aufeinander losgegangen und hatten sich Schmerzen zugefügt, um den beschämenden Worten der Umstehenden ein Ende zu bereiten.

Nach einem Gespräch über den Sinn dieser Schlägerei konnte nur ein Teil der Beteiligten einsehen, dass es sich nicht gelohnt hatte, den Weg der Gewalt zu gehen. Für die einen ein belustigendes Schauspiel, eine Demonstration ihrer Macht, für zwei andere ein demütigender Vorgang. Scham der Opfer vor dem Täter. Gruppenzwang. Scham, ein Grund für die scheinbare Gleichgültigkeit? Scham, ein unerwünschtes, in unserer Zeit selten diskutiertes Gefühl. Ein Gefühl, dass sich niemand leicht eingesteht, weder Lehrer noch Schüler. Scham, ein Gefühl, das verletzbar macht.

*

Da standen sie plötzlich vor der Tür, klingelten Sturm und hielten meinen Sohn Jürgen zwischen sich eingehakt in ihrer Mitte. Mein Gott, er war ganz blass, sein Gesicht blutverschmiert. Er sei bewusstlos gewesen und gestürzt, sagten seine beiden Begleiter, deshalb hätten sie ihn nach Hause gebracht, damit ihm unterwegs nichts passieren würde. ‚So nette Jungs’, dachte ich noch, dankte ihnen und zog meinen Sohn ins Haus. Nachdem er sich das Blut abgewaschen hatte, erfuhr ich nach und nach die ganze Geschichte: Sie hatten ihn vorher verprügelt und auf den Boden gestoßen, vielleicht war er wirklich kurz ohnmächtig gewesen, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, jedenfalls bekamen die „netten Jungs“ es plötzlich mit der Angst zu tun und schleppten ihn nach Hause. Mein Sohn brachte die Zusammenhänge nur stockend hervor, immer wieder bohrte  ich genauer nach, um die Wahrheit zu erfahren. Ehrlich, ich war schon schockiert über diese Kaltblütigkeit: erst jemanden zusammenzuschlagen und ihn hinterher fürsorglich daheim abzuliefern, nicht ohne ihm vorher damit gedroht zu haben, dass er den Mund halten müsse,  sonst würde noch mehr passieren.

Natürlich redete ich auf Jürgen ein und wollte gleich am nächsten Tag zu der Lehrerin gehen, aber Jürgen war total dagegen und heulte los, als ich mit ihm darüber sprach. Er wollte nicht als Schlappschwanz, Muttersöhnchen und Petze dastehen und auch noch ausgelacht werden. Er verbot mir, mit der Lehrerin zu reden. Also, was sollte ich tun? Ich wollte ihn doch schützen und was konnte ich schon von der Lehrerin erwarten? Sie war doch auch hilflos, die Kinder tanzten ihr auf der Nase herum, obwohl sie es wirklich gut mit ihnen meinte und auch Jürgen mit ihr klar kam. Er fürchtete sich nicht vor ihr, sondern vor den anderen, seinen Klassenkameraden.

Seit einiger Zeit probierten sie in der Schule etwas Neues aus, ein Projekt zum Thema „Toleranz“ oder so ähnlich. Jürgen erzählte nicht viel davon, aber andere Mütter, die ich beim Einkaufen traf, waren regelrecht verärgert und meinten, ihre Kinder bräuchten nicht therapiert zu werden, sie bräuchten andere, bessere Lehrer, die sich durchsetzen könnten. Was sollte da ein Sozialpädagoge schon bewirken können? Er kam ja doch nur einige Male, da fiel auch noch der Unterricht aus. Viele der Mütter dachten so. Aber ich, ich hoffte doch, dass das Projekt etwas bewirken könnte und mein Sohn, der freute sich immer auf diese Projekttage. Vielleicht erwartete er sich das Gleiche wie ich: eine Verbesserung der Situation in dieser Klasse.

Aber dazu kam es leider nicht mehr. Nach diesem tragischen Unfall konnte das Projekt nicht mehr zu Ende geführt werden. Alles blieb ungewiss: Hätte es noch etwas bewirken können, wenn das Ende nicht so abrupt eingetreten wäre? Keiner weiß es. Unfassbar war es jedenfalls für meinen Sohn, der um diesen Sozialpädagogen ehrlich trauerte. Die Kinder waren nun wieder allein, konfrontiert mit dessem jähen Ende. Keiner kümmerte sich um sie. Schockiert wohl auch die Lehrerin, die mit den Schülern darüber zu sprechen versuchte, während andere schon wieder spotteten und lachten und Witze rissen. Vielleicht war das ihre Art zu trauern: ‚Nur ja nichts an sich heranlassen, keine Gefühle zeigen, cool bleiben, auch wenn es weh tut, entsetzlich weh tut und auch schrecklich Angst macht.’ Glauben Sie mir, vor dem Tod fürchten sich auch diese Jungs. Schlimm war das, wirklich schlimm.

Und jetzt kommen Sie daher und wollen wissen, wo mein Sohn am Nachmittag des 23. Juli war. Sie werden ihn doch nicht verdächtigen, dabei gewesen zu sein?“  Jürgens Mutter

*

Boris, der unbeliebteste Schüler. Groß, grobkantig, kräftig, aber nie bereit seine Kraft sinnvoll einzusetzen. Er lebte nach dem Lustprinzip: Alles war ihm zu viel, was nach Anstrengung und Arbeit roch. „Keine Lust.“ „Immer müssen wir so viel schreiben.“ Er malte unentwegt auf  Blättern, aber nicht, wenn es seine Aufgabe war, z. B. einen Eintrag zu gestalten. Ein Kind, das sich nicht in der Hand hatte. Er fiel des öfteren vom Stuhl, furzte schamlos, rülpste lautstark, warf im Zorn Stifte und Hefte zu Boden, fälschte die Unterschrift seiner Eltern, versteckte für die Hausaufgaben benötigtes Material in der Schule im Schrank oder unter der Bank. Einziges Ziel schien Provokation zu sein. Er legte es darauf an, mich als  seine Lehrerin, aber auch bestimmte Schüler aus der Fassung zu bringen, indem er sie verbal beleidigte, verhöhnte, beschimpfte, ihre Sachen beschädigte und sie auch körperlich bedrängte. Ein hilfloses Baby in einem viel zu gewaltigen Körper.

