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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Verzweiflung

Tonne (2)

16 Montag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Depression, Freude, Freundschaft, Hoffnung, Hund, Kindheit, Leben, Liebe, Tod, Trauer, Verzweiflung

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Bettina (2)

Schulter an Schulter sitzen, ihren vertrauten Duft riechen, ihrer hellen Stimme lauschen, dem ausgestreckten Finger folgen, der unermüdlich auf Bilder zeigt, mal hier, mal dort hin wandert, eine Geschichte einfordernd. Eine Geschichte von ihm, ausgerechnet von ihm, der kaum ein Wort spricht. Bettina weiß das nicht, hat keine Ahnung. Ihr Bruder ist groß, also kann er eine Geschichte erzählen, so wie alle anderen Großen. Bettina klopft ungeduldig auf die kleinen bunten Bilder, blickt ihn fragend an. Er quält sich, kennt die Bilder, sucht nach den passenden Worten, sie zu beschreiben, fördert sie mühsam an die Oberfläche, längst gehörte Worte, stottert zunächst, sieht Bettinas aufmerksame zufriedene Miene, das gibt ihm Mut und die nächsten Worte holt er mühelos aus seinem Gedächtnis, bringt sie nahezu flüssig über die Lippen. Bettina wiederholt sie andächtig. Junge. Katze. Auto. Baum. Das Staunen der Mutter über Bettinas neue Wörter. Von ihm, dem wortlosen Bruder.
An manchen Tagen fühlt er sich beobachtet, spürt die Augen seiner Mutter forschend in seinem Rücken, versteht nicht den Grund, fühlt sich unbehaglich, ohne zu wissen warum. Dann, am Abend, als Bettina ihm die Arme um den Hals schlingt, er seinen Gute-Nacht-Kuss erhält, da legt auch seine Mutter die Arme um ihn, hält ihn ganz kurz und streicht ihm über den Kopf. Flüstert: Du magst Bettina wohl sehr. Gute Nacht, schlaf gut und träum schön. Ganz warm wird es ihm, eine nie gekannte Freude breitet sich in ihm aus. Noch im Bett spürt er die Umarmung seiner Mutter, kann lange nicht einschlafen, aufgewühlt vor freudiger Erregung.

Auf den weiter entfernteren Wegen zwischen den Gräberreihen waren undeutliche Stimmen zu hören. Fremde Leute näherten sich, Melanie bückte sich rasch und untersuchte ihre Schuhe, als sie sich wieder aufrichtete, waren Karl und Tonne plötzlich verschwunden, nirgends zu entdecken. Neugierig suchte sie nun ebenfalls das Grab, das ihr mehr von Karl verraten würde.
Die blitzende Glasscherbe zeigte es ihr. Gespannt stand sie vor einem schlichten Holzkreuz, versuchte mühsam die Aufschrift zu entziffern, die verschnörkelten Buchstaben sahen so gar nicht aus wie die Buchstaben in ihrem Lesebuch.
„Bettina H.., geb. am …, gest. am…..“ Ein winziges Bild war am Kreuz befestigt und wieder erkannte sie das Mädchen, das ihr so ähnlich sah: Bettina.

Karl kommt heim

Karl öffnete das Gartentor und klingelte lange an der Tür.
„Da bist du ja endlich, wird auch Zeit.“ Kopfschüttelnd warf seine Mutter einen resignierten Blick auf die schmutzigen Schuhe ihres Sohnes, nahm Karl in seiner ganzen Gestalt wahr und wunderte sich immer aufs Neue, da stand Karl vor ihr, ihr verwirrter Sohn, der nicht in saubere Kleidung zu pressen war, so oft sie es auch schon versucht hatte.

 

Erinnerungen der Mutter an Bettina

Die Kleine hatte Karl angehimmelt, war ihm gefolgt seit sie laufen konnte, irgendetwas faszinierte das Mädchen an Karl. Die beiden verstanden sich ohne viele Worte, sprachen ihre eigene Sprache, lebten in ihrer eigenen Welt.
Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie Bettina Karls Aufsicht überließ. Sie musste plötzlich weg.
Karl und Bettina waren in ein Spiel versunken, sie hoffte rasch zurückzukommen, dachte es könne nichts passieren. In ihrer Eile hatte sie vergessen, dass es der Tag der Müllabfuhr war. Müll übte auf Karl eine unerklärliche Faszination aus, Müll zog ihn magnetisch an. Vergessen. Wie konnte sie das vergessen?

Tonne sprang an ihr hoch und wollte gestreichelt werden, erwartete ein Wort zur Begrüßung.
Tonne, wie hatte sie diesen Hund gehasst, heute ist ihr das unvorstellbar. Tonne war wirklich unschuldig, während sie, die mit Verstand begabt war, versagt hatte. Sie und Karl, aber auch Karl war unschuldig. Das große Kind, dessen Gedankengänge niemand nachvollziehen konnte, Karl, der nie erwachsen werden würde, ihn traf keine Schuld, auch wenn sie ihn damals angeschrien hatte in ihrer Verzweiflung, warum er nicht aufgepasst hätte, sollte er ihr sagen.
Karl, der Bettina ebenso verzweifelt gesucht hatte, überall im ganzen Haus, Karl, der sie immer noch sucht, der neuerdings wieder von ihr spricht, von Bettina, seinem Engel, dem er begegnet sei, vor wenigen Tagen erst.

Eines hatte sie erzwungen: Karl musste sich stets umziehen und sich säubern, bevor er sich zu ihnen an den Tisch setzte, zum gemeinsamen Essen. Ihr Mann hatte angerufen, er würde erst viel später kommen, war aufgehalten worden, war ins Krankenhaus gerufen worden.
Schweigend füllte sie Karls Teller mit Bratkartoffeln und Spiegeleiern, stellte die Schüssel mit Salat in seine Reichweite und setzte sich an den Tisch, ihn aufmerksam beobachtend.

