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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Vorstellungen

November

01 Sonntag Nov 2015

Posted by josephinesonnenschein in Gedicht, Literatur, Lyrik

≈ 8 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Ausdruck, Einsamkeit, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen

Und wieder an Gräbern stehn
wie jedes Jahr
und wieder vor lauter Gräber
nichts als Namen sehn,
gepresst in Stein oder Holz,
geboren, gestorben, alles klar ablesbar,
gelebt aber, wie und wofür,
gehofft worauf, gebangt um, sich gefreut über,
geträumt von, geliebt  oder gehasst von wem,
wir wissen es nicht,
wir werden es nicht mehr wissen
zu lange haben wir gewartet, oft
zu wenig haben wir gefragt, manchmal
zu viel haben wir versäumt, fast immer
was also bleibt zu tun
Gräber pflegen,
nachträglich
Gräber schmücken,
an gewissen Tagen
Gräber besuchen,
in gleichen Abständen
kann das alles sein
mit starren Gesichtern unzählige Menschen um mich,
erkennen nicht den wahren Augenblick,
fühlen nicht unsere Gemeinsamkeit,
schenken sich kein Lächeln, kein Wort,
lassen ihre Blicke stumm über Gräber kreisen,
kontrollieren, vergleichen, werten,
erkennen nicht, was wichtig wäre,
jetzt aufeinander zu warten,
jetzt einander zu fragen,
jetzt miteinander zu leben
in diesem Meer von Menschen, dieser Kälte von Gleichgültigkeit
möchte ich nicht ertrinken
ich gehe

Gouache und Pastellkreide auf Papier

24 Mittwoch Jun 2015

Posted by josephinesonnenschein in Bild, Bilder, Gedanken, Gemälde, Gouache, Kunst, Malerei, Pastellkreide

≈ 2 Kommentare

Schlagwörter

Gouache, Pastell, Pastellkreide, Phantasie, Traum, Träume, Vorstellungen

Blau_small

Blaue Phantasie (2000)

Versuch einer Erklärung

12 Dienstag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Droge, Drogen, Erinnerung, Erklärung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gedicht, Gefühle, Krankenhaus, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Psychologie, Rauschgift, Rauschmittel, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Tod, Vorstellungen

VersucheinerErklärung_sm

Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich hier auf den Stuhl. Ich kann nur leise sprechen, das hat man Ihnen sicher schon gesagt. Sind Sie erstaunt über mein Aussehen? Doch, ich merke es Ihnen deutlich an, nein, versuchen Sie nicht dagegen zu reden. Wahrscheinlich habe ich Sie durch mein Äußeres erschreckt, aber ich habe keinen Spiegel und es interessiert mich auch nicht wie ich aussehe. Wozu auch, mir ist alles so gleichgültig. Am liebsten würde ich schlafen, schlafen, Tag und Nacht und irgendwann möchte ich erwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.

Aber Sie wollen mit mir reden, keine Angst, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Fangen Sie also an, ehe ich zu müde werde.

Sie wollen wissen, ob es Absicht war, was sich an jenem Abend ereignet hat? Darauf kann ich keine Antwort geben, noch nicht, denn ich bin mir selbst darüber nicht im Klaren. Vielleicht interessiert es Sie, mehr über diesen Tag zu erfahren, Sie könnten sich dann selbst Ihre Meinung bilden. Ja? Es ist eigenartig, aber irgendwie vertraue ich Ihnen. Bei allen anderen habe ich mich geweigert darüber zu sprechen. Aber ich spüre, dass ich endlich reden muss, um nicht daran zu ersticken. Bitte hören Sie nur zu und geben Sie keine Kommentare ab, schreiben Sie auch nichts mit, sonst könnte ich nicht sprechen. Sie sind einverstanden? Gut. Ich nehme an, man hat Ihnen schon eine Menge über mich erzählt und Sie haben eine gewisse Vorstellung von mir. Sicher wissen Sie noch nicht wie ich ihn kennen gelernt habe.

Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Hosengeschäft, probeweise. Was ich später machen sollte, wusste ich damals nicht. Meine Eltern erwarteten, dass ich mich um eine gute Ausbildung bemühen werde, aber ich wollte mir dazu Zeit lassen. Kurz vor Ladenschluss sah ich ihn zum ersten Mal. Mein erster Eindruck? Ich hielt ihn für eingebildet, gut aussehend, ja, aber zu arrogant. Er sah sich im Laden um, betont lässig, ohne etwas zu kaufen. Wenige Tage darauf, stand er wieder im Laden und wollte von mir beraten werden. Ich versuchte, ihn so freundlich wie die anderen Kunden auch zu behandeln. Er fand nichts Passendes. Eine Woche lang erschien er jeden Tag und allmählich schwand mein innerer Widerstand und ich willigte ein, eines Abends, mich mit ihm zu treffen. Ich war fest entschlossen, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Abwarten wollte ich, wie er sich verhalten würde. Aber schneller als erwartet hatte er mich von sich überzeugt. Da fällt mir ein wie er mir eine Rose schenkte, die er zuvor hastig von einem blühenden Strauch abgerissen hatte, zufällig hatte ich ihn dabei beobachtet. Verlegen lächelnd schleuderte er die Rose über den Ladentisch in meine Hände. Überrascht hielt ich die zarte Blüte fest und atmete ihren zarten Duft ein, glücklich. Jetzt denke ich, vielleicht war alles Berechnung und ich war zu leichtgläubig. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich von ihm abgestoßen fühlte, von seiner kalten Sprache, seiner Verachtung anderen gegenüber. Nach und nach erfuhr ich mehr von ihm und begann langsam zu begreifen, ein bisschen wenigstens wie er so geworden war.

Ich wohnte noch bei meinen Eltern und er bei seiner alleinstehenden Mutter. Wo also konnten wir uns treffen außer in Cafes und später dann in üblen Kneipen, in denen er mit abstoßenden Leuten bekannt war, denen ich zunächst am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Immer wieder überfiel mich Furcht vor meinem eigenen Verhalten. Wie konnte es geschehen, dass ich innerhalb kürzester Zeit in Kneipen verkehrte, in die ich mich vorher nie gewagt hätte? Ich verstand mich selbst nicht. Meine Eltern hatten wohl auch Angst vor meiner Veränderung. Sie drängten mich, diese unglückliche Freundschaft wie sie es nannten, aufzugeben. Aber da war es schon zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück, obwohl ich es damals gerne gewollt hätte.

Ob ich wusste, dass er verheiratet gewesen war? Ja, irgendwann hatte er darüber geredet, nicht viel, aber ich spürte, das hatte er nicht verkraftet, dass seine Frau die Scheidung gewollt hatte. Nein, Gründe nannte er mir nicht. Sie scheinen darüber mehr zu wissen als ich? Sie schweigen. Mir wurde selbst bald klar, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Sie musste es tun, um sich zu retten, sonst wäre es ihr ergangen wie mir. Sie verstehen nicht, wie ich das meine? Seit er arbeitslos war, hatte er angefangen erste Erfahrungen mit Drogen zu machen und wie es dann weiterging, haben Sie sicher schon lange in Erfahrung gebracht, nehme ich an. Nein? Er konnte bald nicht mehr ohne Drogen leben. Er träumte davon, sich große Mengen zu beschaffen, um möglichst lange in seiner neu entdeckten Welt leben zu können, frei von aller Verantwortung und den Erwartungen der Gesellschaft. Sein Ziel war, tun und lassen zu können, was er wollte und wann er es wollte.

Sie meinen, das sei die Welt eines Kleinkindes. Ja, gerade das dachte ich auch manchmal. Die Droge als Schnuller sozusagen, der pure Zufriedenheit und Lustgewinn garantierte sobald ihn das Baby im Mund hatte. Flucht nach rückwärts, um sich allen Anforderungen zu entziehen.