Niemand wollte gerne neben ihm sitzen. Als Kleinkind hatte er seine Mutter schon zum Weinen gebracht. Ein einsames Kind.

Korbinian, sehr unbeliebt. Ein Schüler, der unter dem ADS-Syndrom litt und mit ihm litten die Schüler und die Lehrer. Ein gefährlicher Schüler. Er strotzte vor Kraft, war ein leistungsmäßig guter Sportler, aber ohne jede Disziplin und Fairness. „Dann ist er eben kein guter Sportler.“, sagtest du kurz und ich teilte deine Meinung. Seine Mutter, schien überfordert. Sie war berufstätig, alleinerziehend und nicht immer in der Lage, dafür zu sorgen, dass Korbinian regelmäßig seine Medizin einnahm. Ein Ritalinkind, dessen Verhalten stark von der Medikamenteneinnahme abhing. Meist zeigte sich der Junge mir gegenüber unzugänglich und aufsässig, während er sich den Mitschülern gegenüber rücksichtslos verhielt, mit einem bösen Lachen im Gesicht Schläge austeilte, mit  höhnischen Worten andere zum Weinen brachte.

In seltenen Augenblicken erlebte ich ihn ernsthaft und ansprechbar, spürte wie die Mauer, hinter der er sich versteckte, Risse bekam, nahm die andere Seite seines Wesens wahr, die verletzbare, die empfindliche Seite, die er vor anderen meist verbarg, wohl aus Angst, selbst verletzt zu werden. Der Einzige, der die unfassbaren Ereignisse vom 11. September „cool“ und „geil“ fand, was auch die anderen Kinder befremdete.

Manuel, der Schüler aus Amerika. Stark, alle anderen durch seine Körpergröße überragend, auffallend durch seine schwarze Hautfarbe, sein undurchdringliches maskengleiches Gesicht. Verzog mir gegenüber keine Miene, es sei denn er war wütend, dann verlor er die Beherrschung und brüllte mich an. „Ich kann Sie nicht mehr sehen. Halten Sie die Fresse.“ Ein Heimkind, dessen Erzieher sich ehrlich Mühe gab mit ihm. Beide erschienen mehrmals in meiner Sprechstunde. Die Einsicht, die Manuel im Gespräch zeigte, währte meist nicht lange. Er hatte sich hohe Ziele gesteckt, allerdings ohne ernsthaft bereit zu sein, sich dafür langfristig anzustrengen. Seine Leidenschaft war das Zeichnen. Ununterbrochen kritzelte er im Unterricht Figuren. „Reden Sie ruhig weiter. Ich höre schon zu.“

Allmählich fasste er Fuß in der Klasse. Mit ihm wollte niemand in einen Kampf verwickelt werden. 

*

„Ich hasse diese Frau. Was bildet die sich eigentlich ein, wer sie ist? Sie ist schlimmer als meine Mutter, die mir dauernd vorjammert, wie schlimm es mit mir noch enden wird, wenn ich in der Schule nicht aufpasse. Auch diese Lehrerin versucht mich ständig davon zu überzeugen dass es  wichtiger ist, fleißig zu sein und aufzupassen anstatt zu malen. Sie erinnert mich immer an meine Ziele, meine Wünsche, die ich ihr genannt habe, als sie mich danach gefragt hat. Mittlere Reife, ja das wäre schon okay, aber das ist viel zu viel Arbeit, also was soll’s, ich zeichne und male lieber, denn der Unterricht ist mir zu langweilig, viel zu nervig, echt ätzend diese Frau.

 Stimmt, ich kann schon mal ausrasten, wenn sie immer an mir herumkritisiert, ich habe sie auch schon beschimpft, das gebe ich zu, aber den Verweis, den hätte sie besser nicht geschrieben. Weiß sie eigentlich, was das für mich im Heim bedeutet? Sie sperren mich dort ein, ich kann nicht mehr raus wann ich will, auch am Wochenende darf ich nicht zu meiner Mutter, so ein Mist. Sie braucht doch nicht so zimperlich zu sein, „halt die Fresse,“ das ist doch nur so dahin gesagt. Ich werde mich bei ihr entschuldigen, dann wird sie es sicher bleiben lassen.

Sie hat den Verweis nicht zurückgenommen, die blöde Kuh. Ich hasse sie, ich kann sie nicht mehr sehen. Mein Erzieher hält auch noch zu ihr und findet, ich wäre zu weit gegangen. Immer ich! Jetzt kann sie mich mal, ich mache nicht mehr mit.

Ich habe schon gemerkt, dass sie besonders freundlich sein will zu mir. Vielleicht hat sie Angst vor mir? Obwohl, sie ist ganz schön stark, hätte ich nicht gedacht. Sie hat hart zugepackt, als ich auf Boris losgegangen bin, mitten im Unterricht. Ich war so wütend, er hat meine Mutter eine Hure genannt, ich hätte ihn zusammengeschlagen, echt, aber da packte sie mich plötzlich und riss mich von ihm weg. Die ganze Klasse hat da gestaunt. Das hätten sie ihr wohl nicht zugetraut. 

Immer will sie mit mir reden, aber da gibt es nichts zu reden. Es kotzt mich an, dieses Getue um eine kleine Schlägerei. Ist doch nichts passiert. Diesmal nicht, aber vor einem Jahr schon, das stimmt, da hatte ich Pech und musste die Schule wechseln, die haben mich einfach rausgeschmissen, weil ich denen zu gefährlich war. Meine Mutter wäre beinah durchgedreht. Seit diesem Rausschmiss bin ich im Heim gelandet. Ich soll mich anständig aufführen, damit ich auch bleiben darf, aber trotzdem, alles muss ich mir nicht bieten lassen. Ich nicht.“ Manuel

*

Gökhan, ein türkischer Schüler, der im Laufe des Schuljahres zu uns gekommen war. Gleich am ersten Tag hatte er eine brutale Rauferei angefangen. Auch er nicht beliebt, tanzte immer aus der Reihe, konnte weder still sitzen noch konzentriert und ruhig arbeiten. Bewegte sich immer im Klassenzimmer und störte rücksichtslos seine Mitschüler, indem er sie ansprach, beleidigte, anrempelte, ihnen Sachen wegnahm.