Irgendwie schien er ihr verändert. Seit Tagen schon spürte sie diese Veränderung, ohne sie konkret beschreiben zu können. Unruhe hatte sie wieder erfasst, die Nächte wurden zur Qual, Gedanken bedrängten sie unablässig, raubten ihr den Schlaf, führten ihr Bilder vor, die sie längst vergessen glaubte, machten ihr deutlich, wie einsam sie war, obwohl neben ihr die gleichmäßigen Atemzüge ihres Mannes die Nähe eines Menschen verrieten.
Wochenlang litt sie damals unter ihrer Schlaflosigkeit, zwang sich täglich am Morgen aufzustehen, obwohl sie sich zerschlagen fühlte und ganz wirr war im Kopf von all den Gedanken und Bildern, denen sie in der Nacht begegnet ausgesetzt war.
Täglich aufs Neue das Frühstück richten, Karl und ihren Mann versorgen, der die beiden dann allein zurückließ, sie ihrem Schweigen überließ, sich um die Sorgen und Nöte fremder Menschen kümmerte, während sein Sohn und seine Frau gefangen waren in ihren eigenen Nöten.

Karls Tagesablauf

Karls Tagesablauf hatte seine besondere Regelung: Nach dem Frühstück drehte er eine Runde mit Tonne, dabei ging er immer die gleiche Tour: den Weg zum Spielplatz und zurück. Sie wusste, dass er immer seine blaue Tüte dabei hatte, für seine Schätze, wie er die gesammelten Abfälle nannte.
Wieder zurück verschwand er in dem Schuppen hinter dem Haus oder in seinem Zimmer, untersuchte seine Beute und begann sie zu ordnen, nach eigenen Maßstäben, die ihr fremd und merkwürdig erschienen. Er kippte alles auf einen Teppich, der immer mehr Spuren seiner Schätze aufwies, nahm seine Fundsachen prüfend in die Hand, putzte und wischte daran herum, ehe er sie sorgfältig in kleine Schachteln steckte, die sie ihm nach und nach besorgt hatte. Er hatte es auch zugelassen, dass sie gemeinsam die Schachteln bemalten, die er nun an der Wand entlang stapelte.
Heimlich kontrollierte sie inzwischen die Schachteln nachdem Karl einmal eine tote Maus darin versteckt hatte, eingewickelt in gelbes Seidenpapier. Der widerliche Geruch, den das tote Tier verströmte und von dem sie erst nicht wusste, worauf er zurückzuführen war, ließ sie zu Vorsichtsmaßnahmen greifen. Sie sah sich gezwungen dazu, obwohl sie gewiss nicht vorhatte, ihren Sohn auszuspionieren. Aber tote Tiere, das ging zu weit.

Während Karl in seinem Zimmer beschäftigt war, kümmerte sie sich um den Haushalt, sie konnte sicher sein, nicht gestört zu werden.
Zum Mittagessen saßen sie meist gemeinsam am Tisch, Tonne lag unter dem Tisch, stets auf Leckerbissen hoffend, die Karl heimlich fallen ließ, trotz der warnenden Blicke, die ihm sein Vater zuwarf. Schweigen herrschte zwischen den Menschen, zog konzentrische Kreise um die Anwesenden, von denen jeder versunken schien in seine eigene Welt. Das fordernde Bellen des Hundes ließ sie zusammenfahren, brachte sie wieder zurück in ihre gemeinsame Welt. Wie aus einem Traum erwachend blickten sie sich dann verlegen an und versuchten, mit Hilfe von mühsam herausgewürgten Worten die verloren gegangene Nähe wieder herzustellen. Aber sie war nie da gewesen, diese Nähe, die jeder sich ersehnte, konnte deshalb nicht wieder gewonnen werden, müsste erst entstehen, wachsen.
„Bettina“, murmelte Karl. Die Frau und der Mann warfen erschrocken die Köpfe hoch, blickten sich vielsagend an: Es wird doch nicht wieder losgehen, Karls Suche nach Bettina?

Karls Verhalten nach Bettinas Tod (aus der Sicht der Mutter)

Schreiend war Karl durch das Haus gelaufen, hatte in allen Winkeln gesucht, alle Möbel verschoben, das Bettzeug herausgerissen, die Gardinen von den Schienen gezerrt, die Schränke durchwühlt, immer schreiend, „Bettina“, schluchzend, nach Stunden nur noch heiser den Namen flüsternd, bis ihn schließlich ein Arzt mit Hilfe einer Beruhigungsspritze in einen unruhigen Schlaf taumeln ließ.
Und dann auch noch Tonne, das Hundebaby, jammernd, winselnd, hilflos, das am Boden mehr kroch als rannte, überall Pfützen hinterlassend, in die Karl trampelte in seiner Fassungslosigkeit.
Bettina, unser kleiner Sonnenschein, Bettina, die uns verlassen hatte, war ihrem Bruder, den sie so liebte, nachgelaufen. vertrauensvoll.
Karl, um den sie sich stets sorgte, sobald er allein unterwegs war, Karl, der Zerstreute, er hatte überlebt, schien auf seinen Gängen stets zuverlässig von einem Schutzengel beschützt zu werden, Karl ihr Sorgenkind lebte.

Karl wiederholte es noch einmal: „Bettina ist wieder da.“ Diesmal ganz deutlich. Er zog das kleine Bild aus seiner Hosentasche und legte es auf den Küchentisch: „Bettina ist wieder da.“
War das ein Rückfall? Verzweifelt blickten sich der Mann und die Frau an. Mühsam hatten sie versucht, ihm klar zu machen, dass Bettina nicht mehr unter ihnen war. Waren mit ihm auf den Friedhof gegangen, hatten ihm erklärt, dass sie hier ruhte und dass es ihr nun gut ginge. Aber Karl wollte oder konnte das nicht verstehen, begann wie ein Irrer in der Erde zu wühlen, riss Pflanzen heraus, die Leute begannen sich zu beschweren, der Friedhofswärter sprach sie an, mit Rücksicht auf die anderen, die hier ruhten und deren Angehörigen, sie müssten doch verstehen, die wollten nicht in ihrer stillen Andacht gestört werden durch einen der schrie und tobte, auch wenn es ein Ausdruck der Trauer war, aber alles musste doch ruhig, gefasst vor sich gehen. Gewiss, er hätte Verständnis, beteuerte er mehrmals, aber, wie gesagt, die Friedhofbesucher waren da anderer Ansicht, auch wenn es sich um den Sohn des Pfarrers handelte, alles musste seine Ordnung haben. Sie hatte schon verstanden: Karl war ein öffentliches Ärgernis.