Aber er war kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen, trotz seiner herausgeputzten Männlichkeit, die er gerne zur Schau stellte durch seine auffällige Kleidung, mit denen er seine Muskeln betonte. Hinter seinem unnahbaren Verhalten verbarg sich, gut getarnt, einsame Schwäche.

Bis heute verstehe ich nicht wie es passieren konnte, dass auch ich Erfahrungen mit Rauschgift machte. Lange habe ich mich geweigert, hartnäckig. Ich könnte auch ohne dieses Zeug leben, habe ich verzweifelt geschrien, wenn er immer wieder darauf bestand, dass ich mit ihm in seine verrückte Welt flüchten sollte, um dort frei zu sein. An Trennung dachte ich oft in dieser Zeit. Längst war ich abhängig von ihm und bald würde ich es auch von Drogen sein. Was also hinderte mich an einer endgültigen Trennung von ihm? Angst, ich hatte einfach Angst vor dem Alleinsein. Irgendwie hoffte ich wohl  immer noch durch meine Zuneigung einen gewissen Einfluss auf sein Leben, das in eine Sackgasse geraten war, nehmen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung wie aussichtslos es war, ihn aus dieser Sackgasse zurückholen zu wollen. Allein, ohne fremde Hilfe wäre das unmöglich gewesen, teilten mir die Ärzte später mit.

Wie ich es empfunden habe, abhängig von Drogen zu sein? Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht wie die Fahrt mit einem Ballon. Man hebt lautlos und langsam ab, lässt alles Unangenehme wie Ballast unter sich. Mit dem unaufhörlichen Höhersteigen verkleinern sich automatisch alle Probleme, werden beinahe unsichtbar. Die Landung erfolgt dagegen oft sehr unsanft. Du wachst auf und alles ist wieder sichtbar, deutlicher und erdrückender als zuvor. Unlösbar all deine Probleme und du hast nur den einzigen Wunsch, wieder zu starten, um abzuheben, höher als beim letzten Mal.

Die Zeit drängt, ich weiß. Warten Sie noch ein bisschen, bitte. Sie sind wirklich nicht ungeduldig? Ich glaube Ihnen. Alle anderen, die kamen, um mich zu befragen, hatten keine Geduld mit mir. Da hatte ich beschlossen, mich nicht ansprechbar zu zeigen. Regungslos, schweigend lag ich im Bett, ohne sie zu beachten.

Verärgert mussten sie schließlich wieder gehen. Tagelang versuchten sie, mir eine Antwort zu entlocken, aber ich weigerte mich. Eine Schwester, die echte Anteilnahme an mir zeigte, kam mir dabei zu Hilfe. Stets betrat sie wenige Minuten nach dem Besuch der Herren, zwei in Uni­form und zwei in Zivil, das Zimmer, um an meiner Infusion eine Änderung vorzunehmen und so einen Grund zu finden, die strengen Herren zu verabschieden und sie auf die nächsten Tage zu vertrösten.

Ich bin froh, dass heute Sie gekommen sind. Wer kam auf die Idee, die Polizei aus dem Spiel zu lassen? Die freundliche Schwester? Ja, das habe ich fast vermutet. Aber zurück zu Ihrer Frage. Absicht oder nicht? Hören Sie bitte weiter zu.

An jenem Tag genossen wir mit Freunden das herrliche Wetter und die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende. Schon am frühen Nachmittag lagerten wir an einem See. Wir grillten, tranken, badeten und waren sehr ausgelassen, zum Ärger der anderen Bade­gäste, die mit Unverständnis darauf reagierten und uns empört beschimpften. An diesem Tag hatte ich den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Heute noch, nur heute noch mache ich mit, dann werde ich ihm mitteilen, dass ich aussteigen werde aus diesem Milieu und auch aus unserer Beziehung. Aussteigen wie aus einem parkenden Auto, Tür auf, danke fürs Mitnehmen, die Fahrt war angenehm, aber ich muss nun in eine andere Richtung, Tür zu. Auf Wiedersehen. So wollte ich es machen. Nächtelang hatte ich gegrübelt und mit mir verzweifelt gekämpft. Letzte Chance, sagte ich mir und dachte dabei an seine geschiedene Frau, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, abzuspringen.