Schulmaterial hatte er grundsätzlich nicht dabei. Er fiel immer wieder durch sein aggressives Verhalten auf. Aufgrund seiner schwachen Leistungen hätte er eigentlich die Klasse wiederholen müssen. Aus „pädagogischen Gründen“ ließ ihn mein Chef dann allerdings aufsteigen.

„Warum hast du das zugelassen?“ Sozialpädagoge 

Warum? Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt schon so ausgebrannt und hatte nicht mehr die Kraft, mich mit meinem Schulleiter auseinander zu setzen, obwohl ich es den anderen Schülern gegenüber als sehr ungerecht empfand, immer noch empfinde, aber zu dem Zeitpunkt, da war ich schon total erschöpft, hatte nicht mehr den Mut und die Kraft mich durchzusetzen. Burnout.

Michaela, ein temperamentvolles Mädchen, von dem Manuel sagte: „Die ist doch wie ein Junge, die schlägt doch selbst.“ Sie war in keiner Weise zimperlich, wurde von ihrer Mutter darin bestärkt,  sich nichts gefallen zu lassen.

Interessierte sie der Unterrichtsstoff arbeitete sie lebhaft mit, von Hausaufgaben hielt sie dagegen nicht viel. Mir gegenüber verhielt sie sich unterschiedlich, manchmal kooperativ, aber auch zeitweise feindselig, wusste nicht, auf welche Seite sie sich schlagen sollte.

Von dir war sie sehr begeistert, sie freute sich jedes Mal auf die Stunden, in denen du in die Klasse kamst. Sie blühte richtig auf und wollte dir unbedingt gefallen, von dir beachtet werden. Hast du das bemerkt?

Rita und Barbara, zwei stille, unauffällige Mädchen, die miteinander befreundet waren, hielten – so weit mir bekannt – sich von den Schlägereien fern und arbeiteten im Unterricht bereitwillig mit.

Die beiden waren die einzigen, die sich zuverlässig immer wieder um die Blumen im Klassenzimmer kümmerten.

Wish you were here – Kapitel 4

11 Montag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Lehrer, Lehrerin, Mütter, Mobbing, Opfer, Schule, Täter

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 4 – Opfer und Täter

Opfer und Täter

Ein Film

 KillerBoots

Inhalt: jugendliche Gewalt. Form: eine Produktionsbeschreibung von Stiefeln und Schädeln. Was ist das Gute an Stiefeln mit Stahlkappen? Was ist das Gute an Menschenköpfen? Was passiert, wenn beide auf der Straße aufeinandertreffen? Der Film zeigt Folgen von Gewalt. Gebrauchsgegenstände werden zu Symbolen der Gewalt und schließlich zu Waffen. Der Film ist eine Collage, ein Statement, eine Frage und eine ungewöhnliche Auseinandersetzung mit der Gewalt.

KillerBoots, ein Film, der viele Fragen offen lässt. Du hattest ihn mitgebracht in eine deiner Stunden, die zu deinem Projekt Toleranz gehörten. KillerBoots, ein Film der zeigt, wie ein Schuh mit Stahlkappe, der eigentlich als Arbeitsschuh gemacht war, zu einer gnadenlosen und tödlichen Waffe werden kann, ganz ohne Waffenschein. KillerBoots, die Stiefel zum Töten. Die Klasse war wie immer geteilt in Willige und Unwillige. Schockiert und betroffen waren die Willigen vom Inhalt des Filmes: Ein junger Mann wurde von einem Stiefelträger getreten und erlitt lebensgefährliche Schädelverletzungen. Es dauerte einige Jahre bis er wieder sprechen konnte. In winzigen Schritten gewann er mit Hilfe seiner Therapeuten nach und nach einen Teil seiner motorischen Fähigkeiten, wie gehen und schreiben, erneut zurück. Was mit dem Träger der KillerBoots passierte, blieb allerdings im Unklaren.

Das anschließende Gespräch über den Film ließ mich befürchten, dass die Unwilligen den Umgang mit KillerBoots eher als Gebrauchsanweisung auffassten, als weitere Möglichkeit Gewalt anzuwenden, anstatt aufgrund der gefährlichen Folgen davon abgeschreckt zu werden.

In einer Diskussion nannten die Schüler Situationen, in denen sie geschlagen und getreten hatten, meist aus nichtigen Anlässen. Ein Schimpfwort hatte genügt, ein unrechter Blick, ein Lachen zum falschen Zeitpunkt, ein Äußeres, das nicht gefiel, die Tatsache ein Ausländer zu sein und schon wurde zugeschlagen, ein Opfer war gefunden. Viele blieben nach wie vor davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben.

„Ich lasse mir nicht alles gefallen.“ 

Szene aus dem Unterricht: Deine Stunde. Die Schüler sitzen im Stuhlkreis, Korbinian stößt Matthias im Vorbeirennen den Ellbogen absichtlich an die Nase, Gökhan springt von seinem Stuhl auf, saust auf Matthias zu und dreht ihm grob mit einem heftigen Ruck die Nase zur Seite mit der Begründung: „Jetzt ist es wieder gut.“ Das Opfer sitzt mit Tränen in den Augen da und nichts passiert. Sollte hier nicht jemand eingreifen? Ich wurde sehr unruhig auf meinem Stuhl, aber ich hatte dir die Klasse überlassen, es war deine Stunde.

Immer wieder reden über Gewalt, Formen, Folgen und Bestrafungsmöglichkeiten, die Wortkarten häuften sich an der Wandtafel. Keine Zeit, darüber zu sprechen wie Gewalt verhindert werden kann. Wie gehe ich mit mir um, wenn ich Wut verspüre? Wie verhalte ich mich, wenn ich Gewalt anderer ausgesetzt bin? Diese Fragen konnten leider nicht ausreichend geklärt werden. Keine Zeit, du musstest wieder gehen. Immer stärker vermisste ich eine Möglichkeit, mit der das Verhalten von Opfern und Tätern durch gezieltes Training verändert werden könnte.

Du gingst mit dem Gongschlag, die Schüler aber blieben und mit ihnen ihre ungeklärten Probleme. Wish you were here.

*

„Vor ungefähr drei Wochen, da fuhr ich mit dem Bus von der Schule nach Hause, da begegnete ich ihnen zum ersten Mal. Sie waren zu dritt, drei Jungs, und sie stiegen an der gleichen Haltestelle aus wie ich. Ich kannte sie noch von der Grundschule her, vom Sehen. Nein, in der gleichen Klasse waren wir nie gewesen, aber sie wussten, dass ich auf die Realschule ging und auf dem Heimweg war.