Tonne

15 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

≈ 6 Kommentare

Schlagwörter

Depression, Freundschaft, Gewalt, Hund, Leben, Liebe, Schule, Schwester, Tod, Tonne, Verzweiflung

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text  „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Bettina (1)

Kleine, weiche Finger, die vorsichtig einen Bauklotz auf den anderen stapeln, dunkle Augen, die konzentriert die wachsende Höhe des Turmes verfolgen, in Vorfreude aufblitzender Tri-umph: Sie würde Siegerin bleiben, den höchsten Turm bauen, während er durch eine ungeschickte Bewegung seinen Turm polternd zum Einsturz bringen wird, in der Vorfreude auf ihr strahlendes Gesicht, das so stolz sein würde darüber, den großen Bruder besiegt zu haben. Kleine Hände, die vor Freude klatschen. Er kann sich nicht satt sehen an der kleinen Person, die ihm wie ein Wunder erscheint. Alles so klein und doch so perfekt. Er liebt es, sie zu halten, ganz zart, behutsam, um ihr ja nicht weh zu tun, er liebt es, ihre zarte, warme Haut zu spüren, über ihre Hände zu streichen und ganz besonders liebt er es, sie zu trösten, ihre Tränen zum Versiegen zu bringen, die nach einem Sturz über ihre Backen kullern, glasklar wie Perlen. Sie wirft sich in seine Arme, schmiegt ihr Köpfchen mit den wirren Haarsträhnen an seine Schulter, er streicht ihr ganz zart über den bebenden Rücken, der sich unter seinen Händen rasch beruhigt, genießt kurze Zeit die Wärme des kleinen Körpers, spürt das Glück, das sich wie eine warme Welle in ihm ausbreitet, das Glück über das Vertrauen, das sie ihm schutzsuchend ent-gegenbringt. Er, der große Bruder, von vielen verachtet, nicht für voll genommen, über den die Leute reden, sie macht ihn stark und froh. Bettina.
Auch die Mutter verhält sich anders seit Bettina da ist. Sie schaut ihn manchmal ganz seltsam an, als ob sie nicht wisse, was sie von ihm halten solle. Er fühlt es ganz tief innen, sie misstraut ihm noch immer. Er weiß es schon lange, dass sie ihn nicht so lieben kann wie Bettina, nie wird sie ihn so lieben können: so frei und unbeschwert, so zärtlich und sorgsam. Aber Bettina, auch das fühlt er, fühlt es seit sie laufen kann, Bettina vertraut ihm, sucht seine Nähe, braucht ihn als Spielgefährten und Beschützer, ihn den großen Bruder, von dem niemand etwas wissen will.
Bettina, die abends ungestüm ihre Arme um seinen Hals schlingt, ihm einen feuchten Kuss auf die Wange drückt und ihm gute Träume wünscht.

Erste Begegnung auf dem Spielplatz (Melanie, Karl, Tonne)

Schwanzwedelnd kam der Hund auf sie zu und sprang an ihr hoch. Ohne Angst kraulte sie sein struppiges Fell und ließ es zu, dass er ihre Hand beschnupperte, spürte die kühle feuchte Schnauze auf ihrer Haut und war einfach glücklich.
„Tonne“, eine Stimme riss sie aus ihrem Glück und überrascht blickte sie in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. „Tonne, lass das, komm zu mir!“, diesmal klang die Stimme energischer und der Hund gehorchte widerstrebend. Da sah ihn das Mädchen zum ersten Mal, den jungen Mann, der vor ihr stand in auffälliger Kleidung, einen Müllsack in der einen Hand haltend, während er mit der Leine in der anderen Hand aufgeregt herumfuchtelte. „Komisch“, war ihr erster Gedanke.
Sie setzte sich auf eine freie Schaukel, begann sich rhythmisch in die Luft zu schwingen und ließ das seltsame Paar nicht mehr aus den Augen.
Der Mann mit der schmuddeligen, viel zu langen, an den Rändern ausgefransten Hose, begann systematisch im Papierkorb zu wühlen und ließ ab und zu etwas in dem Müllsack verschwin-den, den er anschließend sorgfältig mit einem Stück schmutziger Schnur verschnürte. An seinen bewegten Lippen konnte sie erkennen, dass er ununterbrochen vor sich hinmurmelte. Sprach er mit sich selbst oder mit dem Hund? Sie wusste es nicht. Die beiden waren zu weit von ihr entfernt.
„Tonne.“ Der Hund schien wohl „Tonne“ zu heißen, das klang irgendwie verrückt, aber auch lustig. „Tonne“. Mehrmals kostete sie es aus, diesen Namen auszusprechen, mal laut, mal leise, während der Hund und sein seltsamer Begleiter sich inzwischen vom Spielplatz entfernt hatten. Vielleicht waren sie unterwegs zu weiteren Papierkörben.
In Gedanken versunken schaukelte das Mädchen weiter, genoss das unablässige Auf- und Absteigen und hoffte, den beiden wieder zu begegnen, vor allem dem Hund.

Seit der ersten Begegnung trieb sie sich öfter auf dem Spielplatz herum, immer mit suchenden Augen, immer hoffend auf eine erneute Begegnung. Freunde hatte sie keine, da war es ziemlich egal, wo sie sich aufhielt. Allerdings, bei ihrer Mutter wollte sie nicht sein, zu Hause, das kein wirkliches Zuhause für sie war, sondern eine vergammelte Wohnung, in die sie keine Kinder mitbringen durfte, weil dann Gerüchte entstehen würden, die eigentlich keine waren, da sie ja der Wahrheit entsprachen: Ihre Mutter trank, leise, unauffällig, aber immer häufiger.
Überall entdeckte sie die verborgenen Flaschen, teilweise noch Reste enthaltend, stinkige Reste, die in ihr Ekel und Abscheu erzeugten. Heimlich schaffte sie die Flaschen weg, brachte sie, versteckt in Pappschachteln oder eingewickelt in altes Zeitungspapier, aus dem Haus. Keiner hatte ihr das aufgetragen, niemand hatte ihr verboten, Freunde mitzubringen, einzig ihre Scham verbot das einfach. Sie war sich absolut sicher, dass es nicht gut wäre, jemand in ihr Zuhause, zu ihrer Mutter zu bringen.
Ein Tier wäre da etwas anderes, ein lebendiges Wesen, das schweigen könnte, dem man alles anvertrauen könnte und mit dem man kuscheln könnte. Ein Tier, dachte sie sehnsüchtig, würde mich nicht verraten, sich nicht über mich lustig machen. Als Tier kam für sie nur ein Hund in Frage, aber ihre Mutter war strikt dagegen.
„Tonne“. So ein Hund wie Tonne, das wäre ihr ersehnter Freund. In Gedanken beschäftigte sie sich nun oft mit Tonne, überlegte, was sie alles mit ihm machen könnte, träumte von geheimen Abenteuern. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Zweite Begegnung auf dem Spielplatz ( Melanie, Karl, Tonne)

