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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Tod

Tonne (8)

11 Samstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Alkohol, Depression, Freundschaft, Krankenhaus, Leben, Polizei, Polizist, Tod

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Im Krankenhaus
Freitag, 20.30 Uhr

„Melanie?“
Fragend blickte Frau Ascher in das ernste Gesicht des Polizisten, der neben ihrem Bett stand. Er zog sich erst einen Stuhl ans Bett, ehe er den Kopf schüttelte.
„Nein, wir konnten noch nichts Näheres über sie herausfinden. Kann es sein, dass das Mädchen einen bestimmten Grund hatte, plötzlich zu verschwinden? Wissen Sie, wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder verschwinden, weil sie Angst haben, daheim Ärger zu bekommen, wegen schlechter Noten zum Beispiel oder aus für uns geringfügig erscheinenden Anlässen die von den Kindern als schwerwiegend und furchteinflößend empfunden werden. Kann es sein, dass sie Angst vor Strafen hatte, aus welchem Grund auch immer?“
Stumm schüttelte die Frau den Kopf. Sie schien nachzudenken.
Angst? Wovor könnte Melanie Angst haben? Vor Strafen gewiss nicht. Sie selbst war oft eher zu apathisch als dass sie sich ernsthaft mit dem Kind auseinandergesetzt hätte. Sie ließ sie zu sehr gewähren. Eine strenge Mutter war sie nicht, wohl eher eine gleichgültige, aber das – so dachte sie jetzt – war wohl noch schlimmer.
Melanie. Sie versuchte sich vorzustellen, Melanie würde nicht zurückkommen. Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein, der Brief, der daran schuld war, dass sie gestern Abend getrunken hatte. Der Brief! Mein Gott, wo hatte sie ihn bloß versteckt? Melanie durfte auf keinen Fall davon erfahren. Ja, jetzt wusste sie es, wovor ihre Tochter sich am meisten fürchtete, vor einem Leben ohne ihre Mutter. Wie oft hatte sie schon nach ihrem Vater gefragt … Sie hätte es ihr längst schon sagen müssen … Melanie befürchtete, ihre Mutter zu verlieren. Sie wollte nicht allein sein. Nicht allein bei fremden Menschen, die sie aufzogen oder allein in einem Heim. Der Brief! Sie musste es der Polizei sagen.

„Der Brief“ begann sie zögernd, „der Brief könnte ein Grund gewesen sein.“
„Von welchem Brief sprechen Sie denn?“
„Der Brief vom Jugendamt.“
„Bitte, Frau Ascher, wenn Sie uns helfen wollen, Melanie zu finden, dann erzählen Sie uns alles, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint.“
Der Polizist sah sie aufmunternd an.
„Am Donnerstagmorgen kam der Brief. Ein Einschreiben. Das Jugendamt fordert mich auf zu einem Gespräch zu kommen. Sie haben erfahren, dass ich … manchmal etwas trinke. Sie meinen, dass ich mich zu wenig um Melanie kümmere, sie befürchten, dass das Kind darunter zu leiden hat. Vernachlässigung und … ich weiß das nicht mehr so genau. Sie wollen mir das Kind wegnehmen.“ Schluchzend drehte Frau Ascher den Kopf auf die Seite, verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.
„Das dürfen Sie nicht. Niemals. Nein.“ Stammelt sie unter Tränen.
„Hören Sie, helfen Sie mir, bitte. Ich trinke nicht mehr, ich tue alles, aber die dürfen mir mein Kind nicht wegnehmen. Bitte tun Sie etwas …“
Ratlos saß der Polizist neben ihr, fühlte sich unbehaglich, wusste nichts Tröstendes zu sagen. Allmählich begann er zu ahnen, warum Melanie verschwunden war.
„Wusste Melanie von dem Brief?“
“Nein, ich habe ihn vor ihr versteckt, bevor … aber ich weiß nicht mehr genau wo.“
„Bevor was?“
Frau Ascher schwieg.
„Bevor Sie getrunken haben?“
„Nein“, sie wehrte ab. Er sah sie aufmerksam an.
„Doch, Sie haben Recht. Ich war so erschrocken, dass ich etwas brauchte zur Beruhigung, da sah ich die offene Flasche, da trank ich sie leer, es war nur ein kleiner Rest. Melanie war auf einer Geburtstagsfeier, kam erst am Abend zurück. Ich versteckte den Brief, da fiel mir wieder ein, dass ich zur Arbeit musste, es war schon spät, der Bus fuhr in wenigen Minuten, ich musste ihn noch erreichen, um nicht zu spät zu kommen, das würde sonst Ärger geben, aber ich musste doch immer an diesen schrecklichen Brief denken, in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, Gedanken flogen wie aufgewirbelte Blätter herum, waren nicht zu fassen, blieben nicht ruhig, nicht fassbar, immer wieder, dieser Brief, den durfte Melanie auf keinen Fall sehen, das durfte sie nicht erfahren. Ich durfte aber meine Arbeit nicht verlieren, das wäre doch ein weiterer Grund für das Jugendamt. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich hatte die neue Arbeitsstelle noch nicht lange. Da klingelte auch noch das Telefon, mein Chef war dran, schon wütend, weil ich wieder zu spät kommen würde.“ „Melanie kam nach Ihnen von der Schule heim. Vielleicht hatte sie den Brief entdeckt?“
„Vielleicht … Dann hat sie jetzt schreckliche Angst, denkt ich mag sie nicht mehr, lasse sie allein.“
„Sie ist weggelaufen. In Panik. Das machen Kinder oft, sie laufen davon, meinen, vor dem Problem weglaufen zu können. Eine Art Verdrängung. Fluchtreflex. Könnte das so gewesen sein?“
Frau Ascher nickte. „Ich will Sie nicht belügen, aber ich habe mehr als den Rest in der Flasche getrunken …“
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Melanie finden. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns bei Ihnen. Gute Nacht.“

Freitag, 23.50 Uhr

Schwester Hannelore warf einen prüfenden Blick in das dämmrige Zimmer. Sie konnte im schwachen Licht der Nachtlampe nur Umrisse erkennen. Alles schien ruhig. Keine fremden Geräusche drangen an ihr Ohr. Behutsam schloss sie die Tür, um die Kranke nicht zu wecken. Ihre Schicht war in wenigen Minuten zu Ende und sie begann sich schon auf ihr Zuhause zu freuen, sehnte sich nach ihrem Bett, nach Schlaf, nach Abschalten. Gewissenhaft setzte sie ihren Rundgang fort. Da stutzte sie plötzlich, blieb abrupt stehen und lauschte. Sie hatte ein Geräusch vernommen, das vorher nicht da war. Entschlossen näherte sie sich wieder der Zimmertür mit der Nummer 17. Zögerte einen Moment, ehe sie sachte die Tür öffnete und auf das Bett am Fenster blickte. Sie nahm die Bewegung zuckender Schultern wahr und ein unterdrücktes Schluchzen. „Kann ich helfen?“, fragte sie freundlich und näherte sich dem Bett. Ein leises „Nein“, war die Antwort, die sie nicht überzeugen konnte. „Ich habe in wenigen Minuten Schichtwechsel, dann habe ich für Sie Zeit. Bis gleich.“ Beruhigend legte sie ihre Hand kurz auf die fremde Schulter, ehe sie das Zimmer erneut verließ, mit der festen Absicht, gleich wiederzukommen.
Auf der Station blieb alles ruhig. Noch drei Minuten, dann würde sie abgelöst werden. Sie blätterte interessiert in dem Krankenbericht von Frau Ascher, die allein auf Zimmer 17 lag.
… Eingeliefert am Donnerstag 20.35, Unfall, Sturz auf der Treppe, alkoholisierter Zustand, offener Schienbeinbruch, alleinerziehend, Tochter neun Jahre alt, war nicht anwesend …. Dann las sie die handschriftliche Notiz nicht auffindbar. Sie stockte. „Nicht auffindbar“. Ein Kind mit neun Jahren, nicht auffindbar. Sie begann zu ahnen, warum Frau Ascher in Tränen ausgebrochen war. Angst. Sorge. Sie konnte das gut nachfühlen, waren ihre Kinder auch schon älter, aber als Mutter fühlte man sich sofort verantwortlich, zuständig für alle kindlichen Probleme. Wo konnte das Mädchen bloß sein? Sie las weiter.
… Suchaktion von der Polizei bereits eingeleitet …
Schwester Anna, ihre Ablösung, erschien im Schwesternzimmer. „Guten Morgen. Alles in Ordnung?“ Die übliche Frage bei Schichtwechsel. Automatisch nickte sie. „Du schaust aber nicht danach aus“, bemerkte Schwester Anna aufmerksam. „Was ist los?“ Besorgt blickte sie auf ihre Kollegin. Schwester Hannelore hielt den Bericht hoch.
„Zimmer 17, der Neuzugang, Frau Ascher, ein schwieriger Fall.“
„Inwiefern?“
„Komplizierter Beinbruch, Alkoholprobleme und vor allem eine Tochter, die nicht aufzufinden ist, schlechter psychischer Zustand. Ich habe ihr versprochen, noch einmal zu ihr zu kommen.“
Verständnisvoll nickte Schwester Anna. Es war immer dasselbe. Die andere machte sich zu viele Gedanken. Man sollte sich nicht zu sehr mit den Problemen der Patienten belasten, denn sie verließen das Krankenhaus in den meisten Fällen geheilt, aber ohne ihre Probleme gelöst zu haben. Sie hatte diese Erfahrung in ihrer langjährigen Tätigkeit gemacht. Sie erhob längst keinen Anspruch mehr, die Probleme fremder Leute lösen zu wollen. Sie behandelte alle freundlich, hörte auch aufmerksam zu. Mehr nicht. Keine Kommentare, keine Hilfsangebote, keine Lösungsversuche. Das genügte meist auch. Ja, darin hatte sie Erfahrung. Aber diese Schwester Hannelore, die gab nicht auf, war davon überzeugt, mehr tun zu müssen und wohl auch davon, mehr tun zu können. Bitte. Sie hatte jetzt anderes zu erledigen.
„Also, ich geh dann, mach’s gut, bis morgen!“
Schwester Hannelore hatte sich inzwischen umgezogen und verließ das Schwesternzimmer.
Frau Ascher stellte sich schlafend, aber der angehaltene Atem verriet, dass sie wach war.
„Jetzt habe ich viel Zeit.“
Schwester Hannelore zog sich einen Stuhl ans Bett und wartete. Beide Frauen verharrten im Schweigen. Wie eine Ewigkeit erschien es der Schwester, aber es waren nur wenige Minuten.
„Was wollen Sie?“
Endlich.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Vielleicht haben Sie ein Bild von ihr?“
Erschrocken starrte Frau Ascher der Schwester, die jetzt ohne Schwesterntracht so anders aussah, ins Gesicht.
„Meine Tochter … Ich habe schon alles gesagt.“
„Ich habe auch eine Tochter. Sie sorgen sich um Melanie, so heißt sie doch, oder?“
„Sie ist verschwunden. Einfach weg …“, stöhnte Frau Ascher.
„Sie kann bei einer guten Freundin sein“, beruhigte sie Schwester Hannelore.
„Nein, sie hat keine gute Freundin. Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Keine gute Freundin, keine gute Mutter, keinen Vater. Sie hat … nichts. Nicht einmal einen Hund, den sie sich schon lange wünscht.“
„Ist sie zum ersten Mal so lange verschwunden?“
„Ja, sie hat immer Bescheid gesagt, wann sie wieder zurück ist, oder einen Zettel hinterlegt. Aber dieses Mal – nichts. Einfach weg. War auch nicht in der Schule.“
Frau Ascher drehte sich stumm auf die andere Seite. Geduldig blieb Hannelore sitzen.
„Was wollen Sie von mir?“ Wieder die leise Stimme.
„Gehen Sie doch, lassen Sie mich allein, ich bin das gewohnt.“
„Sie sind oft allein?“
„Allein, schon lange …“