Beim Aussteigen stieß einer mich an und alle brüllten: ‚Los, entschuldige dich. Was soll das, uns einfach anzurempeln? Kommst dir wohl als ’was Besseres vor mit deiner Realschule, oder?’ Ich war ganz verwirrt und stotterte: ‚Tut mit Leid, kommt nicht wieder vor.’ ‚Das wollen wir hoffen, sonst schaust du alt aus, du Wichser, du!’, grölten sie laut und schubsten mich aus dem Weg. Allmählich schlug meine Angst in grenzenlose Wut um. ‚Was bildeten die sich eigentlich ein?’ Zu Hause allerdings machte sich wieder die Angst breit, unbarmherzig: ‚Was sollte ich bloß tun, wenn ich ihnen wieder begegnete?’

Nach einer Woche sah ich sie wieder an der Haltestelle stehen, an der ich ausstieg. Dieses Mal waren sie zu fünft. Ich kannte aber nur die drei vom ersten Mal. Sie rauchten gelangweilt, einer trank aus einer Dose Bier, rülpste lautstark und alle taten so, als ob sie mich nicht erkannt hätten, aber ich spürte es ganz deutlich, sie hatten es auf mich abgesehen. Ganz langsam drehten sie sich um und versperrten mir den Weg, so einen Kreis bildeten sie um mich. Ganz langsam. Mit ihren Fäusten schlugen sie plötzlich wie auf ein geheimes Kommando auf meine Schultern und brüllten dabei kumpelhaft: ‚So ein Zufall, lange nicht gesehen, so eine Freude!’ Immer enger drängten sie sich an mich heran, ganz nah, ich konnte sie schon riechen, hatte den Geruch von saurem Bier und bitterem Schweiß schon in der Nase. Mit einem Ruck riss mir einer plötzlich meine Brille aus dem Gesicht und schwenkte sie wie eine Beute am Bügel durch die Luft. ‚Was haben wir denn da? Was ist denn das?’, grölte er und ließ die Brille lässig auf den Boden fallen, trat mit seinem Fuß drauf, alles ganz langsam und ich hörte es eklig knirschen, sah den ledernen Schnürstiefel, die Schuhsenkel hingen auf den Boden wie kleine Fühler, sah die Schmutzflecken auf dem ausgeblichenen Leder, sah alles wie durch ein Vergrößerungsglas, riesengroß, nahm jede Einzelheit wahr und konnte es doch nicht glauben: ‚Der Kerl da hatte einfach meine Brille zertreten, völlig grundlos. Was hatte ich ihm bloß getan?’ Ungewollt stiegen mir Tränen der Wut in die Augen. ‚Nur ja nicht heulen, nicht vor denen’, schoss es mir durch den Kopf. Verzweifelt durchstieß ich mit einem Aufschrei der Wut den Kreis und rannte davon.

Meine Eltern wollten natürlich wissen, was mit meiner Brille passiert sei, aber ich sagte nicht die Wahrheit, es war mir einfach zu peinlich. ‚Ich habe sie in der Schule vergessen,’ erklärte ich meinen Eltern. Zum Glück hatte ich noch eine alte Ersatzbrille, mit der ich zur Not meine Hausaufgaben machen konnte.

Die Brille tauchte natürlich nicht wieder auf, – konnte sie ja auch nicht, – ich war gezwungen mir eine neue zu beschaffen, sehr zum Ärger meiner Eltern, denn die Brille war sehr teuer gewesen.

Einige Wochen lang traf ich keinen aus dieser Gruppe, glaubte schon die Sache überstanden zu haben, aber eines Tages, als ich wie gewohnt an der Haltstelle ausstieg, warteten sie schon spöttisch grinsend auf mich. Wieder waren sie zu fünft, Zigaretten in der Hand. Kaum war ich draußen, rückten sie näher und bliesen mir den Zigarettenqualm voll ins Gesicht, so dass ich husten musste. Wie zur Beruhigung klopften sie mir kräftig, scheinbar freundschaftlich auf den Rücken, da näherten sich einige Erwachsene. Ich grüßte die einfach, ohne sie zu kennen. Verwundert grüßten sie zurück und im gleichen Moment traten die fünf verunsichert zur Seite. Ich nutzte die Gelegenheit und stürmte davon.

‚Morgen bist du dran, morgen zünden wir deine Klamotten an, vergiss das nicht, du feiges Arsch.’ Ihre Rufe verfolgten mich auf dem ganzen Heimweg. Ganz ehrlich, ich hatte furchtbare Angst und eine Wahnsinnswut auf diese Typen. Wie sollte ich ihnen aus dem Weg gehen? Sie hatten es auf mich abgesehen, da war ich mir ganz sicher. Sie würden mir überall auflauern, also, was sollte ich bloß tun?

Beim Abendessen beschuldigte mich meine Mutter auch noch, geraucht zu haben, da meine Kleidung auffällig nach Zigarettenqualm rieche. Ihr sei schon lange aufgefallen, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sei. Entrüstet stritt ich natürlich ab, geraucht zu haben.

‚Herr Hertau, unser Nachbar, hat dich aber an der Bushaltestelle rauchen gesehen,’ behauptete meine Mutter verärgert.

Morgen zünden wir deine Klamotten an, morgen zünden wir deine Klamotten an, immer wieder quälte mich der Gedanke an morgen. Ich hatte Angst und meine Mutter glaubte, dass ich rauchte. ‚Was sind das eigentlich für Kerle, die sich da an der Haltestelle herumtreiben und die Leute belästigen?,’ fragte sie argwöhnisch nach. ‚Das sind doch nicht etwa Freunde von dir?’ ‚Freunde? Arschlöcher sind das, ganz verdammte feige, blöde, doofe Arschlöcher, die morgen meine Klamotten anzünden wollen!’, schrie ich unbeherrscht. Erschrocken schwieg ich. Zu spät, jetzt wussten es meine Eltern, dass ich mich nicht wehren konnte, dass ich ein Feigling war.