Nach Wochen erst traf sie den Hund und sein Herrchen wieder, an einem Tag, an dem sie nicht mit den beiden gerechnet hatte. Es nieselte und der Spielplatz war leer, als sie ankam. Minuten später entdeckte sie Tonne, der ihr, die Schnauze tief am Boden haltend, konzentriert schnüffelnd, entgegenkam. „Tonne“, rief sie leise, „Tonne, komm her.“ Sie ließ sich in die Hocke fallen und breitete die Arme aus. Tonne spitzte die Ohren, sprang stürmisch heran und warf sie beinah um, während sie ihn streichelnd festhielt und wie einen alten Freund begrüßte, das Gesicht in sein feuchtes Fell drückte, den bitteren Geruch einatmete.
Sein Begleiter, der junge Mann, der verlottert gekleidet war, kam ebenfalls näher und blickte sie zum ersten Mal aufmerksam an. Sie wich seinem Blick nicht aus, hielt ihm trotzig stand. Plötzlich bemerkte sie ein Aufleuchten in seinem Gesicht, als ob er sie erkannt hätte. „Engel“, murmelte er heiser, „mein Engel ist wieder da.“ Völlig unerwartet trat er auf sie zu und hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest, ganz kurz nur und mit unendlich zarter Geste und trotz-dem stockte ihr der Atem und sie hielt die Luft an, spürte einen Moment lang eine schreckliche Angst in ihrem Körper aufsteigen, die sich als Hilfeschrei lösen wollte. Da sah sie ihm erneut in die Augen, entdeckte dort nichts Böses, entdeckte freudige, ungläubige Überra-schung, Schmerz und Liebe. „Mein Engel“, flüsterte er immer wieder. Ein Gefühl der Beklommenheit ließ sie starr stehen bleiben, abwartend, was weiter geschehen würde. Abrupt wandte er sich wieder von ihr ab, das warme Leuchten auf seinem Gesicht, das ihn so jung erscheinen ließ im Gegensatz zu seinem alt wirkenden Körper, war erloschen. Gleichgültig strebte er wieder auf einen Papierkorb zu und machte sich daran, ihn zu durchwühlen, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken.
Entschlossen näherte sie sich ihm und blickte ebenfalls neugierig in den Papierkorb, beobachtete gespannt, welche Dinge herausgefischt wurden und nach eingehender kritischer Begut-achtung im Müllsack landeten. Glitzernde Abfälle waren das, silberne Kaugummipapiere, Flaschendeckel, Stanniolpapier, Glasscherben.
Sie streichelte den Hund und redete leise mit dem Tier, da begann der Mann erneut sie wahrzunehmen.
Vorsichtig zog er etwas Zerknittertes aus seiner Jackentasche, warf einen langen Blick darauf und reichte ihr zögernd das schmutzige Etwas, das sie als ein kleines Bild erkannte, ein Sterbebild mit aufgedrucktem Foto. Sie nahm es neugierig in die Hand und betrachtete verblüfft das kleine Foto: Ein Mädchen blickte sie aus dunklen Augen aufmerksam an, ein Mädchen, das ihre Zwillingsschwester hätte sein können. Sie versuchte den Namen und die Daten darauf zu lesen. Bettina hieß das Mädchen, war vor vier Jahren gestorben an einem 10. August im Alter von fünf Jahren. Das tote Mädchen wäre jetzt genauso alt wie sie. „Mein Engel“, murmelte der junge Mann entzückt und ganz allmählich begann sie zu begreifen: Der Engel war wohl das junge Mädchen, der Engel hieß Bettina.
Der Mann benahm sich sehr seltsam. Wieder wühlte er in seiner Jackentasche und zerrte einen kleinen Gegenstand heraus, den er liebevoll anblickte und ihr stumm entgegenhielt. Als sie danach greifen wollte, steckt er ihn jedoch schnell wieder zurück in die ausgebeulte Tasche. Aber sie hatte schon erkannt, was er ihr gezeigt hatte: Es war eine winzige Puppe in Form eines Engels. Bettina, der Engel, sein Engel. Wer das wohl gewesen war?
„Ich heiße Melanie, und du?“, fragte sie den jungen Mann. Er reagierte nicht. Sie klopfte sich an die Brust: „Ich – Melanie und du?“, begann sie noch einmal. Endlich begriff er. „Karl“, sagt er, „ich bin Karl.“