Melanies Mutter erinnert sich

Der Wecker klingelte. Schlaftrunken stellte sie ihn ab, murmelte „aufstehen, halb sechs“ und schlief augenblicklich wieder ein. Aber etwas war anders. Plötzlich war sie wieder wach, tastete mit der Hand prüfend über die Bettdecke neben ihr, spürte eine Schulter, rüttelte sie energisch „Aufstehen, du kommst zu spät.“ Keine Reaktion. Alarmiert setzte sie sich im Bett auf. Er lag noch immer schlafend, ohne auf ihre Aufforderung zu reagieren. Kein Seufzen. Kein Gähnen. Kein Laut. Nichts war zu hören. Kein Geräusch. Sie zog ihm die Bettdecke weg, was normalerweise einen empörten Schrei zur Folge hatte. Er blieb stumm. Er blieb regungslos. Er sah sie nicht mal an. Augen geschlossen. Sie legte ihm die Hand auf die Brust. Keine Bewegung. Kein Heben und Senken. Kein Atmen. Die Haut fühlte sich warm an, aber kein Atmen. Plötzlich wusste sie, was das bedeutete: Kein Atmen, kein Leben. Er war tot.
Sie wagte es nicht zu denken, aber der Gedanke bohrte sich wie ein Messer in ihr Gehirn. Er blieb darin, weigerte sich zu verschwinden. Sie warf sich über ihren Freund, rüttelte ihn, boxte ihn, schrie ihn an, bettelte, flehte, verfluchte ihn, schwor ihm ihre Liebe. Immer wieder. Nichts rührte ihn mehr. Sie begann ihn zu streicheln. Stellte ihrem Gedanken ein Nein entgegen. Nein, das war nicht möglich. So jung noch, so gesund, das durfte nicht sein. Sie schmiegte sich an ihn, klammerte sich an ihm fest, wollte ihn nicht gehen lassen, obwohl er schon gegangen war. Versuchte in den Schlaf zu entfliehen. Vom Alptraum des Lebens zurück in den Schutz der Träume. Sie dämmerte weg, spürte seinen warmen Körper neben ihr, beruhigte sich allmählich, er war ja da, alles war gut, floh minutenlang in den Schlaf, in das Vergessen.
Das Telefon. Sie sprang erschrocken aus dem Bett. Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. Verschlafen. Sie hatten beide verschlafen. Ihr Chef. Sie hörte seine Stimme. Nicht unfreundlich, eher besorgt.
Nein, sie war nicht krank, aber sie konnte nicht in die Arbeit kommen, unmöglich. Ihr Freund. Sie durfte ihn nicht allein lassen, nicht jetzt, auf keinen Fall. Ob er einen Arzt kommen lassen sollte? Sie klänge so merkwürdig. Gehe es ihr auch wirklich gut? Was ist mit ihrem Freund?
Er brauche sie ganz dringend. Die letzte Wärme. Sie musste sie ihm geben. Er könnte kalt werden.
Sie warf das Telefon auf die Couch, antwortete nicht mehr, wusste später nicht mehr, dass sie ihrem Chef die Tür geöffnet hatte, als dieser Sturm geklingelt hatte. Ihrem Chef und einem Arzt, den sie nicht kannte. Wusste nicht mehr, dass sie betrunken gewesen war, betrunken von zu viel Alkohol und zu viel Schmerz. Erwachte erst allmählich in einem Krankenhausbett, allein, kein vertrauter Körper neben ihr, gepackt von Panik. Ein Würgereiz schüttelte sie. Eine Brechschale wurde ihr unter das Kinn gehalten. Sie war doch nicht allein. Aber er war nicht mehr da. Wohin hatten sie ihn gebracht?
Eine beruhigende Stimme erklärt ihr vorsichtig, was passiert war, aber sie wusste es doch schon längst, nun wurde sie erneut daran erinnert. Er war tot. Sekundentod. Plötzlich. Unerklärlich. Im nächsten Monat hätten sie geheiratet, hätten eine Hochzeitsreise unternommen. Alles war schon geplant, die Gäste bereits eingeladen.
Sie wurde am Tag der Beerdigung entlassen. Daran wollte sie nicht erinnert werden. Diesen Tag, der alles so endgültig machte, hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen, daran weigerte sie sich zu denken.
Sie schaffte es irgendwie, nach qualvollen Wochen, weiter zu leben ohne ihn. Andere halfen ihr dabei, Eltern, Freunde. Nach wenigen Wochen wusste sie, dass sie ein Kind erwartete. Sein Kind. Ihr gemeinsames Kind. Er würde es nie mehr erfahren, das Kind würde nie seinen Vater kennen lernen. Ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwankte zwischen Freude und Angst. Allein mit einem Kind. Wie sollte sie das bewältigen?
Die Schwangerschaft verlief problemlos. Nach einer anstrengenden Geburt legte die Hebamme ihr Melanie in den Arm. Erschöpft blicke sie auf ein gesundes Mädchen. So winzig. So unschuldig. Sie konnte sich nicht satt sehen. Freude und Trauer überwältigten sie. Ihr Mädchen, das ohne Vater war, von Anfang an. Alle Verantwortung lag nun auf ihr. Und er, der Vater, wird sich nie an seinem Kind freuen können. Nie. Drei Buchstaben, die eine Ewigkeit ausdrücken, eine Unendlichkeit. Nie.
Die Verantwortung gab ihr Kraft. Das Leben ihrer Tochter musste geschützt werden. Sie war gefordert. Ihre Aufgabe war das. Das Stillen verband Mutter und Tochter. Sie war stolz auf ihr Mädchen, das sich gesund entwickelte. Sie suchte nach seinen Augen in dem kleinen Gesicht, forschte nach Ähnlichkeiten, war glücklich in ihrem Lachen seines wieder zu entdecken. Aber sie hatte auch Angst. Sekundentod. Es konnte jeden treffen. Auch Kinder. Kindstod. Das Grauen verfolgte sie noch immer.
Sie war jung. Sie war gebunden. Sie war einsam. Ihre Freunde kamen immer seltener. Sie wurde kaum noch eingeladen. In der ersten Zeit bemerkte sie das nicht, war zu erschöpft, zu müde, zu sehr beschäftigt.
Als Melanie schon in den Kindergarten ging, wurde ihr bewusst, wie jung sie noch war. Die meisten der Mütter waren schon älter und hatten wenig Interesse an ihr. Da sehnte sie sich wieder nach ihren Freunden, die abends weggingen, sorglos schlafen konnten, nicht auf Atemzüge lauschen mussten, verfolgt von der Angst, diese nicht mehr zu hören. Sie war gebunden. Ihre Eltern hätten ihr das Kind schon abgenommen. Ab und zu. Aber sie spürte, dass die anderen sie mieden, sie die junge Witwe und Mutter störte ihr Vergnügen, weckte unangenehme Erinnerungen. Man blieb unter sich. Übertönte das schlechte Gewissen, das sich manchmal meldete durch den Lärm der Musik, zu der man tanzte.
Sie war einsam. Sobald ihre Tochter schlief suchte sie Entspannung, Erleichterung, sobald ihre Tochter schlief, griff sie zur Flasche. Der Vorrat stammte noch von ihm. Sie trank und dachte dabei an ihre gemeinsame Zeit. Sie konnte nicht weg, sie blieb und entfernte sich in ihren Gedanken. Der Alkohol half ihr dabei. Wenig am Anfang. Das Wenige reichte bald nicht mehr, um ihr schlechtes Gewissen zu ertränken, um für ausreichende Entspannung zu sorgen.