Wie gesagt, die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen. Ich versuchte, ein letztes Mal noch unbeschwert dabei zu sein. Am Abend war ich mit ihm allein, in seinem Zimmer. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, auszusteigen, ihm die Wahrheit zu sagen, ehrlich und schonungslos. Minute um Minute zögerte ich. Es lag vielleicht daran, dass er unerwartet seine harte Schale ablegte und ich ihm näher war als je zuvor. Er erinnerte mich an eine Zwiebel. Entfernt man ihre Schalen, eine nach der anderen, rückt man dem Herzen näher, aber immer leichter muss man dabei weinen. So empfand ich sein Entblättern, gefühlsmäßig meine ich, wenn Sie das verstehen können. Deutlich spürte ich, dass seine Arroganz verschwunden war und ich mich seinem Innersten näherte. Seine überraschende Zärtlichkeit verwirrte mich. Warum war er vorher selten so gewesen? Er hielt mich fest, aber sanft und ich legte meinen Kopf an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein, spürte seine Hand warm auf meinem Haar, fühlte mich geborgen. Ich brachte es nicht fertig, ihm meinen Entschluss mitzuteilen und so stieg ich nicht aus, denn ich saß im fahrenden Auto und wagte nicht, die Tür zu öffnen und mich hinausfallen zu lassen. Hätte ich es getan, wenigstens versucht. Vielleicht hätte er das Auto, Sie ahnen, was ich damit meine, angehalten, um mich aussteigen zu lassen, gefahrlos.

Diesen letzten Abend, von dem ich noch nicht wusste, dass es sein letzter werden würde, wollte ich also nicht verderben und schob die Aussprache mit ihm auf.

Er, der immer der Starke war, wirkte auf einmal so liebesbedürftig, brachte mich immer wieder ins Schwanken. Er hätte wunderbare Tabletten von seinem Freund, schwärmte er mir vor. Mit deren Hilfe könnten wir beide ein unvorstellbares Erlebnis in einer Phan­tasiewelt haben. Nein, sagte ich wiederholt. Zum Schluss aber trank ich gleichzeitig mit ihm das Glas Cola mit den aufgelösten Tabletten. Ach, es war ein verrückter Abend.

Aus dem Radio tönte leise Musik und wir ließen uns auf sein Bett sinken, eng aneinan­dergeschmiegt. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme seiner nackten Haut auf meiner Haut und begann langsam in einen Schlaf zu fallen, traumlos, aber unendlich tief, immer tiefer und tiefer, ohne je irgendwo anzukommen. Wie lange dieses Fallen in eine künstlich erzeugte Welt dauerte, ich habe keine Ahnung. Aber der Aufschlag kam, grausam hart.

Als ich erwachte, war ich geblendet von der unerwarteten Helligkeit. Weißgekleidete Gestalten umgaben mich mit besorgten Gesichtern. Meine Hand suchte ihn, aber sein warmer Körper war nicht neben mir, er war schon lange kalt, aber noch wusste ich es nicht. Ich wollte fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte. Nur allmählich konnte ich klare Gedanken fassen, auftauchen aus diesen Nebeln von Ahnungen, die mich umgaben und zur Unfähigkeit verdammten. Von weit her drangen beruhigende Worte und eine schmerzende Müdigkeit überfiel mich anfallsartig. Stunden später sprachen sie mit mir, erklärten, sie hätten meinen Magen auspumpen müssen, um mich zu retten. Retten wozu und vor was? Diese Frage quälte mich ständig. Aber die Ärzte hatten ihre Pflicht getan, mir das Leben gerettet und nun ließen sie mich allein mit der verdammten Erkenntnis, dass es ihn nicht mehr gab, nie mehr geben würde. Ob man mir gleich die Wahrheit gesagt hat? Nein, natürlich nicht, erst nach Tagen, als sie glaubten, ich könne sie schon verkraften. Sie versuchten mir in zunächst unverständlichen Worten beizubringen, dass sie auch bei ihm alles versucht hätten, aber zu spät gekommen seien. Es dauerte lange, bis ich begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten. Oft denke ich, bis heute habe ich sie nicht richtig verstanden. Gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen. Aber man erzählte mir, ich sei tagelang immer wieder in Bewusstlosigkeit gefallen und daher nicht sei es nicht möglich gewesen.