Tonne sprang zufrieden um die beiden herum und blickte sie immer wieder abwartend an. Es war neu, dass sein Herrchen mit jemand sprach, der Hund fühlte das sofort.
„Was machst du da?“ wollte Melanie wissen.
Karl wühlte wieder im Müll.
„Schatz“, antwortete er.
„Du suchst einen Schatz?“, bohrte Melanie ungläubig nach.
„Schatz“, wiederholte Karl einsilbig.
„Wer ist Bettina?“,  fragte das Mädchen energisch.
„Engel. Mein Engel im Himmel.“
„Zeig mir Bettina noch einmal. Ich möchte das Bild noch einmal sehen“, forderte das Kind.
Karl hörte mit dem Herumwühlen auf und blickte sie erstaunt an. „Bettina. Zeig mit Bettina noch einmal. Bitte.“
Vorsichtig brachte Karl das kleine Bild erneut zum Vorschein, betrachtete aufmerksam das Foto und Melanie, vergleichend wanderten seine Augen vom Bild zum Kind. Endlich überließ er Melanie das Bild. Sie sah es aufmerksam an, fasziniert von der Ähnlichkeit, fast könnte es ihr Spiegelbild sein. Es erinnerte sie an eines der wenigen Bilder, die es von ihr gab, aufgenommen während sie die Zähne putzte und dabei Grimassen schnitt mit Schaum vor dem Mund.
Wie war das möglich? Diese Bettina sah ihr zum Verwechseln ähnlich.
Ein zarter Finger strich über ihr Gesicht, behutsam, leicht wie eine Feder. „Mein Engel ist wieder da.“
Hier lag eine Verwechslung vor. Sie begriff: auch Karl hatte diese Ähnlichkeit entdeckt, aber sie war nicht Bettina, war kein Engel, nein. Entschieden wandte sie sich ab. Karl schwieg, obwohl sie mehrmals versuchte hatte mit ihm über Bettina zu sprechen. Er zog sich in sich zurück, wirkte unnatürlich, beinahe feindselig und in ihr stieg Beklommenheit hoch. Sie dachte an die Mahnungen ihrer Mutter, der Lehrerin und auch der Kindergärtnerin, die sie immer in den Wind geschlagen hatte. „Geh nicht mit fremden Menschen mit, sie können dir Böses antun.“
Plötzlich tauchten Bilder auf aus dem Fernsehen, aus Zeitungen, vermisste Mädchen, auch Jungen, die tot aufgefunden worden waren, misshandelt, verscharrt, versteckt, zerstückelt. Hatte Karl Bettina umgebracht? Nein, dann gäbe es kein Sterbebild für ihn, oder doch?

Dritte Begegnung: Melanie verfolgt Karl heimlich
Es dämmerte schon, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig zum Abendessen daheim zu sein, falls es eins gab. Nichts war sicher im Zusammenleben mit ihrer Mutter, nur auf eines war Verlass, es gab kein geregeltes Familienleben. Erstaunt lauschte sie oft den Berichten ihrer Mitschülerinnen, wenn sie über ihre Wochenenden berichteten, hörte von Zoobesuchen, Wanderungen, Ausflügen und Treffen mit Freunden. Auch sie wurde immer wieder freundlich aufgefordert, sich am Gespräch, im Stuhlkreis sitzend, zu beteiligen. Verbissen schwieg sie, lehnte jegliche Teilnahme ab. Erst in den letzten Wochen gab sie ihren Widerstand auf, berichtete ebenfalls, allerdings war alles erfunden. Am Abend vorher hatte sie es sich ausgedacht, ja sogar aufgeschrieben, damit sie sich nicht zu oft wiederholte. Es begann ihr sogar Spaß zu machen, zu lügen, ohne dass dies jemand ahnte, oder vielleicht ahnte die Lehrerin doch etwas, die hatte sie so prüfend angeschaut, aber weiter nichts dazu gesagt, was Melanie als stummes Einverständnis auffasste.
Jetzt aber hatte sie wirklich eine Geschichte, aber die würde ihr Geheimnis bleiben. Sie wollte herausfinden, was die Sache mit Bettina auf sich hatte. Sie musste mehr über Karl wissen. Über Karl und Tonne.
Seit der zweiten Begegnung begann sie immer öfter in Gedanken abzuschweifen, dachte immer häufiger über das Sterbebild nach.
Regelmäßig umkreiste sie den Spielplatz, aber Karl und Tonne tauchten nicht auf. Enttäuscht ging sie dann wieder heim oder, wenn sie dazu keine Lust hatte, trieb sie sich in den großen Möbelgeschäften im nahen Gewerbegebiet herum. Da wurde es nie langweilig, stundenlang konnte sie sich dort umsehen, Dinge in die Hand nehmen, Stühle ausprobieren, auf bequemen Sofas sitzen und Leute beobachten.
Am letzten Mittwoch flüchtete sie sich vor dem kalten Regenschauer wieder in das Möbelgeschäft, genoss die Wärme dort. Auf dem Heimweg warf sie prüfende Blicke zu den bis zum Rand gefüllten Papierkörben auf dem Parkplatz. Da entdeckte sie Karl, der gerade seinen blauen Müllsack, der ziemlich voll aussah, sorgfältig verschnürte und sich dann von ihr entfernte, Tonne an seiner Seite. Er hatte sie nicht bemerkt.
Ohne nachzudenken rannte sie den beiden hinterher und plötzlich kam ihr die Idee der heimlichen Verfolgung. So konnte sie vielleicht herausfinden, wo Karl wohnte. Der Gedanke machte sie froh. Karl bewegte sich ziemlich flott, schien jegliches Interesse an Müll verloren zu haben, hatte wohl ein bestimmtes Ziel im Kopf. Immer konzentriert darauf, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren, achtete Melanie nicht auf den Weg und stellte schließlich überrascht fest, dass sie am Friedhof angekommen waren. Hunde waren dort eigentlich verboten, aber Karl kümmerte das nicht. Eilig durchquerte er das Gelände und fand in dem Geflecht der Gräberreihen den richtigen Weg. Endlich. Er blieb stehen. Melanie verbarg sich hinter einem Strauch. Karl öffnete seinen Müllsack und fischte darin herum, zog einen Gegenstand heraus, der kurz aufblitzte, als ihn ein Sonnenstrahl, der unerwartet hinter einer dunklen Wolke hervorbrach, traf und legte ihn auf das Grab. An den bewegten Lippen erkannte sie, dass er wieder vor sich hinmurmelte, ununterbrochen.