Es dauerte eine Zeit, bis meine Eltern begriffen, dass die Sache mit den Typen wirklich Ernst zu nehmen war. ‚Das melde ich der Polizei’, beschloss mein Vater. Zunächst wehrte ich mich dagegen. Welche Schande, ein Schüler braucht die Polizei, um sich gegen andere Schüler zu wehren. Sie würden mich auslachen, verspotten, an anderer Stelle auflauern, alles würde noch schlimmer werden. Übelkeit stieg in mir hoch, Verzweiflung: Meine  Lage erschien mir aussichtslos.

Mein Vater klärte inzwischen mit einem Polizeibeamten die Situation. Zwei Beamte in Zivil würden in der Nähe der Haltestelle warten und die Szene beobachten. Ein Einschreiten wäre erst möglich, wenn die Typen ihre Drohung tatsächlich wahrmachen würden, woran ich nicht im Geringsten zweifelte. Mein Vater sollte auch wie zufällig in der Nähe sein.

Ich hatte wirklich keine Ahnung davon, dass er auch an der nahe gelegenen Hauptschule angerufen hatte. Er wollte herausfinden, ob es sich bei den Typen um Schüler dieser Schule handelte.

Den ganzen Tag über fühlte ich mich beschissen, das können Sie glauben, mir graute schon den ganzen Vormittag vor der Busfahrt.

Endlich tauchte meine Haltestelle auf, ich stand langsam auf, blickte aus dem Fenster und schon sah ich sie, alle fünf.

Zigaretten rauchend standen sie abwartend da und winkten mir schadenfroh zu. Widerwillig stieg ich aus dem Bus, halb schlecht vor Angst war mir, da schlenderten sie lässig auf mich zu, die Zigaretten mit zwei Fingern haltend, immer näher rückten sie, während ich stehen blieb, unfähig mich zu rühren oder auszuweichen. Gebannt starrte ich auf die rötlich glimmende Spitze, roch den Rauch, war wie fest genagelt. Als die erste Zigarettenspitze meinen Anorak berührte, atmete ich auf: Zwei dunkel gekleidete Männer hielten den Kerl in Sekundenschnelle fest, auch mein Vater war zur Stelle und plötzlich stand da auch ein Mann, der sich als Lehrer der Hauptschule zu erkennen gab und die Typen mit Namen kannte.

Damit hatten sie nicht gerechnet. Völlig überrumpelt blieben sie stehn, keiner wehrte sich, keiner haute ab. Alle gaben ihre Namen und Adressen an, keiner leugnete den Plan, aber niemand konnte die Frage der Beamten beantworten: ‚Warum habt ihr seine Klamotten anzünden wollen?’ Schweigend zuckten sie mit den Schultern.

Ich schämte mich schon, das gebe ich zu, wäre am liebsten im Boden versunken. Aber die Beamten meinten, es wäre richtig gewesen und wichtig, um weitere Vorfälle zu verhindern. Davon bin ich nicht überzeugt. Nach wie vor fürchte ich mich davor, ihnen unerwartet zu begegnen.

Bis jetzt traf ich zwei von den Typen zufällig beim Einkaufen, sie starrten einfach an mir vorbei, ich spürte sofort, wie mich wieder die Angst packte. Wie eine grobe Faust drückte sie auf meinen Magen, so dass mir die Luft wegblieb. Gott sei Dank ließen sie mich in Ruhe, aber was ist beim nächsten Mal?“ Lorenz, Realschüler

*

Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Jungen, die Lorenz bedroht hatten um Schüler unserer Schule handelte, bunt zusammengewürfelt aus verschiedenen Klassen. Im Kollegium waren alle unangenehm überrascht, denn hinter all den von der Polizei genannten Namen verbargen sich Schüler, die uns bis dahin nicht sonderlich aufgefallen waren. Aus meiner Klasse war auch ein Schüler dabei, Clemens. Ich verstand die Welt nicht mehr: Was bewog diesen ruhigen Jungen, den ich nie in Raufereien verwickelt sah dazu, einen fremden Jungen zu bedrohen und zu ängstigen?

Mein Gespräch mit Clemens blieb erfolglos. Gleichgültiges Schulterzucken. Was ging in seinem Inneren vor? Große Augen starrten mich trotzig an. Stumm. Herausfordernd. Bekam er zu wenig Zuwendung von seiner Mutter, die immer arbeiten musste, wenn ich mit ihr reden wollte? Mitläufertum aus Einsamkeit?

Die Polizei benachrichtigte die Eltern der Täter und wollte in die Klassen zu Gesprächen kommen, die beteiligten Schüler leisteten einige Stunden Sozialarbeit. Der Vorfall geriet bald in Vergessenheit, kein Polizist erschien jemals im Unterricht. Personalmangel. 

Schulszene: Kurz vor Beginn der Pause stellen sich die Kinder vor der Tür auf. Korbinian zieht plötzlich mit einem schnellen Ruck das Knie hoch und stößt es Lukas, der neben ihm steht, zwischen die Beine. Ich beobachte wie der vor Schmerzen zusammenzuckt, mich hilflos anschaut. Wütend  stürze ich zu den beiden hin, packe Korbinian an den Schultern und stelle ihn zur Rede: „Du weißt doch selbst, wie weh das tut. Das geht jetzt aber entschieden zu weit, völlig grundlos Lukas weh zu tun. Du kannst ab sofort in einer anderen Klasse darüber nachdenken.“

Nach der Pause entschuldigte sich Korbinian bei mir, aber ich blieb hart, diese Entschuldigung war nur ein Versuch, meine Entscheidung rückgängig zu machen. Klaus hatte ihm dazu geraten.

Klassenausschluss. Ich informierte meinen Chef. Genervt erklärte er mir, ich hätte nicht eingreifen müssen, Lukas trage selbst eine gewisse Schuld. Empört starrte ich ihm ins Gesicht, sah sein kühles, herablassendes Lächeln, glaubte schon, mich verhört zu haben, fühlte mich nicht Ernst genommen. Im ersten Moment suchte ich sprachlos vor Wut nach den richtigen Worten, um ihm zu widersprechen, da erklärte er ungerührt: „Sie brauchen erst einzuschreiten, wenn das Opfer Sie darum bittet.“

„Wie bitte? Herr Gruff, Sie fordern von uns Lehrern, dass wir keine aggressiven Handlungen unter den Schülern dulden sollen. Mit Ihrer Meinung verwirren Sie mich nun total. Ich kann doch nicht immer warten, bis sich die sogenannten Opfer bei mir Hilfe holen. Das ist doch gerade das Problem, die Schwächeren gehen nicht zum Lehrer, sie trauen sich das gar nicht, weil sie nicht als Petzer dastehen wollen. Denken Sie doch an die Pausen. Wie soll ich mich denn da als Pausenaufsicht verhalten? Bei Prügeleien einfach wegschauen,  sie ignorieren? Meinen Sie das wirklich?“