Noch konnte sie ihren Alkoholkonsum vor anderen verbergen. Sie hatte sogar wieder Arbeit gefunden, stundenweise. Melanies erster Schultag lag hinter ihr. Ihre Freiräume wurden größer, ihre Einsamkeit auch. Melanie erzählte nicht viel von der Schule, selten von ihren Mitschülern. Vielleicht zeigte sie als Mutter auch zu wenig Interesse daran, war froh, wenn Melanie draußen spielte oder bei anderen Kindern, wie sie manchmal sagte, aber nie brachte sie ein anderes Kind mit in ihre Wohnung. Ihr war das recht. Sie hatte sich kaum Gedanken über Melanies Einsamkeit gemacht. Ab und zu unternahmen sie gemeinsam etwas. Ein Kinobesuch, ein Tag im Tierpark oder im Schwimmbad, das machte ihre Tochter schon glücklich. An manchen Tagen war sie auch stolz auf ihr hübsches Mädchen, an anderen empfand sie das Kind als Belastung, als Hemmschuh, der sie davon abhielt, ihr Leben nach ihrem Geschmack zu gestalten. Sie fühlte sich noch zu jung, um so viel Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie vermisste ihn noch zu sehr, wollte sich in ihre Trauer fallen lassen wie in einen tiefen See, wollte nachdenken, sich erinnern, in der vergangenen Zeit leben, alles Schöne noch einmal erleben dürfen oder wenigstens mit jemand darüber können, mit jemandem, der ihn auch gekannt hatte.
Seine Eltern wohnten zu weit weg. Sie waren auch schon recht alt. Am Anfang war das Kind zu klein für sie, wie sie sagten, als Entschuldigung für die wenigen Kontakte, später war das Mädchen zu anstrengend, zu lebhaft in ihrem Alter wie sie betonten, sie seien überfordert. An Weihnachten und an Melanies Geburtstag schickten sie regelmäßig ein Päckchen und einen Brief, den Melanie seit sie schreiben gelernt hatte, selbst beantwortete, mit ihrer Hilfe. Ihr fiel das schwer, diese beiden Großeltern waren zu weit entfernt, zu unbekannt. Es blieb bei wenigen Sätzen, Floskeln. Allmählich wurden aus den Briefen Karten, die weniger Text erforderten. Ihre Eltern unterstützten sie von Anfang an, wohnten nicht allzu entfernt, übernahmen das Kind, um ihr Erholungspausen zu gönnen, vor allem nach anstrengenden Phasen, in denen Melanie krank war und sie sich nur nach Schlaf sehnte.
Zu Beginn des ersten Schuljahres erkrankte ihr Vater und ihre Mutter war mit seiner Pflege beschäftigt.

Nach Minuten des Schweigens beugte sich Schwester Hannelore über die Frau, die erschöpft im Bett lag und nicht mit ihr sprechen wollte.
„Ich komme morgen wieder. Auf Wiedersehen.“
Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.

Tonne (3)

21 Samstag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Depression, Foto, Freude, Freundschaft, Hund, Leben, Liebe, Tod, Trauer

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Reaktion der Leute auf Karls Behinderung

Wie hatten sich die Leute das Maul zerrissen, als sie allmählich merkten wie es um des Pfarrers Sohn bestellt war: Er war einfach anders als die anderen. Im Kindergarten fiel das nicht so deutlich auf, aber in der Grundschule traten massive Probleme auf: Karl war einfach überfordert, an der falschen Schule. Ihrem Mann wurde es allmählich peinlich, dass er, der angesehene Pfarrer, einen behinderten Sohn hatte, der keinerlei Rücksicht nahm auf den Ruf des Vaters. Aber ihr Mann liebte ihn, trotz der Schwierigkeiten, sie fühlte das, während sie ihn nicht so annehmen konnte wie er war, so sehr sie sich auch Mühe gab. Es gab Momente, da verabscheute sie sich selbst: Eine Mutter, die ihr eigenes Kind nicht liebte? Noch dazu die Frau eines Pfarrers. Aber war Karl wirklich ihr eigenes Kind? War er ihr nicht aufgezwungen worden von einem Fremden, der sie gewalttätig überfallen hatte, an jenem Abend, der in ihren Träumen immer wieder auftauchte, jener Abend, der ihr zum Schicksal geworden war?
Wie hatte sie sich geschämt, wie war sie verzweifelt gewesen, dass ausgerechnet ihr das passieren musste: Eine Vergewaltigung. Welch harmloses Wort im Vergleich zur grausamen Realität. Hilflos ausgeliefert zu sein, trotz heftigster Abwehr zu unterliegen, fremde Gewalt ertragen zu müssen, sie auszuhalten und danach wieder aufzustehen und so völlig allein zu sein, getrennt von allen anderen, mit keinem darüber reden zu können. Das war das Schlimmste. Heimkommen und den Augenblick verpasst zu haben, den richtigen Augenblick, darüber zu berichten, die Polizei einzuschalten, den Täter zu verfolgen. Sie dachte an ihren Mann, der sie vielleicht nicht mehr lieben würde, der ihr vielleicht sogar die Schuld geben würde und dann – die Polizei einschalten, mit all den unangenehmen Fragen? Das Gerede der Leute aushalten müssen, ihr Mann wäre dem ebenso ausgesetzt, in seiner Pfarrei, ihr Mann, der täglich mit vie-len Menschen zusammentraf, wie hätte er sie vor dem Gerede und Getuschel, den Vermutungen schützen können? Nein. Niemand sollte davon erfahren. Sie wollte alleine damit fertig werden und hoffte nur eines: nicht schwanger geworden zu sein von jenem Mann, den sie abgrundtief hasste, denn auch ein Kind von ihm, dem Unbekannten, würde sie nicht lieben können. Sie wusste es damals schon.
Abtreibung? Sicher, daran hatte sie im ersten Moment auch gedacht, aber der Respekt vor dem ungeborenen Leben verbot ihr den Gedanken weiter zu denken, in ihn die Tat umzusetzen.
Ein banges Warten begann ehe sie die Gewissheit hatte: Sie erwartete ein Kind. Ihr Mann war überglücklich, ahnte er doch nichts von ihren geheimen Befürchtungen: Wer war der wirkliche Vater? Sie versuchte sich zufrieden zu geben, hoffte immer noch, ihr Mann sei der tatsächliche Vater. An anderen Tagen war sie davon überzeugt, dass die Geburt alles an den Tag bringen würde: das Aussehen des Kindes würde Rätsel aufgeben und sie verdächtigen, einen Seitensprung begangen zu haben. Die untreue Ehefrau oder die vergewaltigte, egal, ihre Ehe wäre zerstört, das Vertrauen verschwunden.

„Wo hast du Bettina gesehen?“, erkundigte sich Karls Vater behutsam. „Auf dem Spielplatz.“ Absolut sicher antwortete Karl. „Auf dem Spielplatz?“ Karl nickte bestätigend und schob sein Bild wieder ein.

Reaktion des Vaters auf seinen Sohn, als er wieder von Bettina spricht

Karl, sein Sohn. Der Pfarrer sah ihn wehmütig an. Er hätte sich auch einen anderen Sohn gewünscht. Sicher. Aber nur vor sich selbst, in seinen geheimsten Gedanken gab er diesen Wunsch zu, niemals vor seiner Frau, die deutlich mehr litt, als er selbst. Karl, der hübsche Kerl, der sich so merkwürdig verhielt, der sich weigerte, sich anständig anzuziehen, der daherkam wie ein Obdachloser, obwohl doch jeder in seiner Nachbarschaft wusste, wie gepflegt es im Pfarrhaus zuging. Karl, den jeglicher Müll faszinierte, aus unerklärlichen Gründen. Karl, der sich sträubte und wehrte, wenn man ihn zärtlich umarmen wollte. Was war los mit diesem Jungen? Äußerlich und vom Alter her ein junger Mann, in seinem Gemüt ein Kind. Trotzdem, er hatte ihn angenommen. Er als Pfarrer sah hier eine Gelegenheit, den Leuten zu beweisen, wie gelebtes Christentum aussah. Liebe deinen Nächsten, liebe deinen Sohn. Er tat es, er versuchte es, auch wenn es nicht immer gelang und er mit Gott haderte in einsamen Nächten, die er rasch vergessen wollte.
Wie hatte er dagegen sein kleines Mädchen geliebt, von der ersten Sekunde seines Lebens an. Unbeschreiblich war dieses Glück, ein gesundes Kind haben zu dürfen. Sein Sonnenschein, der jetzt sein Engel geworden war, nach diesem schrecklichen Unfall, vor nun vier Jahren. Alle schienen so glücklich gewesen zu sein, auch seiner Frau gelang es besser, ihren Sohn Karl mit seinen Eigenheiten anzunehmen, noch dazu, als sich herausstellte, dass die kleine Schwester so an Karl hing und dieser sich rührend um sie kümmerte, ja geradezu aufzublühen begann und sie schon zu hoffen wagten, Karl würde sich endlich weiter entwickeln, seinem Alter gemäß.
Fünf Jahre währte dieses Glück ehe es brutal zerbrach.
Kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall hatte er sich um eine Stelle als Krankenhauspfarrer beworben. Er kümmerte sich nun um Menschen im Krankenhaus und um die Bewohner des Altenheimes.
Sie waren auch umgezogen. Seine Frau hatte es nicht mehr ausgehalten, täglich auf die Stelle blicken zu müssen, an der Bettina in ihr Unglück gerannt war. Von einem Stadtviertel in das andere, er hatte auf das Pfarrhaus verzichtet, es seinem Nachfolger überlassen, war letztlich auch froh, in einem anderen Stadtteil zu wohnen. Hier war sein Unglück nicht mehr täglich gegenwärtig, nicht nach außen sichtbar. Gewiss, er dachte jeden Tag daran, bestimmt auch seine Frau, obwohl sie nie miteinander darüber sprachen. Unausgesprochene Vorwürfe breiteten sich aus zwischen ihnen, nie gesagte, auch nicht angedeutete und trotzdem spürbar wie allerfeinste Nadelstiche.
Er hatte damals eine Panne gehabt und einen wichtigen Termin, er hatte seine Frau gebeten, ihn abzuholen, hatte nicht daran gedacht, dass sie Karl nicht allein mit Bettina zurücklassen sollte, hatte nicht geahnt, wie gefährlich das sein könnte.
Alles war zu schnell gegangen. Schicksal? Er suchte Trost in seinem Glauben, einen Trost, den er seiner Frau nicht vermitteln konnte. Sie war nicht bereit, das Unglück anzunehmen, versank zunehmend in Bitterkeit und Depression. Er befürchtete an manchen Tagen sogar, sie könnte sich etwas antun, oder auch Karl, den anzunehmen ihr immer schwerer fiel.