Josef

22 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Bruder, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Flucht, Schicksal, Schuld, Tod, Verrat, Verzweiflung, Vorherbestimmung, Zweifel

Josef-small

Jetzt sind sie beide tot. Endlich kann ich dir schreiben, denn mein Zorn ist verraucht und geblieben ist die Trauer über den Tod unserer Söhne. Du wirst dich fragen, woher mein Zorn kommt. Ich werde dir antworten:
Es war dein Sohn, der mir meinen Sohn entfremdet hat. Plötzlich war ich allein, ohne Hilfe, die ich so nötig hatte. Aber dir ging es ja nicht anders. Auch du warst allein. Ich habe lange nachgedacht und versucht mich in deine Lage zu versetzen. Wie hast du es ertragen können, einen Sohn aufzuziehen, von dem nicht bekannt war, dass du ihn gezeugt hast? Ein Sohn, der dich nicht zum Vorbild nahm. Du sahst ihn aufwachsen, umsorgt von der Liebe deiner Frau. Wie oft haben dich wohl Zweifel geplagt über seine Herkunft? Ein Kuckucksei, das man dir ins Nest gelegt hatte. Wie stark hast du wohl geglaubt an deine Frau? Es gingen vielerlei Gerüchte um, die ein schales Licht auf dich und deine Familie warfen. Es ist bekannt, dass du immer zu deiner Frau und deinem Sohn gehalten hast. Mir und meiner Frau erschien das lange Zeit unerklärlich. Wie waren wir doch stolz auf unseren einzigen Sohn, der neben mir in der Werkstatt stand und mir von klein auf  bei meinem Handwerk zusah, begierig es möglichst schnell zu erlernen, was ihm auch gelang. Wir beide wissen, was es bedeutet für den eigenen Handwerksbetrieb den richtigen Nachfolger zu haben, einen, für den es sich lohnt, die ganze Mühe auf sich zu nehmen,  seine Kräfte zu verschwenden, um dann im Greisenalter von den Früchten der eigenen Arbeit zehren zu können. Ich hatte wohl die besten Aussichten auf ein ruhiges Dasein im Alter mit meinem Sohn als Nachfolger, der sich um unsere Familie kümmern würde. Du aber? Wie man so hörte, fiel dein Sohn ganz aus der Reihe. Er war nicht zum Handwerker bestimmt, weigerte sich die Hände schmutzig zu machen, wollte sich nicht plagen mit schweren Arbeiten und lehnte es ab, in der Hitze seinen Schweiß zu vergießen, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Dein Sohn trieb sich stattdessen in der Gegend herum, hielt kluge Reden und fand sogar einige Anhänger, die dem Faulenzen nicht abgeneigt waren und sich ihm anschlossen zum Ärger derer Familien.
Du bist stumm geblieben, hast einfach mehr gearbeitet, nie ein böses Wort verloren, sagt man. Aber mal ehrlich: Was hast du wirklich gedacht, gefühlt? Von deiner Frau verwöhnt, ohne jede Rücksicht auf dich und dein Alter, in dem die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht, zog dein Sohn frei nach seinem Geschmack herum, sorglos, rücksichtslos. Viele haben sich damals gefragt, hinter vorgehaltener Hand, wie kann Josef, das Familienoberhaupt dieses respektlose Verhalten dulden? Viele zweifelten an deinem Verstand, erwarteten ein strengeres Vorgehen, einen Beweis deiner Autorität dem Sohn und seiner Mutter gegenüber. Die Mutter war vielleicht zu jung, zu jung für dich, Josef und zu jung für dieses schwierige Kind, das schon in frühen  Jahren selbstständige Wege ging.
Hatte dein Sohn Freunde in seinem Alter? War er schon von klein auf ein Rebell? Ich habe ihn erst später kennen gelernt, zu spät. Da hatte ich keinen Einfluss mehr auf meinen Sohn, der doch mein ganzer Stolz war. Kräftig gewachsen, arbeitsam, geschickt und willig, meinen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Ohne Rücksicht auf seine alten Eltern verließ er uns eines Tages. Seine Mutter leidet noch immer unter dem Verlust ihres einzigen Sohnes, der sich von uns abgewandt hatte trotz der Fürsorge, die er von uns erhalten hatte. Sie ist krank und lebt seitdem in einer dunklen Welt ohne Freude und Sinn. Sie hat sich zurückgezogen und hofft in einer Ecke ihres Herzens wohl noch immer auf seine Rückkehr. Ich aber war wütend und traurig zugleich. Du hast deinen Sohn in seiner Entwicklung nicht gebremst, du hast es zugelassen, so aus der Art zu schlagen, hast ihn unterstützt und ihm Freiheiten gewährt, die dir zum Nachteil gereichten und nicht nur dir, auch uns. Und dein  Sohn bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus und Judas Iskariot, der ihn überliefert hat. Unser Sohn schloss sich deinem an und wir, seine Eltern, zählten nicht mehr für ihn. Wir waren nicht die einzigen, die durch deinen Sohn unsere Söhne verloren, aber wir waren die einzigen, die den Tod unseres Sohnes zu beklagen hatten. Geschützt vor ihm waren die Frauen, die Töchter, von denen nur wenige es wagten, mit seiner Gruppe zu gehen. Er verkehrte auch mit den übelsten Kreisen, sank wohl immer tiefer, rief Unverständnis und Abneigung hervor, gab sich mit Menschen ab, die von unserer Gesellschaft ausgestoßen und verachtet wurden. Er legte sich mit den geistigen Führern an, verkündete seine Lehren und begeisterte immer wieder neue Anhänger, die mit ihm zogen und ihre Familien im Stich ließen. Wie hast du dich da wohl gefühlt, Josef? Wie schwer war es zu ertragen, Lästerungen über deinen Sohn zu hören? Ist das nicht … der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus, Jose, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern verächtlich mit den Fingern. Seht, auch sein Sohn ist hier bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Hast du dich innerlich von ihm abgewandt oder konntest du seine Reden verstehen? Und seine Mutter, deine junge Frau, wie konnte sie es ertragen, ihren geliebten Sohn an die Menge zu verlieren? Viele Gerüchte waren im Umlauf. Und er begann sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden und von den Hohenpriestern  und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Das sprach er ganz offen aus. Wir hörten nicht richtig hin, waren zu beschäftigt mit dem Verlust unseres Sohnes. Erst allmählich erkannten wir die Gefahr, in der sie alle schwebten. Dein Sohn entwickelte sich zum Gegner des Regimes und die Geheimpolizei wurde hellhörig. Seine Reden wurden aufgeschrieben, seine Auftritte genau beobachtet und protokolliert. Meine ursprüngliche Wut verwandelte sich in Sorge. Was, wenn mein Sohn im Gefängnis landen würde? Widerstand gegen die Regierung, Mitläufertum, das alles könnte sein Todesurteil bedeuten. Seine Mutter betete Tag und Nacht für ihn, hoffte inständig auf seine Rückkehr und sprach mit keinem anderen mehr. Ich arbeitete und versuchte auf diese Weise meine Sorgen und Ängste zu verdrängen, aber die Leute ließen es nicht zu. Ständig erfuhr ich Neuigkeiten über die Gruppe dieser Aufständischen, der Rebellen, wie sie auch von vielen genannt wurden. Aus meinem Stolz wurde Scham. Auch auf meinen Sohn zeigten nun andere ein Anhänger von Josefs Sohn. Seht, auch er wagt es, seine Eltern im Stich zu lassen. Ich schwieg und verschloss mich den anderen gegenüber.