Sie schweigen. Habe ich genug gesagt? Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich wundern über mich. Vermutlich denken Sie, ich sei abgestumpft. Aber nein, das darf ich von Ihnen nicht behaupten, ich weiß. Sie meinen, ich sei verzweifelt und leide unter Selbst­vorwürfen. Das hat noch keiner vor Ihnen gedacht, vielleicht haben Sie recht. Irgendetwas in mir ist gestorben, mit ihm, ein wichtiger Teil in mir ist tot, gefühllos. Ich spüre meinen Magen, der sich verkrampft, spüre meinen Kopf, der schmerzt, aber mein Herz spüre ich nicht, nicht mehr. Das macht mir Angst vor dem Weiterleben, nicht tot und nicht lebendig. Die Ärzte nennen meinen Zustand „Schock“ und meinen, es werde bald wieder aufwärts gehen mit mir. Sie nicken zustimmend. Glauben Sie den Ärzten? Ja, vielleicht macht es ein wenig Hoffnung, die Aussicht auf Besserung.

Darf ich Ihnen zum Schluss noch ein paar Fragen stellen? Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm meinen Entschluss an jenem Abend mitgeteilt hätte? Wissen Sie, darüber denke ich stundenlang nach. Hätte ich das Unglück dadurch verhindern können? Und nun zurück zu Ihrer Frage, die auch meine ist, war es Absicht?

Wir beide können keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten, keine einzige. Sie haben recht, es ist sinnlos, darauf Energie zu verschwenden. Sinnlos, so sinnlos wie mein Leben mir jetzt erscheint. Sie sagen nein? Darüber müssen wir uns noch unter­halten, aber nicht sofort, denn ich spüre wie mich diese Müdigkeit wieder überfällt. Was ich mir wünsche, wollen Sie wissen. Ich habe nur einen Wunsch. Weinen, um wieder ganz lebendig zu werden. Weinen war mir unmöglich seit ich hier aufgewacht bin, gerettet sozusagen. Ich sehne mich danach zu weinen wie ein Kind, hemmungslos. Ein dummer Wunsch, nicht wahr? Nein, Sie lächeln zum ersten Mal. Was ist wohl wichtiger zu weinen oder zu lachen? Beides. Nun müssen Sie gehen, ich weiß. Vielen Dank für das Taschentuch, aber warum legen Sie es auf mein Bett? Weil ich weine, sagen Sie.

Beinah

08 Freitag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Beinah, Erinnerung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer, Vorstellungen

Beinah_small

Gestern hielt ich den Hörer schon in der Hand, hatte dein Bild schon vor meinen Augen, deine Stimme im Ohr, da fiel mein Blick auf das abgegriffene zerknitterte Stückchen Papier mit deiner Adresse, da wusste ich es wieder, du warst  längst nicht mehr zu erreichen. Wie hatte ich es vergessen können? Einem Wolkenbruch gleich überströmten mich Gedanken, die so oft gedacht, irgendwo abgelegt, stets griffbereit waren. Dein Bild stand klar vor mir, zersprühend in viele Einzelbilder, jedes von besonderer Bedeutung für mich, habe ich doch nur diese Bilder von dir. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe sie geordnet, jedes hat seinen eigenen Wert für mich. Jetzt wirst du laut lachen, wie gerne würde ich dich hören, aber ich kenne deine neue Adresse nicht.