Trotz des Wohnungswechsels hatte Karl keine Schwierigkeiten, seinen üblichen Weg zu gehen: Zum Spielplatz und zurück, am Morgen, wo er sich allerdings am Nachmittag herumtrieb, war nicht aus ihm herauszubringen. Manchmal begegneten sie sich unerwartet, vor dem Supermarkt oder auch auf dem Friedhof. Während er versuchte mit Karl zu sprechen, tat dieser so, als wäre er ein Unbekannter, ignorierte ihn einfach, im Gegensatz zu Tonne, der ihn stets stürmisch begrüßte.
Er hatte es aufgegeben, sich um Karl unnötige Sorgen zu machen, er fühlte immer mehr eine innere Gewissheit, die ihm das Gefühl gab, dass sein Sohn gut beschützt würde, irgendwie vertraute er auf sein Gefühl und sein Sohn fand stets wieder zurück, kam einigermaßen pünktlich zum Essen, der Hunger trieb ihn heim und sein prall gefüllter Müllsack, gefüllt mit seinen Schätzen. Eigentlich war er mit so wenig zufrieden, stellte er immer wieder fest, aber er gab auch so wenig, schien seine Liebe nicht zu erwidern, jedenfalls nicht so, wie er sich das immer vorgestellt hatte. Liebender Vater, liebender Sohn, Zeit für gemeinsame Spiele, Zeit für Gespräche …

Karl erinnert sich an Bettina

Vorsichtig nahm Karl die Steine in die Hand, er prüfte sie und rieb den Schmutz an seinen Hosenbeinen ab, hielt sie abwägend in der Hand, strich behutsam darüber und legte sie schließlich in eine rote Schachtel zu anderen Steinen, die alle glitzernde Stellen aufwiesen. Er war zufrieden mit der Ausbeute seiner heutigen Schatzsuche. Tastend fuhr er mit seiner rechten Hand noch einmal in den Müllsack und erspürte noch etwas Hartes, das er erstaunt herausnahm.
Er hielt einen rosaroten Stein in der Hand, der durchsichtig schimmerte und die Form eines Herzens hatte. Zärtlich hielt er ihn an seine Wange, spürte die Kühle. Bewundernd drehte und wendete er ihn. Woher hatte er diesen Stein bloß? Er konnte sich nicht erinnern, ihn aus einem Mülleimer geholt zu haben. Versunken starrte er auf den Stein, da endlich fiel es ihm wieder ein: Das fremde Mädchen. Bettina. Sein Engel. Aber das Mädchen wollte nicht Bettina genannt werden, das hatte er schon gemerkt. Melanie hieß sie, jetzt wusste er es wieder. Sie hatte ihm ein Geschenk gemacht, heute auf dem Spielplatz. Melanie. Er zerrte das Bild seiner Schwester aus der Hosentasche. Bettina oder Melanie?
Er sehnte sich so nach Bettina, nach ihrem Lachen, ihrer zärtlichen Hand, ihrer unbekümmerten Zuneigung, die auch er erwidern konnte, ohne in eine starre abwehrende Haltung zu versinken. Er suchte sie immer noch, inzwischen heimlich, denn er spürte unbewusst, wie unerträglich es für seine Eltern war, ihn bei seiner Suche nach Bettina zu ertappen. Er fühlte auch die tiefe Abneigung seiner Mutter, die ganz innen in ihr steckte, tief verborgen. Aber er hatte seine Mutter auch anders erlebt.
Zu Bettinas Zeiten. Strahlend, zufrieden, zärtlich, war sie da gewesen, auch ihm gegenüber liebevoll. Ohne innere Abneigung, das hatte er gespürt. Seine Liebe zu Bettina hatte ihm die Liebe seiner Mutter gebracht.
Aber tatsächlich war es anders gewesen: Bettina hatte seiner Mutter gezeigt wie sie ihn lieben konnte, ihn, den komischen Kerl, der von allen so misstrauisch beobachtet wurde, über dessen merkwürdiges Verhalten ständig geredet wurde. Bettina ahnte nichts davon, sie nahm ihn an, als Mensch und Bruder. Das war es, was seine Mutter dazu gebracht hatte, ihn auch anzunehmen, kurze Zeit wenigstens. Aber davon ahnte er nichts. Wusste nicht, dass sie ihm die Schuld an Bettinas Tod gab und vor allem sich selbst.
Sie hatte ihm ihr Grab gezeigt, versucht zu erklären, dass Bettina jetzt im Himmel sei, ein Engel wäre, der auf ihn heruntersehen würde, ihn ständig begleiten würde. Es hatte lange gedauert, bis er einigermaßen begriffen hatte. Tot. Das war Starre, das war Verschwinden, das war nicht mehr da sein. Die tote Maus, die er gefunden hatte, eines Tages, tot, wie Bettina. Er wollte sie näher untersuchen, wollte herausfinden, was mit ihr passieren würde. Wäre sie auch im Himmel zu finden oder würde sie ein Engel werden wie Bettina? Er konnte es nicht herausfinden. Die tote Maus war plötzlich verschwunden, nicht mehr aufzufinden. Wie Bettina.

Vierte Begegnung:  Melanies Buch über Schutzengel

Melanie wartete schon lange. Endlich sah sie Tonne herankommen, konzentriert eine fremde Spur verfolgend. Leise rief sie ihn und blitzschnell sauste er Schwanz wedelnd auf sie zu und sprang an ihr hoch. Während sie ihn streichelte, blickte sie sich suchend nach Karl um, der meist in der Nähe des Hundes war. Karl suchte Tonne, hatte ihn aus den Augen verloren und blickte sich ebenfalls suchend um. „Hier“, schrie Melanie, „hier sind wir.“ Sie winkte mit den Armen, um Karl auf sich aufmerksam zu machen. Endlich. Er kam näher, beschleunigte seine Schritte. „Na, heute schon gute Beute gemacht?“, wollte sie wissen.
Verwirrt sah Karl sie an. „Hast du heute schon einen Schatz gefunden?“, fragte sie hartnäckig weiter. Jetzt begriff Karl. Er öffnete seinen blauen Sack und ließ sie hineinschauen. Neugierig blickte sie hinein, konnte aber nichts Besonderes entdecken, lediglich ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase und schnell wandte sie den Kopf ab. Karl schleifte den Sack schon zum nächsten Papierkorb und erforschte dessen Inhalt mit den bloßen Händen. Nach kritischer Begutachtung ließ er immer wieder etwas in den Sack fallen. Melanie spielt lieber mit Tonne als im Abfall zu wühlen. Sie wollte mehr über Bettina erfahren, unbedingt. Aber Karl war ein schwieriger Kerl, nicht gefährlich, aber seltsam, merkwürdig. Er wirkte so, als ob er sie nicht richtig verstehen könnte. Warum bloß? Fragte sich Melanie immer wieder. Sie wollte es herausfinden, alles über ihn und auch über Bettina. Gespannt setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete Karl.
„Karl, komm bitte her“, forderte sie ihn auf. „Schau, was ich hier habe.“ Sie winkte mit einem Gegenstand. Das wirkte. Karl kam zu ihr und wartete darauf, diesen genauer anschauen zu dürfen. Melanie klopfte einladend auf die Bank und Karl setzte sich. Langsam öffnete Melanie ein kleines Buch, das sie mitgebracht hatte und hielt es erwartungsvoll Karl entgegen. Karl riss es ihr aus der Hand und starrte ungläubig auf die Bilder. Sie spürte die Veränderung, die unerwartet in ihm vorging und plötzlich begann sie sich zu fürchten. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Karl blätterte immer wieder die wenigen Seiten vor und zurück, als suchte er etwa Bestimm-tes. „Engel“, murmelte er, „Bettina.“ „Wo ist Bettina?“, fragte Melanie. „Engel im Himmel“, erwiderte Karl und warf einen flüchtigen Blick nach oben, als suchte er sie dort zwischen den Wolken. „Schutzengel“, erklärte Melanie, mit dem Zeigefinger auf das Bild eines Engels deutend, der ein Kind sicher über die Straße geleitete.
Aber Karl verfiel in düsteres Schweigen und weigerte sich mit Melanie zu sprechen.