Nun aber, da beide tot sind, sehe ich vieles anders. Ich habe mit vielen seinen Anhängern gesprochen und mir seine Reden noch einmal durchdacht. Er kündigte sein Ende ganz klar an und mein Sohn spielte dabei eine entscheidende Rolle, ohne sich dieser vorher bewusst zu sein. Ja, ich wage jetzt zu behaupten, mein Sohn war unbedingt notwendig für deinen Sohn, um seine Prophezeiungen wahr werden zu lassen. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert, und sie werden ihn töten. Und wenn er getötet worden ist, wird er nach drei Tagen auferstehen.“ Leider war es eine schmähliche Rolle, die er meinem Sohn zugedacht hatte, aber auch diese musste übernommen werden. Keine leichte Rolle, das wirst du zugeben müssen. Ein Rolle, die ihm einen schlechten Ruf über den Tod hinaus einbringen würde, nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. Er brachte Schande über seine Eltern, die ihm stets Ehrlichkeit und Wahrheitsstreben zu vermitteln suchten. Nun trat unser Sohn als feiger Verräter an die Öffentlichkeit und deinem Sohn, der wohl auch mit dem Tod bezahlen musste, gereichte dies zum nachträglichen Ruhm, wenn man es so sehen will. Sicher, auch für deine Familie war es nicht leicht, seinen Tod anzunehmen, aber er hatte somit seine Ankündigungen erfüllt und galt nicht länger als Lügner. Das mag dir vielleicht Genugtuung bedeuten, aber den Schmerz lindert es sicher nicht. Mir aber bleibt die Schande über meinen Sohn, die nicht mehr zu tilgen sein wird. Und Judas Iskariot, der eine von den Zwölfen, ging zu den Hohepriestern hin, um ihn ihnen zu überliefern. Die aber freuten sich, als sie das hörten, und versprachen, ihm Geld zu geben; und er suchte, wie er bei guter Gelegenheit ihn überliefern könnte.

Du willst wissen, warum ich dir diesen Brief schreibe? Eine Hoffnung, die ich noch habe drängt mich dazu, die Hoffnung, das Licht der Wahrheit auf seinen Tod scheinen zu lassen. Es hängt nun von dir ab, ob du bereit bist, diesen Brief mit meiner Erkenntnis weiter zu verbreiten unter den Anhängern deines Sohnes.

Ich konnte nicht glauben, dass mein Sohn als Verräter in die Geschichte eingehen würde, also wollte ich näheres erfahren und habe Nachforschungen betrieben. Nachdem man ihn tot aufgefunden hatte, hatte man mir seine Kleidungsstücke überbracht. Ich durchwühlte sie immer wieder, in der Hoffnung, wenigstens ein Zeichen, einen Hinweis auf seine Unschuld zu finden, denn nach wie vor war ich davon überzeugt: er hatte nicht aus böser Absicht so gehandelt.

Tatsächlich entdeckte ich, eingenäht in seinen Kleidern ein Stück Leinen, auf dem er seine Not, die ihn zum Verräter werden ließ, geschildert hatte.

„Ich war entsetzt und gleichzeitig wie gebannt. Wie konnte mein Freund und Meister, den ich so schätzte und verehrte, behaupten: Wahrlich, ich sage euch. Einer von euch wird mich überliefern, einer, der mit mir isst. Da begannen wir traurig zu werden und fragten ihn nacheinander: Ich bin es doch nicht? Er aber antwortete: Einer von den Zwölfen, der mit mir die Hand in die Schüssel taucht. Zwar geht der Menschensohn dahin, so wie es von ihm geschrieben steht. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren.

Plötzlich wusste ich es: Jesus meinte mich. Ich starrte sekundenlang auf meine Hand, die neben seiner in die Schüssel tauchte, ich konnte nicht mehr schlucken und auch nicht reden. Ich fiel lautlos aus der Gemeinschaft seiner Jünger und keiner schien es zu bemerken. Selbst Jesus wandte sich von mir ab. Sein Urteil war gesprochen, ich hatte es verstanden, aber ich schrie in meinem Innersten: Nein. Dieser wollte ich nicht sein, von dem gesagt wurde, es wäre besser, er wäre nie geboren. Das machte mein ganzes bisheriges Leben sinnlos, das machte mich zum Verräter,  ja zum Mörder eines Unschuldigen. Diese Last der Schuld wollte ich nicht tragen ein Leben lang. Warum blieben die anderen, die es doch auch vernommen hatten, so gleichgültig? Sie aßen weiter, als wäre nichts geschehen. Doch in diesem Augenblick war mein Schicksal bestimmt worden von dem Menschen, den ich so liebte, dem ich vertraut hatte bis zu dieser Stunde, mit dem ich bei Tische lag, zum letzten Mal, Seite an Seite, stolz darauf, ihm nahe zu sein, näher als den anderen. Was hatte ich verbrochen, um ein Verbrecher werden zu müssen? Warum wählte er gerade mich dazu aus, die Schrift zur Erfüllung zu bringen? Warum? Am liebsten hätte ich geschrien, getobt, ihn geschüttelt um eine Antwort zu erfahren. Aber ich blieb stumm, wie gelähmt und besessen von dem einzigen Gedanken: Es muss eine andere Lösung geben, so kann es nicht sein.
In der Finsternis, an einen Baumstamm gelehnt kam ich wieder zu mir. Was war passiert? Ich sollte Jesus verraten? Nein, dazu war ich nicht bereit. Warum flüchtete Jesus nicht? Noch bot sich günstige Gelegenheit. Er blieb, also musste ich wohl gehen. Flucht in die Einsamkeit. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die uns stark gemacht hatte, den Feinden gegenüber. Kein zurück wäre mehr möglich. Geflohen, um kein Verräter sein zu müssen und doch einer zu sein, der sich geweigert hatte, seinen Auftrag anzunehmen, damit sich Jesu Schicksal erfüllen könne. Um mich nur Dunkelheit, ein Loch, in das ich fiel, unaufhaltsam, immer schneller, atemlos. Nie zuvor war ich so allein gewesen, so verzweifelt. Ich warf mich auf den Boden und flehte zu meinem Gott, er solle mich nicht verlassen, sondern mir einen Weg, einen Ausweg weisen, den ich gehen könnte. Ich raufte mir die Haare und schlug mir Steine vor die Brust, wollte Schmerz fühlen, um aus meiner Erstarrung aufzuwachen.