Mein Lieblingsbild hättest du wohl gerne gewusst? Du sitzt  in einem Garten, in dem es wuchert und wächst, grün und lebendig, angehaucht schon vom Modergeruch des Herbstes, du sitzt auf einem wackligen Stuhl unter dem grünen Dach von Bäumen durch dessen lecke Stellen das Sonnenlicht warm herabtropft. Das Buch, das du damals gelesen hast, kenne ich inzwischen auch, aber es blieb uns nicht genügend Zeit, darüber zu reden. Es blieb überhaupt wenig Zeit. Irgendwo sind wir uns begegnet, an einer Wegkreuzung. Keine von uns ahnte, wo die andere herkam, wohin sie wollte. Ein kleines Stück gingen wir gemeinsam, so zufällig eben, wie zwei sich treffen, die den gleichen Weg haben, ein kurzes Stück weit. Nur wenig Annäherung war möglich,  eine gewisse Fremdheit blieb, Verlegenheit oder Unsicherheit. Obwohl ich schon dachte, ich hätte dich aus den Augen verloren, tauchtest du immer wieder auf, gingst neben mir, wurdest jedes Mal vertrauter, lebendiger.

Da gibt es noch ein Sommerbild von dir. Beim Baden traf ich dich, wie du der Hitze ausgewichen bist und dich unter den Schatten der Bäume gesetzt hattest, ein weißer Fleck warst du, sommerhell leuchtete dein langes Kleid. Wieder hattest du ein Buch in der Hand, als du grüßend die Hand gehoben hast. Gerne wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich zu dir gesetzt, wagte es aber nicht.

Erinnerst du dich an die Steine, die wir ein anderes Mal so ganz nebenbei, am Wasser sitzend aus unseren Händen fallen ließen, spielerisch? Du erzähltest von dir, und ich bemerkte mit heimlicher Genugtuung, dass zwei unserer Steine dicht nebeneinander ins Wasser getaucht waren, und die sich weich ausbreitenden Kreiswellen sich unablässig näherten und sich für Momente überschnitten, weit in den Bereich des anderen vorstoßend. Du hattest es auch bemerkt und kurz schauten wir uns an, ehe du, den nächsten Stein schon in der Hand rollend, weiter erzähltest.

Wir kamen uns näher mit jeder Begegnung. Du bist viele Wege vor mir gegangen, bittere und unbequeme, aber auch Wege, die dir Mut gaben, nicht stehen­ zu bleiben. Du hast nicht nur die einfachsten Wege gewählt, nicht die kürzesten. Den Hindernissen bist du nicht ausgewichen, du hast dich ihnen gestellt, wurdest dabei auch verletzt. Allmählich  erst wurde mir klar, wie tief die Wunden waren, die man dir geschlagen hat. Einziger Schutz für dich: verstecken, verbergen. Die Maske, die den anderen nichts von dir verrät, dein Lachen, laut, unbekümmert mit einer winzigen Nuance Verzweiflung, manchmal. Du lebst so wie ich es mir oft wünschte, ein altes Haus, verträumter Garten, in allem ein bisschen anders. Aber ich spürte: irgendwie warst du nicht so zufrieden, wie ich es mir erhofft hätte an deiner Stelle. Heute ist mir klar, dass es wohl unmöglich ist, sich in gesicherter Situation, in deine Lage zu versetzen. Und du, du wolltest nicht, dass ich bemerkte, wie deine Existenz manchmal wirklich bedroht war, unsicher fast immer. Du kämpftest ja gerade um eine Entscheidung für die Zukunft: Sollte dein Studium tatsächlich umsonst gewesen sein? All die Zeit und Energie, die du dafür aufgebracht hast, vergebens? Du hattest zu dieser Zeit wenig Gelegenheit zum Lachen, und trotzdem hast du gelacht, laut wie so oft.

Ich habe dich damals bewundert. Du hast dich entschieden gegen die Meinung so vieler, du hast für dich entschieden, mutig auf mögliche Sicherheiten verzichtend. Du warst bereit, unbekannte Wege zu gehen, dich auf Neues einzulassen, um deinen Lebensunterhalt sichern zu können. Du brauchtest einen langen Atem, erst in einigen Jahren würde dein Ziel erreicht sein, auch das wusstest du.