Bettina (3)

Sie bohrt ihre nackten Zehen in den warmen Sand, gießt aus der kleinen Wasserkanne Wasser darüber und matscht den Sand mit den Händen zu einem kleinen Berg, unter dem sie ihre Zehen verstecken will. Immer wieder springt die Sanddecke auseinander. Zu trocken, stellt er fest, steht auf und holt frisches Wasser, das er in die Sandkiste schüttet, während ihre Hände eifrig den feuchten Sand glatt streichen. Hilfe, meine Füße sind weg! Und er tut so, als ob er sie verzweifelt suche, rennt im Garten herum und sucht hinter den Sträuchern, schaut in den Schuppen, hinter das Haus, blickt prüfend in die Krone des Apfelbaumes, versucht ihn sogar zu schütteln. Sie lacht und lacht, hält es endlich nicht mehr aus und stößt ihre Füße ruckartig aus dem Sandhügel in die Luft, wackelt mit den verklebten Zehen und schreit. Hier, hier sind sie, ich habe sie wieder hergezaubert. Und er tut verwundert, ganz erstaunt. Plötzlich sind die Füße wieder da, wie ist das möglich. Sie kann tatsächlich zaubern. Bettina.
Jetzt ist er dran, muss im feuchten Sand sitzen, sich begießen lassen, darf seine Füße nicht bewegen, muss stillhalten,  Bettina hat ihn verzaubert. Beschmiert ihn genussvoll mit dem feuchten Sand, schmiert ihn auf seine Wangen, die Nase, die Hände, es kitzelt, aber er muss still halten, ist verzaubert in einen Stein, ist unbeweglich. Sie betrachtet stolz ihr Werk, marschiert um ihn herum, begutachtet ihr Kunstwerk, bewegt die Hände, murmelt unverständliche Zaubersprüche, klopft ihm plötzlich auf die Schulter und ruft. Du bist erlöst, du bist wieder mein Bruder. Steh auf. Sofort. Da muss er aufspringen, so schnell wie er kann, muss ihrem Zauberspruch folgen, muss wieder der Bruder werden. So schnell, dass sie fast ein bisschen erschrickt, um sich danach umso mehr zu freuen. Bettina, die kleine Zauberin.

Enttäuscht nahm Melanie Karl das Buch aus der Hand und steckte es in ihren kleinen Rucksack zurück.
Ein helles Bellen riss Karl jäh aus seiner Gedankenwelt. Tonne stupste auffordernd seine Hand an und sprang an ihm hoch. Langsam nahm Karl wieder wahr, wo er sich befand: er war auf dem Spielplatz, das fremde Mädchen saß noch eben ihm, blickte ihn besorgt an, aber das Buch war verschwunden, kein Schutzengel war mehr zu sehen.
Er fühlte sich unendlich müde und wollte nur nach Hause, sich auf sein Bett legen, allein sein, allein mit Bettina, die ihn überallhin begleitete, auch wenn es keiner glauben wollte. Er wusste es, er fühlte ihre Nähe.
Langsam packte er seinen Müllsack, erhob sich schwerfällig von der Bank, rief Tonne zu sich und machte sich auf den Heimweg, ohne Melanie, die ihm enttäuscht nachsah, unfähig ihm hinterherzulaufen, noch eines Blickes zu würdigen.

Als sie wieder allein war, zog Melanie noch einmal das Buch aus dem Rucksack und starrte nachdenklich auf das kleine Bild, das bei Karl so unerwartete Reaktionen hervorgerufen hatte.

 

Tonne (2)

16 Montag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Depression, Freude, Freundschaft, Hoffnung, Hund, Kindheit, Leben, Liebe, Tod, Trauer, Verzweiflung

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Bettina (2)

Schulter an Schulter sitzen, ihren vertrauten Duft riechen, ihrer hellen Stimme lauschen, dem ausgestreckten Finger folgen, der unermüdlich auf Bilder zeigt, mal hier, mal dort hin wandert, eine Geschichte einfordernd. Eine Geschichte von ihm, ausgerechnet von ihm, der kaum ein Wort spricht. Bettina weiß das nicht, hat keine Ahnung. Ihr Bruder ist groß, also kann er eine Geschichte erzählen, so wie alle anderen Großen. Bettina klopft ungeduldig auf die kleinen bunten Bilder, blickt ihn fragend an. Er quält sich, kennt die Bilder, sucht nach den passenden Worten, sie zu beschreiben, fördert sie mühsam an die Oberfläche, längst gehörte Worte, stottert zunächst, sieht Bettinas aufmerksame zufriedene Miene, das gibt ihm Mut und die nächsten Worte holt er mühelos aus seinem Gedächtnis, bringt sie nahezu flüssig über die Lippen. Bettina wiederholt sie andächtig. Junge. Katze. Auto. Baum. Das Staunen der Mutter über Bettinas neue Wörter. Von ihm, dem wortlosen Bruder.
An manchen Tagen fühlt er sich beobachtet, spürt die Augen seiner Mutter forschend in seinem Rücken, versteht nicht den Grund, fühlt sich unbehaglich, ohne zu wissen warum. Dann, am Abend, als Bettina ihm die Arme um den Hals schlingt, er seinen Gute-Nacht-Kuss erhält, da legt auch seine Mutter die Arme um ihn, hält ihn ganz kurz und streicht ihm über den Kopf. Flüstert: Du magst Bettina wohl sehr. Gute Nacht, schlaf gut und träum schön. Ganz warm wird es ihm, eine nie gekannte Freude breitet sich in ihm aus. Noch im Bett spürt er die Umarmung seiner Mutter, kann lange nicht einschlafen, aufgewühlt vor freudiger Erregung.

Auf den weiter entfernteren Wegen zwischen den Gräberreihen waren undeutliche Stimmen zu hören. Fremde Leute näherten sich, Melanie bückte sich rasch und untersuchte ihre Schuhe, als sie sich wieder aufrichtete, waren Karl und Tonne plötzlich verschwunden, nirgends zu entdecken. Neugierig suchte sie nun ebenfalls das Grab, das ihr mehr von Karl verraten würde.
Die blitzende Glasscherbe zeigte es ihr. Gespannt stand sie vor einem schlichten Holzkreuz, versuchte mühsam die Aufschrift zu entziffern, die verschnörkelten Buchstaben sahen so gar nicht aus wie die Buchstaben in ihrem Lesebuch.
„Bettina H.., geb. am …, gest. am…..“ Ein winziges Bild war am Kreuz befestigt und wieder erkannte sie das Mädchen, das ihr so ähnlich sah: Bettina.

Karl kommt heim

Karl öffnete das Gartentor und klingelte lange an der Tür.
„Da bist du ja endlich, wird auch Zeit.“ Kopfschüttelnd warf seine Mutter einen resignierten Blick auf die schmutzigen Schuhe ihres Sohnes, nahm Karl in seiner ganzen Gestalt wahr und wunderte sich immer aufs Neue, da stand Karl vor ihr, ihr verwirrter Sohn, der nicht in saubere Kleidung zu pressen war, so oft sie es auch schon versucht hatte.

 

Erinnerungen der Mutter an Bettina

Die Kleine hatte Karl angehimmelt, war ihm gefolgt seit sie laufen konnte, irgendetwas faszinierte das Mädchen an Karl. Die beiden verstanden sich ohne viele Worte, sprachen ihre eigene Sprache, lebten in ihrer eigenen Welt.
Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie Bettina Karls Aufsicht überließ. Sie musste plötzlich weg.
Karl und Bettina waren in ein Spiel versunken, sie hoffte rasch zurückzukommen, dachte es könne nichts passieren. In ihrer Eile hatte sie vergessen, dass es der Tag der Müllabfuhr war. Müll übte auf Karl eine unerklärliche Faszination aus, Müll zog ihn magnetisch an. Vergessen. Wie konnte sie das vergessen?

Tonne sprang an ihr hoch und wollte gestreichelt werden, erwartete ein Wort zur Begrüßung.
Tonne, wie hatte sie diesen Hund gehasst, heute ist ihr das unvorstellbar. Tonne war wirklich unschuldig, während sie, die mit Verstand begabt war, versagt hatte. Sie und Karl, aber auch Karl war unschuldig. Das große Kind, dessen Gedankengänge niemand nachvollziehen konnte, Karl, der nie erwachsen werden würde, ihn traf keine Schuld, auch wenn sie ihn damals angeschrien hatte in ihrer Verzweiflung, warum er nicht aufgepasst hätte, sollte er ihr sagen.
Karl, der Bettina ebenso verzweifelt gesucht hatte, überall im ganzen Haus, Karl, der sie immer noch sucht, der neuerdings wieder von ihr spricht, von Bettina, seinem Engel, dem er begegnet sei, vor wenigen Tagen erst.

Eines hatte sie erzwungen: Karl musste sich stets umziehen und sich säubern, bevor er sich zu ihnen an den Tisch setzte, zum gemeinsamen Essen. Ihr Mann hatte angerufen, er würde erst viel später kommen, war aufgehalten worden, war ins Krankenhaus gerufen worden.
Schweigend füllte sie Karls Teller mit Bratkartoffeln und Spiegeleiern, stellte die Schüssel mit Salat in seine Reichweite und setzte sich an den Tisch, ihn aufmerksam beobachtend.

