Schlagwörter
Ausdruck, Bühne, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gruppe, Irland, Lieder, Musik, Sänger
Das gedämpfte Stimmengemurmel verstummte plötzlich als ihre Namen angekündigt wurden. Im Zelt, das an Zirkusspiele längst vergangener Kindertage erinnerte, waren alle Blicke erwartungsvoll auf die Bühne gerichtet. Zwei einfache Stühle standen bereit, schwarzen Schlangen gleich lag ein Gewirr von Kabeln auf dem Holzboden, Mikrofone und Verstärker miteinander verbindend.
Leichten Schrittes, die Geige in der Hand trat sie, beinahe unauffällig, vor einen der Stühle. Kurzes Begrüßen des Publikums und sie schien bereit. Ihr Partner stellte sich vor, einige englische Sätze sprechend, vermutlich von den wenigsten verstanden. Die Spannung nahm zu und die beiden vorne auf der Bühne spürten die Erwartung beinahe körperlich als starke Hände, die ihre Schultern unerbittlich niederdrückten.
Endlich ihre Musik erklang, befreiend und faszinierend. Und endlich konnte ich sie ungestört beobachten, Nancy, deren blasses Gesicht mich sofort tief beeindruckte.
Dunkle Haare umrahmten dieses junge Gesicht, das in seiner unnatürlichen Blässe weiß leuchtete und kaum lebendig wirkte. Manchmal lächelte sie, allerdings sehr zurückhaltend. Mir schien, sie wollte uns ihre Musik und ihre klangvolle Stimme nicht vorenthalten, aber gleichzeitig so wenig wie möglich verraten von sich selbst. Dabei hätte ich so gerne mehr von ihr gewusst, hätte zu gerne hinter diese weiße Maske geblickt hinter der sie die Regungen ihres Gesichtes versteckte aus Gründen, die ich nur ahnen konnte. Warum sie ausgerechnet grüne Stiefel trug blieb ihr Geheimnis. Einfache grüne Schnürstiefel, Boots eben, die zu ihrer schwarzen Jeans, dem schlichten beigen T-Shirt und der langen dunkelroten Jacke passten bis auf die Farbe, wie mir schien. Da ihr Gesicht mir nicht viel über sie verriet, konzentrierte ich mich auf ihre Füße. Diese bewegten sich im Takt, gleichmäßig, mechanisch. Was faszinierte mich so an Nancy, die fast unbeteiligt auf der Bühne saß, fast unbewegt auf ihrer Geige ergreifende Musik zaubern konnte und deren reine Stimme uns alle tief berührte?
Ich schloss die Augen und wusste es: Nancy gehörte nicht hierher in dieses überfüllte Zelt, das sie drohte einzuengen. Nancy brauchte die Weite Irlands. Das Meer mit seiner nie verstummenden Musik, seinem unverkennbaren bitterherben Geruch nach Fisch und moosig glitschigen Algen, dem Wind, der sie streichelte, wo immer sie war. Die Freiheit der Berge, deren Grün sie umgab wie eine Schutzhülle.
Irland, die grüne Insel. Irland, täglich Regen. Irland, Rothaarige und Kinderreiche. Irland, unzählige Arbeitslose. Irische Butter. Nordirland, jahrelange Brutalität. Irish Coffee. Irish Whisky. Irische Auswanderer.
Irland wird in Zukunft für mich das Bild von Nancy sein, ihre Musik, ihre Stimme.
Der Applaus riss mich aus meinen Gedanken, holte mich zurück aus meiner Vorstellungswelt.
Nancy nahm den Beifall höflich entgegen. Ein stummer Blickwechsel mit ihrem Partner genügte, um sich auf das nächste Stück einzustimmen. Steafan strahlte eine wunderbare Mischung von Spitzbübigkeit und Schüchternheit aus. Ihm gelang es, den unterschiedlichsten Instrumenten eine Musik zu entlocken, so ungewöhnlich und einzigartig, dass sie die Zuhörer bannte. Beide, Nancy und er waren noch keine abgehärteten Profis, beide waren noch unverfälscht in ihrer Art, beide waren sie manchmal unsicher, aber gerade das machte sie so überzeugend – jedenfalls für mich.