Da wurde ich grob von fremden Händen gepackt und hochgerissen, der Schein einer Fackel leuchtete mir ins Gesicht und höhnische Stimmen drangen in mein Ohr. Das ist einer von den Zwölfen, haltet ihn fest, er kann uns zu ihm führen. Ich wehrte mich und wollte flüchten, aber es waren zu viele und sie trugen Waffen und meine Angst war zu groß. Die Angst, hier und jetzt sofort sterben zu müssen. Verzeih mir, mein Gott, wenn dies der erflehte Ausweg war, habe ich ihn aus Feigheit nicht angenommen und bin schuldig geworden. Sie drückten mir einen Sack mit 30 Silbermünzen in die Hand, den ich erzürnt wegschleuderte, sie aber hoben ihn erneut auf und banden ihn an meinen Gürtel und mir die Arme auf den Rücken. Nun sollte es also doch geschehen, was mir prophezeit worden war? Sie schoben mich durch die Straßen und verlangten, ich solle sie zu meinem Meister führen. Ich bewegte mich wie in Trance, immer noch auf einen Ausweg hoffend, eine günstige Gelegenheit, ihnen zu entkommen. Wie ein Schlafwandler führte ich sie ziellos durch die kleinen Gassen, um Zeit zu gewinnen, dem Schicksal zu entkommen. Bald bemerkten sie meine Absicht und wurden grober, begannen mich mit ihren Schwertern heftig zu berühren, drängten mich so in die von ihnen gewünschte Richtung. Woher aber wussten sie, wo sich Jesus mit den Jüngern aufhielt? Ahnten sie es, oder wussten sie es? Warum aber musste ich sie dann führen? Brauchten auch sie einen Sündenbock, um ihre Schuld abladen zu können, wohlwissend, dass mit Jesus ein Unschuldiger festgehalten wurde? Wirkten sie als die Besetzer unseres Landes glaubwürdiger, wenn unser Meister von einem aus den eigenen Reihen bloßgestellt werden würde? Hatten sie etwa Angst vor das jüdische Volk zu treten? Befürchteten sie gar einen Aufstand der wütenden Massen und Pilger im Ort?

Ehe ich noch eine Antwort fand, betraten wir den Garten, in dem Jesus sich aufhielt, auch er gepackt von tiefer Angst, auch er in großer Einsamkeit und Verzweiflung, aber er war bereit, sein Schicksal anzunehmen. War auch ich bereit? Und er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: „Schlaft ihr weiter und ruht!“ Es ist  genug. Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überliefert. Steht auf, wir wollen gehen. Siehe, der mich überliefert ist nahe.“ Durchflutet von einem Gefühl unbeschreibbarer Nähe, geistig und körperlich spürbar, trat ich meinen letzten Schritt auf ihn zu. Rabbi,  ein letztes Mal, diesem Gesicht so nahe, ein letztes mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dieses vertraute Gesicht, diese sanften Augen, dieser Mund, der so wunderliche und heilsame Worte sprach. Sollte ich es also sein, der ihn auslieferte? Hatte er es so gewollt? Vielleicht erwies ich ihm einen Dienst, vielleicht befand er mich am stärksten, als seinen Freund, der ihm dazu verhalf, seinen schwierigen Weg zu gehen, damit sich die Schrift erfüllen könne? Konnte ich ihm in dieser Sekunde einen kleinen Beistand bieten? Überwältigt von dieser neuen Erkenntnis trat ich auf ihn zu und küsste ihn, ein Liebeskuss. Ein Abschiedskuss, ein Versöhnungskuss. Täuschte ich mich oder entdeckte ich in seinen Augen ein wohlwollendes Leuchten? Er verzieh mir, er war der einzige, der mich verstanden hatte, nachdem wir uns nach qualvollen Stunden, ausgeschlossen von jeglicher Gemeinschaft wieder trafen. Mehr konnte ich nicht tun. Schon rissen sie ihn mit sich und den Jüngern gebot Jesus Einhalt. Ich aber gepackt von Scham und Schuld jenen gegenüber, die von nichts ahnten, entfloh den Soldaten, die sich nun nicht mehr um mich kümmerten. Ich raste durch die Dunkelheit erneut von Entsetzen gepackt, dem Wahnsinn nahe. Das Säckchen mit den Münzen riss ich von meinem Gürtel, stürzte zu Pilatus und warf es ihm vor die Füße. Er ist unschuldig, schreiend so laut ich konnte. Nehmt mich und lasst ihn laufen. Die Wachen aber lachten, warfen mich hinaus und sprachen. Was kümmerst du uns? Wieder vernahm ich meines Meisters Worte. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren. Ununterbrochen vernahm ich diese Worte, sie ließen mich nicht mehr los. Auch sie mussten sich erfüllen. Ein letzter Schritt noch.

Bevor ich diesen Schritt aus dem Leben gehe, habe ich aufgeschrieben, was mich bewegte, in der Hoffnung, nach meinem Tod, wenigstens einen Menschen zu finden, der für mich betet, damit Gott mir meine Schuld, die er mir bestimmt hatte, vergeben wird.

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