Irgendwie schien er ihr verändert. Seit Tagen schon spürte sie diese Veränderung, ohne sie konkret beschreiben zu können. Unruhe hatte sie wieder erfasst, die Nächte wurden zur Qual, Gedanken bedrängten sie unablässig, raubten ihr den Schlaf, führten ihr Bilder vor, die sie längst vergessen glaubte, machten ihr deutlich, wie einsam sie war, obwohl neben ihr die gleichmäßigen Atemzüge ihres Mannes die Nähe eines Menschen verrieten.
Wochenlang litt sie damals unter ihrer Schlaflosigkeit, zwang sich täglich am Morgen aufzustehen, obwohl sie sich zerschlagen fühlte und ganz wirr war im Kopf von all den Gedanken und Bildern, denen sie in der Nacht begegnet ausgesetzt war.
Täglich aufs Neue das Frühstück richten, Karl und ihren Mann versorgen, der die beiden dann allein zurückließ, sie ihrem Schweigen überließ, sich um die Sorgen und Nöte fremder Menschen kümmerte, während sein Sohn und seine Frau gefangen waren in ihren eigenen Nöten.

Karls Tagesablauf

Karls Tagesablauf hatte seine besondere Regelung: Nach dem Frühstück drehte er eine Runde mit Tonne, dabei ging er immer die gleiche Tour: den Weg zum Spielplatz und zurück. Sie wusste, dass er immer seine blaue Tüte dabei hatte, für seine Schätze, wie er die gesammelten Abfälle nannte.
Wieder zurück verschwand er in dem Schuppen hinter dem Haus oder in seinem Zimmer, untersuchte seine Beute und begann sie zu ordnen, nach eigenen Maßstäben, die ihr fremd und merkwürdig erschienen. Er kippte alles auf einen Teppich, der immer mehr Spuren seiner Schätze aufwies, nahm seine Fundsachen prüfend in die Hand, putzte und wischte daran herum, ehe er sie sorgfältig in kleine Schachteln steckte, die sie ihm nach und nach besorgt hatte. Er hatte es auch zugelassen, dass sie gemeinsam die Schachteln bemalten, die er nun an der Wand entlang stapelte.
Heimlich kontrollierte sie inzwischen die Schachteln nachdem Karl einmal eine tote Maus darin versteckt hatte, eingewickelt in gelbes Seidenpapier. Der widerliche Geruch, den das tote Tier verströmte und von dem sie erst nicht wusste, worauf er zurückzuführen war, ließ sie zu Vorsichtsmaßnahmen greifen. Sie sah sich gezwungen dazu, obwohl sie gewiss nicht vorhatte, ihren Sohn auszuspionieren. Aber tote Tiere, das ging zu weit.

Während Karl in seinem Zimmer beschäftigt war, kümmerte sie sich um den Haushalt, sie konnte sicher sein, nicht gestört zu werden.
Zum Mittagessen saßen sie meist gemeinsam am Tisch, Tonne lag unter dem Tisch, stets auf Leckerbissen hoffend, die Karl heimlich fallen ließ, trotz der warnenden Blicke, die ihm sein Vater zuwarf. Schweigen herrschte zwischen den Menschen, zog konzentrische Kreise um die Anwesenden, von denen jeder versunken schien in seine eigene Welt. Das fordernde Bellen des Hundes ließ sie zusammenfahren, brachte sie wieder zurück in ihre gemeinsame Welt. Wie aus einem Traum erwachend blickten sie sich dann verlegen an und versuchten, mit Hilfe von mühsam herausgewürgten Worten die verloren gegangene Nähe wieder herzustellen. Aber sie war nie da gewesen, diese Nähe, die jeder sich ersehnte, konnte deshalb nicht wieder gewonnen werden, müsste erst entstehen, wachsen.
„Bettina“, murmelte Karl. Die Frau und der Mann warfen erschrocken die Köpfe hoch, blickten sich vielsagend an: Es wird doch nicht wieder losgehen, Karls Suche nach Bettina?

Karls Verhalten nach Bettinas Tod (aus der Sicht der Mutter)

Schreiend war Karl durch das Haus gelaufen, hatte in allen Winkeln gesucht, alle Möbel verschoben, das Bettzeug herausgerissen, die Gardinen von den Schienen gezerrt, die Schränke durchwühlt, immer schreiend, „Bettina“, schluchzend, nach Stunden nur noch heiser den Namen flüsternd, bis ihn schließlich ein Arzt mit Hilfe einer Beruhigungsspritze in einen unruhigen Schlaf taumeln ließ.
Und dann auch noch Tonne, das Hundebaby, jammernd, winselnd, hilflos, das am Boden mehr kroch als rannte, überall Pfützen hinterlassend, in die Karl trampelte in seiner Fassungslosigkeit.
Bettina, unser kleiner Sonnenschein, Bettina, die uns verlassen hatte, war ihrem Bruder, den sie so liebte, nachgelaufen. vertrauensvoll.
Karl, um den sie sich stets sorgte, sobald er allein unterwegs war, Karl, der Zerstreute, er hatte überlebt, schien auf seinen Gängen stets zuverlässig von einem Schutzengel beschützt zu werden, Karl ihr Sorgenkind lebte.

Karl wiederholte es noch einmal: „Bettina ist wieder da.“ Diesmal ganz deutlich. Er zog das kleine Bild aus seiner Hosentasche und legte es auf den Küchentisch: „Bettina ist wieder da.“
War das ein Rückfall? Verzweifelt blickten sich der Mann und die Frau an. Mühsam hatten sie versucht, ihm klar zu machen, dass Bettina nicht mehr unter ihnen war. Waren mit ihm auf den Friedhof gegangen, hatten ihm erklärt, dass sie hier ruhte und dass es ihr nun gut ginge. Aber Karl wollte oder konnte das nicht verstehen, begann wie ein Irrer in der Erde zu wühlen, riss Pflanzen heraus, die Leute begannen sich zu beschweren, der Friedhofswärter sprach sie an, mit Rücksicht auf die anderen, die hier ruhten und deren Angehörigen, sie müssten doch verstehen, die wollten nicht in ihrer stillen Andacht gestört werden durch einen der schrie und tobte, auch wenn es ein Ausdruck der Trauer war, aber alles musste doch ruhig, gefasst vor sich gehen. Gewiss, er hätte Verständnis, beteuerte er mehrmals, aber, wie gesagt, die Friedhofbesucher waren da anderer Ansicht, auch wenn es sich um den Sohn des Pfarrers handelte, alles musste seine Ordnung haben. Sie hatte schon verstanden: Karl war ein öffentliches Ärgernis.

Tonne

15 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Depression, Freundschaft, Gewalt, Hund, Leben, Liebe, Schule, Schwester, Tod, Tonne, Verzweiflung

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text  „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Bettina (1)

Kleine, weiche Finger, die vorsichtig einen Bauklotz auf den anderen stapeln, dunkle Augen, die konzentriert die wachsende Höhe des Turmes verfolgen, in Vorfreude aufblitzender Tri-umph: Sie würde Siegerin bleiben, den höchsten Turm bauen, während er durch eine ungeschickte Bewegung seinen Turm polternd zum Einsturz bringen wird, in der Vorfreude auf ihr strahlendes Gesicht, das so stolz sein würde darüber, den großen Bruder besiegt zu haben. Kleine Hände, die vor Freude klatschen. Er kann sich nicht satt sehen an der kleinen Person, die ihm wie ein Wunder erscheint. Alles so klein und doch so perfekt. Er liebt es, sie zu halten, ganz zart, behutsam, um ihr ja nicht weh zu tun, er liebt es, ihre zarte, warme Haut zu spüren, über ihre Hände zu streichen und ganz besonders liebt er es, sie zu trösten, ihre Tränen zum Versiegen zu bringen, die nach einem Sturz über ihre Backen kullern, glasklar wie Perlen. Sie wirft sich in seine Arme, schmiegt ihr Köpfchen mit den wirren Haarsträhnen an seine Schulter, er streicht ihr ganz zart über den bebenden Rücken, der sich unter seinen Händen rasch beruhigt, genießt kurze Zeit die Wärme des kleinen Körpers, spürt das Glück, das sich wie eine warme Welle in ihm ausbreitet, das Glück über das Vertrauen, das sie ihm schutzsuchend ent-gegenbringt. Er, der große Bruder, von vielen verachtet, nicht für voll genommen, über den die Leute reden, sie macht ihn stark und froh. Bettina.
Auch die Mutter verhält sich anders seit Bettina da ist. Sie schaut ihn manchmal ganz seltsam an, als ob sie nicht wisse, was sie von ihm halten solle. Er fühlt es ganz tief innen, sie misstraut ihm noch immer. Er weiß es schon lange, dass sie ihn nicht so lieben kann wie Bettina, nie wird sie ihn so lieben können: so frei und unbeschwert, so zärtlich und sorgsam. Aber Bettina, auch das fühlt er, fühlt es seit sie laufen kann, Bettina vertraut ihm, sucht seine Nähe, braucht ihn als Spielgefährten und Beschützer, ihn den großen Bruder, von dem niemand etwas wissen will.
Bettina, die abends ungestüm ihre Arme um seinen Hals schlingt, ihm einen feuchten Kuss auf die Wange drückt und ihm gute Träume wünscht.