Nicht allen unter dem Zeltdach schien es zu gelingen, sich auf eine gedankliche Reise nach Irland einzulassen. Nicht alle schienen den Wind zu spüren und den Geruch des Meeres einzuatmen. Die Ansichten eines Landes in einen Koffer zu packen, Postkarten gleich, um sie dann stückweise wieder wie ein Puzzle zusammenzusetzen war wohl kaum allen möglich. Und doch, bei einigen Zuhörern entstand ein Bild, ein Irlandbild besonderer Art, geprägt von der Einzigartigkeit Nancys und Steafans.
Ein Strauß Blumen für Nancy, letzter Applaus und beide verließen die Bühne, leise, unauffällig.
Völlig anders traten ihre Nachfolger auf, die Greensleeves. Laut, lebhaft, profihaft. Wie vom Wind aufgewirbelte Blätter beherrschten sie die Bühne, warfen gekonnt scherzhafte Worte ins Mikrofon. Zwei Männer, eine Frau. Die Greensleeves strahlten Erfahrung aus, Leben. Sofort fühlte ich mich in ein anderes Irland versetzt. Ein Irland der Pubs, der Industriestädte, verraucht und verqualmt. Ein Irland der Geselligkeit. Trinkfestigkeit war angesagt, das Gegröle Betrunkener war zu hören. Dieser Wechsel vollzog sich so unerwartet schnell, dass ich zuerst entsetzt darauf reagierte. Das war nicht meine Welt. Am liebsten hätte ich mich zurückgezogen, wäre geflüchtet. Aber auch das war ja Irland, ebenso echt wie das Irland von Nancy und Steafan, also ließ ich mich ein auf diese stürmische Musik, die erst allmählich meine Sympathie fand.
Die drei auf der Bühne schienen sich dort wohl zu fühlen, strahlten Sicherheit aus, spielten mit dem Publikum, ließen es mitklatschen, mitsingen, mitlachen. Das Zelt verwandelte sich plötzlich in ein riesiges Pub. Waren auch die Zuhörer ohne Bier, die drei auf der Bühne schwenkten immer wieder ihre Bierflaschen und warfen Bonbons gleich erheiternde Worte in die Menge.
Alison, der Mittelpunkt der Greensleeves, beherrschte souverän ihre Rolle: Sie war die Frau mit dem Akkordeon, saß in der Mitte, sprach zu den Texten, Deutsch, leicht verständlich, sich abwechselnd mit Frank, dem Mann mit der Geige, der sich kaum ruhig an einem Platz halten konnte. Dauernd in Bewegung auch der Mann mit der Gitarre, Paul.
Während Nancys und Steafans Musik ein Zuhören erforderte, ein träumerisches, verlangte die Musik der Greensleeves ein Mitmachen. Eine winzige Brise allzu künstlicher Heiterkeit würzte ihren Auftritt. Gewiss, sie wirkten sehr gesellig, waren gut vorstellbar in einem dunklen rauchwolkengefüllten Pub, aber irgendwie schienen sie mir auch anders zu sein als sie sich so krampfhaft geben wollten. Sie versteckten sich hinter den mitreißenden Klängen ihrer originellen Instrumente.
Was ging auch das Publikum an, wer und wie sie wirklich waren? Es war schon fast eine Sucht von mir, Menschen, die mich beeindruckten, näher kennenlernen zu wollen. Ich wollte keine schlagzeilenähnlichen Auskünfte, nein, keinesfalls, ich wollte einfach mehr von ihnen wissen, wollte das Echte in ihnen aufspüren, mehr nicht, aber das war schon fast zu viel.
Noch ein letztes Mal, Nancy und Steafan auf der Bühne, zusammen mit den Greensleeves. Ein Versuch, die Türen verqualmter Pubs weit zu öffnen, die herbe Luft des Meeres, die Kühle der Berge einzulassen, durchzuatmen vor dem Heimweg. Ein letzter musikalischer Klangtupfer und das Bild Irlands schien gemalt.