Pause. Zwei Jungen schlagen sich, einer ist sichtlich unterlegen, aber sobald ich mich nähere, wird gebrüllt: „Es ist nur Spaß.“ In den Augen des Schwächeren sehe ich die Angst und den Schmerz aufflackern, während der Angreifer hämisch grinst und mich herausfordernd anschaut. Ich trenne die beiden und frage den Unterlegenen: „Ist das auch für dich Spaß?“ Zögernd wird dann meist der Kopf geschüttelt und ich weiß, der Täter wird warten, später, irgendwo auf dem Schulweg oder an einer Stelle, an der er sich unbeobachtet fühlt. Nur kurze Zeit kann ich Schutz bieten, Gewalt verhindern. Aber ist das ein Grund, eine Prügelei zu übersehen?

Wieder einmal wurde das Gespräch abrupt beendet, wie so oft, der Gong ertönte, die Antwort blieb mein Chef mir schuldig.

Manuel boxt seinen Nachbarn in den Rücken, mehrmals. „Ich habe ihm nichts getan, er heult ja nicht.“

*

Kann es sein, dass Täter in der Schule grundsätzlich mehr Zuwendung erhalten als ihre Opfer? Pädagogische Maßnahmen für beide Gruppen halte ich deshalb unbedingt für erforderlich. Den Tätern wird Zuwendung in Form von Zeit gewährt, auch wenn diese im Ableisten von Sozialstunden besteht, mit den Tätern wird immer wieder geredet, ihnen wird zugehört, für sie werden Personen freigestellt, die sich nur mit ihnen, den Tätern befassen. Täter stehen im Mittelpunkt.

Wer aber spricht mit den Opfern? Allzu schnell werden diese abgestempelt als Weicheier oder Schlappschwänze. Die Ängste der Opfer werden nicht Ernst genommen. Sie äußern sich in Kopfschmerzen, Bauchweh und häufigen Erkrankungen. Ich beobachtete Robert, einen Schüler meiner Klasse, der immer als letzter das Klassenzimmer betrat und in der Pause nicht in den Pausenhof wollte, stattdessen lieber heimlich im Gang herumschlich, um nicht gesehen zu werden. Ich wusste auch warum: Robert wurde ständig angemacht und verspottet. Ein höfliches Kind, das Therapiestunden erhielt, mit dessen Therapeuten ich bereits geredet hatte und der meine Meinung bestätigte: Robert litt unter Schulangst. Er fiel allerdings kaum auf im Klassenverband. Wen also interessierte sein Gefühlsleben? Ich versuchte sein Selbstbewusstsein zu stärken, und musste mir ausgerechnet von den schlimmsten Störern sagen lassen, dass ich ihn bevorzuge. Meine Gegenfrage: „Wundert euch das?“

*

„Natürlich ist mir  aufgefallen, dass mein Sohn Robert nun immer Streichwurstbrote für die Pause haben wollte. Er lehnte jede angebotene  Abwechslung ab. Ich wunderte mich allmählich, bis ich zufällig von seinem Freund erfuhr, dass Korbinian, ein Mitschüler, ihm  immer in der Pause seine Brote wegnahm. Eine Zeit lang funktionierte das auch, mein Sohn ließ sich Brote schmieren für einen anderen, der ihm Prügel androhte, falls er seine Brotzeit nicht abgeben würde oder petzen sollte. Als Robert zufällig feststellte, dass der andere Streichwurst nicht leiden konnte, entschloss er sich zu dieser Wurstart, um sein Pausebrot zu retten und vor allem, nehme ich an, damit er in keine Schlägerei geriet.

Mein Sohn ist ein ruhiger Kerl, kein Rabauke. Leider wird er immer sofort ausgelacht, weil er ein bisschen langsam ist im Sprechen und auch so, aber er ist sehr verträglich, höflich und freundlich, nur in dieser Klasse wird das nicht respektiert, im Gegenteil. Natürlich leidet er unter dem Spott der anderen, wehren kann er sich schlecht, er versucht es eben auf seine Art: Von der Lehrerin erfuhr ich, dass er fast immer knapp vor Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer betritt und er verlässt das Schulhaus als letzter der Klasse. Oft klagt er schon zu Hause über Übelkeit und Kopfschmerzen.  Er will auf keinen Fall, dass ich mit der Lehrerin über seine Probleme spreche. Er befürchtet, andere könnten davon erfahren und es ihm heimzahlen.

 Sein Selbstwertgefühl muss gestärkt werden, meint sein Therapeut, aber das ist leicht gesagt, erklären Sie das mal einem  Kind, das jeden Tag Angst hat vor bestimmten Mitschülern, die schon grinsend auf ihn warten, um sich einen Spaß mit ihm zu machen. Die Lehrerin? Mit der kommt er gut klar, sie scheint ihn auch zu verstehen und zu unterstützen, aber genau darüber lästern schon wieder einige ganz harte Typen. Er kann sich schon gar nicht mehr über ein Lob freuen, weil ihm die Freude gleich wieder vermiest wird. Schwierig ist das, auch für die Lehrerin, die sich wirklich Mühe gibt und selbst schon ganz verzweifelt wirkt.

Sogar ein Elternabend war einberufen worden, um über das schlechte Klassenklima zu reden, gemeinsam mit den Fachlehrern und Eltern. Nicht nur die Klassenlehrerin sorgt sich um fehlende Klassengemeinschaft, auch die Fachlehrer haben die gleichen Probleme.

Kaum zu glauben, sagen viele Eltern, aber mich wundert es nicht. Ich kenne viele der Kinder schon aus dem Kindergarten, auch ihre Eltern, damals traten schon die ersten Schwierigkeiten im Umgang miteinander auf. Jetzt in der Pubertät wird es wohl besonders heftig, die Eltern sind auch immer machtloser und werden mit ihren Kindern nicht fertig. Alle Schuld wird dann auf die Lehrer abgewälzt. Wohin soll das noch führen?