Erste Begegnung auf dem Spielplatz (Melanie, Karl, Tonne)

Schwanzwedelnd kam der Hund auf sie zu und sprang an ihr hoch. Ohne Angst kraulte sie sein struppiges Fell und ließ es zu, dass er ihre Hand beschnupperte, spürte die kühle feuchte Schnauze auf ihrer Haut und war einfach glücklich.
„Tonne“, eine Stimme riss sie aus ihrem Glück und überrascht blickte sie in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. „Tonne, lass das, komm zu mir!“, diesmal klang die Stimme energischer und der Hund gehorchte widerstrebend. Da sah ihn das Mädchen zum ersten Mal, den jungen Mann, der vor ihr stand in auffälliger Kleidung, einen Müllsack in der einen Hand haltend, während er mit der Leine in der anderen Hand aufgeregt herumfuchtelte. „Komisch“, war ihr erster Gedanke.
Sie setzte sich auf eine freie Schaukel, begann sich rhythmisch in die Luft zu schwingen und ließ das seltsame Paar nicht mehr aus den Augen.
Der Mann mit der schmuddeligen, viel zu langen, an den Rändern ausgefransten Hose, begann systematisch im Papierkorb zu wühlen und ließ ab und zu etwas in dem Müllsack verschwin-den, den er anschließend sorgfältig mit einem Stück schmutziger Schnur verschnürte. An seinen bewegten Lippen konnte sie erkennen, dass er ununterbrochen vor sich hinmurmelte. Sprach er mit sich selbst oder mit dem Hund? Sie wusste es nicht. Die beiden waren zu weit von ihr entfernt.
„Tonne.“ Der Hund schien wohl „Tonne“ zu heißen, das klang irgendwie verrückt, aber auch lustig. „Tonne“. Mehrmals kostete sie es aus, diesen Namen auszusprechen, mal laut, mal leise, während der Hund und sein seltsamer Begleiter sich inzwischen vom Spielplatz entfernt hatten. Vielleicht waren sie unterwegs zu weiteren Papierkörben.
In Gedanken versunken schaukelte das Mädchen weiter, genoss das unablässige Auf- und Absteigen und hoffte, den beiden wieder zu begegnen, vor allem dem Hund.

Seit der ersten Begegnung trieb sie sich öfter auf dem Spielplatz herum, immer mit suchenden Augen, immer hoffend auf eine erneute Begegnung. Freunde hatte sie keine, da war es ziemlich egal, wo sie sich aufhielt. Allerdings, bei ihrer Mutter wollte sie nicht sein, zu Hause, das kein wirkliches Zuhause für sie war, sondern eine vergammelte Wohnung, in die sie keine Kinder mitbringen durfte, weil dann Gerüchte entstehen würden, die eigentlich keine waren, da sie ja der Wahrheit entsprachen: Ihre Mutter trank, leise, unauffällig, aber immer häufiger.
Überall entdeckte sie die verborgenen Flaschen, teilweise noch Reste enthaltend, stinkige Reste, die in ihr Ekel und Abscheu erzeugten. Heimlich schaffte sie die Flaschen weg, brachte sie, versteckt in Pappschachteln oder eingewickelt in altes Zeitungspapier, aus dem Haus. Keiner hatte ihr das aufgetragen, niemand hatte ihr verboten, Freunde mitzubringen, einzig ihre Scham verbot das einfach. Sie war sich absolut sicher, dass es nicht gut wäre, jemand in ihr Zuhause, zu ihrer Mutter zu bringen.
Ein Tier wäre da etwas anderes, ein lebendiges Wesen, das schweigen könnte, dem man alles anvertrauen könnte und mit dem man kuscheln könnte. Ein Tier, dachte sie sehnsüchtig, würde mich nicht verraten, sich nicht über mich lustig machen. Als Tier kam für sie nur ein Hund in Frage, aber ihre Mutter war strikt dagegen.
„Tonne“. So ein Hund wie Tonne, das wäre ihr ersehnter Freund. In Gedanken beschäftigte sie sich nun oft mit Tonne, überlegte, was sie alles mit ihm machen könnte, träumte von geheimen Abenteuern. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Zweite Begegnung auf dem Spielplatz ( Melanie, Karl, Tonne)

Nach Wochen erst traf sie den Hund und sein Herrchen wieder, an einem Tag, an dem sie nicht mit den beiden gerechnet hatte. Es nieselte und der Spielplatz war leer, als sie ankam. Minuten später entdeckte sie Tonne, der ihr, die Schnauze tief am Boden haltend, konzentriert schnüffelnd, entgegenkam. „Tonne“, rief sie leise, „Tonne, komm her.“ Sie ließ sich in die Hocke fallen und breitete die Arme aus. Tonne spitzte die Ohren, sprang stürmisch heran und warf sie beinah um, während sie ihn streichelnd festhielt und wie einen alten Freund begrüßte, das Gesicht in sein feuchtes Fell drückte, den bitteren Geruch einatmete.
Sein Begleiter, der junge Mann, der verlottert gekleidet war, kam ebenfalls näher und blickte sie zum ersten Mal aufmerksam an. Sie wich seinem Blick nicht aus, hielt ihm trotzig stand. Plötzlich bemerkte sie ein Aufleuchten in seinem Gesicht, als ob er sie erkannt hätte. „Engel“, murmelte er heiser, „mein Engel ist wieder da.“ Völlig unerwartet trat er auf sie zu und hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest, ganz kurz nur und mit unendlich zarter Geste und trotz-dem stockte ihr der Atem und sie hielt die Luft an, spürte einen Moment lang eine schreckliche Angst in ihrem Körper aufsteigen, die sich als Hilfeschrei lösen wollte. Da sah sie ihm erneut in die Augen, entdeckte dort nichts Böses, entdeckte freudige, ungläubige Überra-schung, Schmerz und Liebe. „Mein Engel“, flüsterte er immer wieder. Ein Gefühl der Beklommenheit ließ sie starr stehen bleiben, abwartend, was weiter geschehen würde. Abrupt wandte er sich wieder von ihr ab, das warme Leuchten auf seinem Gesicht, das ihn so jung erscheinen ließ im Gegensatz zu seinem alt wirkenden Körper, war erloschen. Gleichgültig strebte er wieder auf einen Papierkorb zu und machte sich daran, ihn zu durchwühlen, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken.
Entschlossen näherte sie sich ihm und blickte ebenfalls neugierig in den Papierkorb, beobachtete gespannt, welche Dinge herausgefischt wurden und nach eingehender kritischer Begut-achtung im Müllsack landeten. Glitzernde Abfälle waren das, silberne Kaugummipapiere, Flaschendeckel, Stanniolpapier, Glasscherben.
Sie streichelte den Hund und redete leise mit dem Tier, da begann der Mann erneut sie wahrzunehmen.
Vorsichtig zog er etwas Zerknittertes aus seiner Jackentasche, warf einen langen Blick darauf und reichte ihr zögernd das schmutzige Etwas, das sie als ein kleines Bild erkannte, ein Sterbebild mit aufgedrucktem Foto. Sie nahm es neugierig in die Hand und betrachtete verblüfft das kleine Foto: Ein Mädchen blickte sie aus dunklen Augen aufmerksam an, ein Mädchen, das ihre Zwillingsschwester hätte sein können. Sie versuchte den Namen und die Daten darauf zu lesen. Bettina hieß das Mädchen, war vor vier Jahren gestorben an einem 10. August im Alter von fünf Jahren. Das tote Mädchen wäre jetzt genauso alt wie sie. „Mein Engel“, murmelte der junge Mann entzückt und ganz allmählich begann sie zu begreifen: Der Engel war wohl das junge Mädchen, der Engel hieß Bettina.
Der Mann benahm sich sehr seltsam. Wieder wühlte er in seiner Jackentasche und zerrte einen kleinen Gegenstand heraus, den er liebevoll anblickte und ihr stumm entgegenhielt. Als sie danach greifen wollte, steckt er ihn jedoch schnell wieder zurück in die ausgebeulte Tasche. Aber sie hatte schon erkannt, was er ihr gezeigt hatte: Es war eine winzige Puppe in Form eines Engels. Bettina, der Engel, sein Engel. Wer das wohl gewesen war?
„Ich heiße Melanie, und du?“, fragte sie den jungen Mann. Er reagierte nicht. Sie klopfte sich an die Brust: „Ich – Melanie und du?“, begann sie noch einmal. Endlich begriff er. „Karl“, sagt er, „ich bin Karl.“

Tonne sprang zufrieden um die beiden herum und blickte sie immer wieder abwartend an. Es war neu, dass sein Herrchen mit jemand sprach, der Hund fühlte das sofort.
„Was machst du da?“ wollte Melanie wissen.
Karl wühlte wieder im Müll.
„Schatz“, antwortete er.
„Du suchst einen Schatz?“, bohrte Melanie ungläubig nach.
„Schatz“, wiederholte Karl einsilbig.
„Wer ist Bettina?“,  fragte das Mädchen energisch.
„Engel. Mein Engel im Himmel.“
„Zeig mir Bettina noch einmal. Ich möchte das Bild noch einmal sehen“, forderte das Kind.
Karl hörte mit dem Herumwühlen auf und blickte sie erstaunt an. „Bettina. Zeig mit Bettina noch einmal. Bitte.“
Vorsichtig brachte Karl das kleine Bild erneut zum Vorschein, betrachtete aufmerksam das Foto und Melanie, vergleichend wanderten seine Augen vom Bild zum Kind. Endlich überließ er Melanie das Bild. Sie sah es aufmerksam an, fasziniert von der Ähnlichkeit, fast könnte es ihr Spiegelbild sein. Es erinnerte sie an eines der wenigen Bilder, die es von ihr gab, aufgenommen während sie die Zähne putzte und dabei Grimassen schnitt mit Schaum vor dem Mund.
Wie war das möglich? Diese Bettina sah ihr zum Verwechseln ähnlich.
Ein zarter Finger strich über ihr Gesicht, behutsam, leicht wie eine Feder. „Mein Engel ist wieder da.“
Hier lag eine Verwechslung vor. Sie begriff: auch Karl hatte diese Ähnlichkeit entdeckt, aber sie war nicht Bettina, war kein Engel, nein. Entschieden wandte sie sich ab. Karl schwieg, obwohl sie mehrmals versuchte hatte mit ihm über Bettina zu sprechen. Er zog sich in sich zurück, wirkte unnatürlich, beinahe feindselig und in ihr stieg Beklommenheit hoch. Sie dachte an die Mahnungen ihrer Mutter, der Lehrerin und auch der Kindergärtnerin, die sie immer in den Wind geschlagen hatte. „Geh nicht mit fremden Menschen mit, sie können dir Böses antun.“
Plötzlich tauchten Bilder auf aus dem Fernsehen, aus Zeitungen, vermisste Mädchen, auch Jungen, die tot aufgefunden worden waren, misshandelt, verscharrt, versteckt, zerstückelt. Hatte Karl Bettina umgebracht? Nein, dann gäbe es kein Sterbebild für ihn, oder doch?