Lange habe ich überlegt, wie ich entschieden hätte, letztlich vielleicht doch mehr für die sofortige Sicherheit, das heißt auch gleichzeitig für Langeweile, Monotonie. Dein Leben erschien mir aufregender, lebendiger, bunter als meines. Neben dir wirkte ich fad und farblos. Wer war ich schon? Sicherer Beruf, alles bisher geradlinig verlaufen, einfache saubere Wege gegangen, alles geregelt, gesichert und doch – glücklich nicht, aber wer ist schon glücklich? Ich hätte zu gerne gewusst, was du von mir dachtest, aber um ehrliche Antworten auf solche Fragen zu bekommen waren wir noch zu weit entfernt voneinander. Spürte ich doch manchmal den Abstand sich verringern, ein winziger Schritt hätte genügt, und wir wären uns nah gewesen. Doch die Zeit rannte uns davon und wir durften diesen einen Schritt nicht tun, der mir so viel bedeutet hätte.

Ein letztes Bild habe ich noch von dir, eines von deinem letzten Fest. Wir wollten uns in zwei Wochen wiedersehen, dir ging es gut, ich fühlte es und war froh mit dir. Wir trafen uns früher, unbeabsichtigt, und ob du mich noch sehen konntest unter all jenen, die gekommen waren, um dir Lebewohl zu sagen, ich weiß es nicht. Wieder bist du einen unbequemen Weg vor mir gegangen, wieder anders als andere, mitten aus einem Fest heraus. Wie sehr hoffe ich, dass du wenigstens glücklich warst, ehe du so plötzlich und vollkommen unerwartet den Weg aus dem Leben gingst, ihn unfreiwillig gehen musstest, ungefragt.

Ich weiß nicht mehr, welchem Zufall  ich es verdanke, dass wir uns begegnet sind, aber noch fühle ich deine Nähe in gewissen Augenblicken, an bestimmten Orten, die für immer die Rahmen für dein Bild sein werden. Noch heute würde ich dich am liebsten anrufen, um deine Stimme noch einmal zu hören. Vergeblich: Kein Anschluss mehr möglich. Aber  was ich dir in stummen Selbstgesprächen  berichte, –  du  weißt es, davon bin ich überzeugt.

Zirkus

30 Donnerstag Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Gedanken, Gedicht, Lyrik

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Schlagwörter

Gedicht, Lyrik, manege, Vorstellungen, Zirkus

Der Dresseur in der Mitte,
die zu Dressierenden am Boden,
die Zuschauer auf bequemen Plätzen,
lachend, erwartungsvoll
der Dresseur darf fast alles,
befehlen, anweisen, Witze machen,
seine Opfer gehorchen freiwillig und dürfen auch fast alles,
solange die Zuschauer lachen
und sich nicht einer besonders betroffen fühlt,
der dann eingreift,
gar nicht programmgemäß,
der fragende Mienen erzeugt, mit Härte die Vorstellung stört,
den Dresseur verstummen lässt,
kurze Zeit wenigstens,
Programmunterbrechung –
alle müssen sich miteinander beschäftigen
oder im Schweigen ertrinken,
das sich kalt und ungemütlich ausbreitet,
einer verschwand,
einer der Akteure sitzt nun irgendwo außerhalb,
wartet auf seinen neuen Auftritt –
wieder Lachen, Geschrei,
alles starrt auf Dresseur und Akteure,
endlich kein Gespräch mehr notwendig,
nur Lachen erwünscht und wehe dem,
der es wagt, aus der Rolle zu tanzen,
ungefragt,
er wird böse Blicke ernten,
sich in der unbequemen Rolle des Spielverderbers wiederfinden
irgendwann
Ende des Programmes,
irgendwo
wieder Kinder statt Akteure,
irgendwer
wird sie wieder ernst nehmen müssen,
sie und ihre Probleme,
ihre Tränen, ihre Wut, ihre Ängste
auffangen und verstecken,
ehe sich der Vorhang hebt für die nächste Vorstellung,
was aber macht der Dresseur in der Zwischenzeit?

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