Sie sehen es ja selbst, was die Kinder heute mit den Lehrern anstellen. Die schrecken doch vor nichts mehr zurück. Denken Sie nur an Erfurt und an all die anderen Versuche von Schülern, die eigenen Lehrer aus dem Weg zu schaffen, ja sie sogar umzubringen. Die denken wohl: ‚Weg mit den Lehrern, dann geht es uns besser.’ Aber damit sind die Probleme doch nicht gelöst, oder?

  1. Juli? Was ich von dem Unfall halte? Da hatte Roberts Lehrerin ja noch Glück gehabt, es hätte Schlimmeres passieren können, in dieser Klasse, meine ich.

Wo Robert an diesem Tag war, nachmittags? Genau weiß ich es nicht, aber Sie können ihn ja fragen.“ Roberts Mutter

*

Aber reden auch Opfer und Täter miteinander? Was wird getan, um eine positive Beziehung zwischen beiden aufzubauen? Wie kann das Verhalten von Opfern und Tätern sinnvoll geändert werden? Wer spricht von Wiedergutmachung? Nicht umsonst gibt es zunehmend Kurse für Schüler, die ihnen helfen sollen, sich erfolgreich zu wehren, ohne gewalttätig zu werden. Es gibt mir zu denken, dass diese Kurse immer häufiger angeboten werden. Im Umgang mit Erwachsenen sind sie sicher hilfreich, um Missbrauch vorzubeugen, aber auch der Umgang von Kindern untereinander wird zunehmend problematischer. Im  Lehrplan müsste mindestens eine Stunde für Verhaltenstraining und zwar von der ersten Klasse an vorgesehen sein.

Aus einem VHS-Programmangebot: „Lass das – ich hass das!“ Selbstbehauptung für Mädchen (gibt es auch für Jungen)

…Die Mädchen lernen ihren „komischen Gefühlen“ zu vertrauen und entsprechende Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. In Rollenspielen, die von Alltagssituationen (Pausenhof, Spielplatz, Schwimmbad usw.) der Mädchen ausgehen, üben sie Grenzen zu setzen, „Nein“ zu sagen, Selbstsicherheit auszustrahlen, Hilfe zu holen. Sie erproben ihre individuellen, ihrem Alter entsprechende, Verhaltens- und Verteidigungsmöglichkeiten. 

Erfahrungen aus anderen Ländern: In Norwegen hatte man festgestellt, dass Kinder, die häufig positive Körperkontakte pflegen freundlicher miteinander umgehen. Als Beispiele wurden u. a. genannt: das tägliche Grüßen mit Handschlag, das Hände fassen bei einem Stehkreis.

Auch das probierte ich aus, zugegeben, vielleicht nicht oft genug, nicht lange genug, denn meist drückte einer den anderen zu fest, schlug ihn zu kräftig und der Kontakt wurde zu einer schmerzhaften Berührung, das Ganze endete in einem haltlosen Geschrei, in einem chaotischen Durcheinander.

Können die Schüler lernen, Nähe auszuhalten, ohne auszurasten? Ich wollte es wissen.

Musik wird abgespielt, die Schüler bewegen sich im Raum, dürfen sich dabei nicht anrempeln, bei einem Anhalten der Musik müssen vorher festgelegte Aufgaben erfüllt werden z. B. dem Vordermann die Hand auf die Schulter legen oder ihm die Hand zu geben.

Immer wieder brechen einige aus, schon nach wenigen Sekunden toben sie schreiend durch den Raum, ohne Rücksicht aufeinander zu nehmen. Viele ertragen keine gegenseitige körperliche Nähe, rasten sofort aus. Erlaubte Berührung wird nicht verkraftet. Aber ist körperliche Gewalt nicht auch eine Sonder-Form von Berührung? Einseitiger Körperkontakt zwar, der Überlegenheit vermittelt. Einer muss sich wohl immer als der Stärkere fühlen, einer muss bestimmen, wann er den anderen berühren will und auch wie: Schlagen, boxen, treten, spucken. Nähe, bei der man sich nicht zu nahe kommt, denn dann könnten unerwartet Gefühle geweckt werden, unerwünschte, wie Mitleid vielleicht oder auch Verständnis.

Ich schaue schweigend auf meine Klasse, beobachte den ausgebrochenen Tumult und frage mich immer wieder:

Hatten diese Kinder jemals positive Körperkontakte erlebt? Wurden jemals zärtlich berührt, gestreichelt, liebevoll umarmt von ihren Eltern?

Bis alle wieder sitzen vergehen kostbare Minuten.

Die tägliche Frage: Wie schaffe ich es, den wichtigsten Stoff verständlich zu übermitteln und gleichzeitig versäumte Erziehungsarbeit zu leisten? Die Antwort: Ich schaffe es nicht. Diese Erkenntnis wird immer klarer. Mir war es nicht möglich.

Ich verfluchte meinen Ehrgeiz, diese Klasse verändern zu wollen, zum Positiven natürlich, wünschte ich wäre gleichgültiger, gelassener, es waren ja nicht meine Kinder. Was mühte ich mich täglich ab mit ihnen, warum hoffte ich immer noch auf die Bewahrheitung von so schönen  Sprichwörtern, die da hießen: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.“ Oder „Wie du mir, so ich dir.“ War ich tatsächlich eine naive Närrin, eine Träumerin, die an der Realität vorbeilebte?

Mein Körper warnte mich bereits seit langem mit qualvollen Kopfschmerzen, die vor allem an den Wochenenden auftraten und mich lahm legten. Was zerbrach ich mir also den Kopf über Probleme fremder Kinder und Eltern? Mein Gehalt erhielt ich doch auch ohne diese Mühe …

Es gab ja auch Lehrer, die alles lockerer nahmen, die sich nicht so in ihre Arbeit hineinsteigerten, die mehr von ihrer Freizeit hatten und die zu allem noch von den Schülern bewundert wurden.

Warum gelang mir das nicht? Ich fühlte mich immer wieder verantwortlich für diese Kinder.

 

 

 

 

 

Mütter

29 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Frau, Frauen, Geburt, Glück, Mütter, Väter

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Innerlich aufgewühlt war sie von einem Besuch im Krankenhaus zurückgekommen. Nein, es war kein trauriger Anlass gewesen und auch nicht beunruhigend, wirklich nicht. Sie hatte eine Freundin besucht, die vor wenigen Tagen ihr zweites Kind geboren hatte, ein Mädchen.
Die glückliche Mutter hatte ihr in allen Einzelheiten den Verlauf der Entbindung erzählt, eine Traumgeburt wie es schien. Alles lief wie erwartet. Ihr Mann war anwesend, sie konnte auf Schmerzmittel verzichten und alles bewusst miterleben. Geduldig hatte sie zugehört und versucht, die leisen Neidgefühle, die irgendwo tief aus ihrem Inneren auftauchten, weit weg zu verbannen. Sie schämte sich deswegen, konnte mit niemandem darüber reden.
Gewiss, sie gönnte ihrer Freundin diese Traumgeburt. Gerade ihr, denn sie hatte bei ihrer ersten Tochter nicht so viel Glück gehabt. In letzter Minute, nach stundenlangen Wehen bekam sie noch einen Kaiserschnitt, was sie damals sehr frustriert hatte. Eine große Hilfe war ihr Mann, denn sogar während des Kaiserschnittes war er anwesend und leistete seelische Hilfestellung. Aufmerksam hörte sie ihrer Freundin zu und versuchte dabei ehrlich Freude zu empfinden. Hanna drückte ihr auch gleich das Baby in den Arm, vertrauensvoll. Da saß sie nun und spürte wieder den weichen duftenden Körper eines Neugeborenen. Wann hatte sie zum letzten Mal ihr eigenes Kind so im Arm gehalten?
Ohne es zu wollen tauchten ungerufen immer wieder Bilder auf, die sie längst vergessen glaubte. Langsam ahnte sie wieder das unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie überflutete als sie ihren Sohn zum ersten Mal auf den nackten Bauch gelegt bekam, blutverschmiert noch die zarten Finger, soeben aufgetaucht aus ihrem sicheren Inneren, abhängig nun von ihr und sie von ihm, eine unbekannte Zeit lang.
Ein Gefühl der Trauer verspürte sie immer noch, wenn sie an ihren zweiten Sohn dachte, den sie nach einem einsamen Kaiserschnitt nicht zu sehen bekommen hatte. Er musste sofort in eine Kinderklinik gebracht werden wegen einer Komplikation, die ihr bis heute noch niemand ausführlich erklärt hatte. Sie hatte sich die Nacht hindurchgequält, war jede Stunde von der Schwester geweckt worden, hatte Schmerzen ertragen, in der Hoffnung, am anderen Tag hätte sie das Schlimmste bereits überstanden. Sie freute sich auf das Kind, auf Besuche und Blumensträuße. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis die Erkenntnis durch ihr vernebeltes Bewusstsein drang, das Kind war ja gar nicht hier, es war fort, lag ebenso einsam wie sie in einem Bett und keiner tröstete es. Am anderen Morgen traf sie ein zweiter Schock. Sie wurde von einer Minute auf die andere ohne große Erklärungen in ein anderes Krankenhaus gebracht, angeblich war etwas nicht in Ordnung mit ihr.
Unfähig zu reden lag sie im Krankenwagen, hilflos ausgeliefert. Mit aller Kraft versuchte sie nicht zu weinen. Nur nicht weinen, nur keine Tränen, denn sie hätte nicht mehr aufhören können, lange Zeit nicht. Auf keinen Fall wollte sie hysterisch sein, nein stark, aber das tat so verdammt weh. Keiner hatte je hinterher gefragt, wie sie sich dabei gefühlt hatte und es hätte ihr so gut getan, darüber reden zu können.
Verdammt, diese dummen Gedanken schossen ihr immer wieder durch den Kopf, wenn sie Besuch auf einer Entbindungsstation machte. Ein freudiger Anlass. Alle waren fröhlich, überall herrschte entspannte Stimmung. Aber sie war sich sicher, dass es auch hier Frauen gab, deren Entbindung nicht so komplikationslos verlaufen war, deren Kind vielleicht in einer Kinderklinik lag und die deshalb litten, während um sie herum die glücklichen Mütter stolz auf ihre gesunden Kinder waren. Sie konnte gerade die unglücklichen Mütter gut verstehen. Irgendwoher kam da jedes Mal eine Wehmut, die sie stets überfiel bei solchen Besuchen und die eine quälende Unruhe bei ihr hinterließ. Wirklich, sie gönnte ihrer Freundin das Glück, aber sie beneidete sie auch ein wenig um ihren Mann. Ja, sie gab es ehrlich vor sich selber zu. So war es. Jetzt wusste sie plötzlich woher ihre traurigen Gefühle kamen.
Sie hatte beobachtet wie glücklich auch er war. Beide badeten das Kind, aber er war der Hauptakteur. Behutsam trug er das Baby, badete es und wickelte es. Durch die Glasscheibe sah sie zu und sehnte sich danach, dass ihr Mann auch einmal bereit wäre, ihr so zu helfen. Noch strahlten die jungen Mütter und Väter beim Baden und Wickeln ihrer Töchter und Söhne, noch hatten sie keine Ahnung was sie alles mit ihren Kindern erleben würden. Vor allem die Nächte fielen ihr dabei wieder ein. Schlaflos die Kinder, übermüdet die Mutter. Aber auch die Nächte konnte man sich teilen, wenn man nur wollte. Ihr war es nie gelungen, jahrelang hatte sie darunter gelitten. Wie sie ihren Mann hätte davon überzeugen können, sie wusste es nicht, weiß es heute noch nicht. Vorbei, diese Zeit, aber was bleibt ist die Erinnerung und die Vorstellung wie es hätte sein können, das Idealbild lässt sich nicht vergessen.
Äußerlich fröhlich verabschiedete sie sich von dem Elternpaar, länger wollte sie nicht stören.
Nachdenklich stieg sie ins Auto und begann sich über ihre unbehagliche Stimmung zu ärgern. Zuhause ging es ihr nicht besser. Sie fühlte sich aufgewühlt, von den Wogen der Erinnerung verschlungen. Da half kein Verdrängen. Mutig stellte sie sich ihren Gedanken, nur dann, das wusste sie aus Erfahrung, wurde sie wieder ruhiger, ein bisschen wenigstens. Sie griff nach einer Tafel Schokolade, einem Trostpflaster, was ihr auch völlig bewusst war. Aber sie wollte nur ihre innere Ruhe wieder haben und begann langsam ein Stück nach dem anderen in den Mund zu schieben, wohl wissend, dass sie sich selbst täuschte.

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