Dritte Begegnung: Melanie verfolgt Karl heimlich
Es dämmerte schon, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig zum Abendessen daheim zu sein, falls es eins gab. Nichts war sicher im Zusammenleben mit ihrer Mutter, nur auf eines war Verlass, es gab kein geregeltes Familienleben. Erstaunt lauschte sie oft den Berichten ihrer Mitschülerinnen, wenn sie über ihre Wochenenden berichteten, hörte von Zoobesuchen, Wanderungen, Ausflügen und Treffen mit Freunden. Auch sie wurde immer wieder freundlich aufgefordert, sich am Gespräch, im Stuhlkreis sitzend, zu beteiligen. Verbissen schwieg sie, lehnte jegliche Teilnahme ab. Erst in den letzten Wochen gab sie ihren Widerstand auf, berichtete ebenfalls, allerdings war alles erfunden. Am Abend vorher hatte sie es sich ausgedacht, ja sogar aufgeschrieben, damit sie sich nicht zu oft wiederholte. Es begann ihr sogar Spaß zu machen, zu lügen, ohne dass dies jemand ahnte, oder vielleicht ahnte die Lehrerin doch etwas, die hatte sie so prüfend angeschaut, aber weiter nichts dazu gesagt, was Melanie als stummes Einverständnis auffasste.
Jetzt aber hatte sie wirklich eine Geschichte, aber die würde ihr Geheimnis bleiben. Sie wollte herausfinden, was die Sache mit Bettina auf sich hatte. Sie musste mehr über Karl wissen. Über Karl und Tonne.
Seit der zweiten Begegnung begann sie immer öfter in Gedanken abzuschweifen, dachte immer häufiger über das Sterbebild nach.
Regelmäßig umkreiste sie den Spielplatz, aber Karl und Tonne tauchten nicht auf. Enttäuscht ging sie dann wieder heim oder, wenn sie dazu keine Lust hatte, trieb sie sich in den großen Möbelgeschäften im nahen Gewerbegebiet herum. Da wurde es nie langweilig, stundenlang konnte sie sich dort umsehen, Dinge in die Hand nehmen, Stühle ausprobieren, auf bequemen Sofas sitzen und Leute beobachten.
Am letzten Mittwoch flüchtete sie sich vor dem kalten Regenschauer wieder in das Möbelgeschäft, genoss die Wärme dort. Auf dem Heimweg warf sie prüfende Blicke zu den bis zum Rand gefüllten Papierkörben auf dem Parkplatz. Da entdeckte sie Karl, der gerade seinen blauen Müllsack, der ziemlich voll aussah, sorgfältig verschnürte und sich dann von ihr entfernte, Tonne an seiner Seite. Er hatte sie nicht bemerkt.
Ohne nachzudenken rannte sie den beiden hinterher und plötzlich kam ihr die Idee der heimlichen Verfolgung. So konnte sie vielleicht herausfinden, wo Karl wohnte. Der Gedanke machte sie froh. Karl bewegte sich ziemlich flott, schien jegliches Interesse an Müll verloren zu haben, hatte wohl ein bestimmtes Ziel im Kopf. Immer konzentriert darauf, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren, achtete Melanie nicht auf den Weg und stellte schließlich überrascht fest, dass sie am Friedhof angekommen waren. Hunde waren dort eigentlich verboten, aber Karl kümmerte das nicht. Eilig durchquerte er das Gelände und fand in dem Geflecht der Gräberreihen den richtigen Weg. Endlich. Er blieb stehen. Melanie verbarg sich hinter einem Strauch. Karl öffnete seinen Müllsack und fischte darin herum, zog einen Gegenstand heraus, der kurz aufblitzte, als ihn ein Sonnenstrahl, der unerwartet hinter einer dunklen Wolke hervorbrach, traf und legte ihn auf das Grab. An den bewegten Lippen erkannte sie, dass er wieder vor sich hinmurmelte, ununterbrochen.

Wish you were here – Kapitel 12

19 Dienstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Schule, Tod, Trauer, Unfall

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 12 – Den Gang entlang (letztes Kapitel)

Am Ende des düsteren Ganges sah ich dich wartend stehen. schon ein bisschen ungeduldig. Endlich. Ich durfte die Verantwortung für kurze Zeit abgeben, du warst gekommen, um dein Projekt „Toleranz“ weiterzuführen. Nun wurde ich zum Beobachter.

Die Motivation der Schüler hatte allerdings bereits nachgelassen. Viele fühlten sich gekränkt, weil sie als einzige Klasse unserer Schule, diese Extrabetreuung erhielten. Sie fühlten sich bestärkt darin, die „schlimmste Klasse“ zu sein. Sie wollten nicht länger therapiert werden, brauchten keinen „Seelenklempner“. Vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht schämten sie sich vor den anderen Schülern. Wie die Eltern sich zu unserem Projekt verhielten blieb ungeklärt. Die Kinder wollten es jedenfalls nicht mehr nötig haben, „behandelt“ zu werden.

Alles Vermutungen, die mir jetzt im Nachhinein durchaus denkbar erscheinen. Auch darüber hätte ich gerne noch mit dir geredet. Wish you were here.

Deine letzte Projektstunde fand ohne mich statt. Von meinem Chef erfuhr ich, du wolltest alleine mit den Kindern sein, hattest vor, später bei einer Tasse Kaffee dann noch mit mir über die Klasse sprechen.

Zugegeben, ein wenig enttäuscht war ich zunächst schon. Hatte ich doch gehofft, diesmal wäre endlich Zeit, eine Art Verhaltenstraining durchführen zu können. Endlich Praxis, statt Theorie. 

 „Was erwarten Sie sich eigentlich von Therapien? Versprechen Sie sich nicht zu viel davon.“ Mein Schulleiter

*

Es war mein freier Tag und deine letzte Stunde in dieser Klasse. Über deren Verlauf erfuhr ich nichts, weder von dir noch von meinem Schulleiter. Schließlich fragte ich bei den Kindern nach und Jürgen berichtete mir, dass du die Stunde abgebrochen hattest, weil die Klasse sich unmöglich verhalten hatte. Du warst nach Rücksprache mit dem Schulleiter einfach gegangen. Mein Chef hatte den Unterricht daraufhin übernommen.

Ich war entsetzt. Nichts hatte sich geändert. Die Schüler schwiegen teilnahmslos, niemand sprach den Ablauf dieser Stunde an.

Was damals niemand wusste: Es war deine letzte Stunde, die du an unserer Schule verbracht hattest. Tage darauf kam die schreckliche Nachricht. Motorradunfall, tödlich. Ein Sonntagsausflug ohne Rückkehr.

*

Kurz vor Acht. Ein schwerer Tag begann.

Schon auf dem Gang rannten sie mir entgegen, Michaela, Rita und Barbara, die Gesichter verweint, aufgelöst, ratlos, hilflos und ich spürte wie sich kalt die Angst in mir hoch schlich, die Angst vor dem, was ich gleich erfahren würde, ich wehrte mich innerlich, wollte nicht wissen, was ich schon wusste, meine Ahnung wurde zur grausamen Gewissheit, der verunglückte Motorradfahrer, von dem ich gehört hatte: du warst das gewesen. Gewesen, welch furchtbares Wort, gewesen, wo du doch sein solltest, hier, bei uns sein solltest. Tröstend legte ich den Arm um die fassungslosen Mädchen, verzweifelt hielten wir uns aneinander fest, stumm.

Wie sollte ich der Klasse mitteilen, was passiert war? Einige Schüler hatten es schon gehört, manche fragten nach, ob das auch stimme. Die meisten waren betroffen, nur der „harte Kern“ konnte sich keine Blöße geben und zog die trauernden Kinder ins Lächerliche.

Ich durfte das wohl nicht erwarten, aber ich tat es doch, erwarten, dass alle von deinem plötzlichen Tod berührt wurden, von dem Unbegreiflichen, dem Endgültigen, dass du nie mehr zu uns kommen wirst. Vorbei deine letzte Stunde, die du abbrechen musstest, keine Gelegenheit zur Wiederholung, keine Möglichkeit der Aufarbeitung.

Ich dachte an deine letzte Begegnung, dein letztes Gespräch mit mir und an die Tasse Kaffee, die wir zusammen trinken wollten. Wish you were here.

Wie gerne wäre ich geflüchtet, weit weg an einen verborgenen Platz, um mich der Trauer, die mir die Kehle zusammenschnürte, endlich überlassen zu können, um ungestört die Tränen weinen zu können, die ich gewaltsam zurückdrängte. Aber ich musste bleiben und – wollte ich nicht noch mehr verwundet werden – in eine Maske schlüpfen, die grausame Maske der Gleichgültigkeit. Das Versteckspiel begann.

*

Verstecken

Kann es sein, dass wir uns voreinander verstecken, um nicht verwundbar zu sein?

Können wir nicht mehr zeigen wie wir wirklich sind aus Angst getroffen zu werden?

Schützen wir uns mit Masken, die unsere wahren Gefühle verbergen?

Bauen wir Mauern aus Gleichgültigkeit, Hohn, Spott, Aggression als Schutz vor zu viel  Nähe?

*

Die letzten Tage des Schuljahres mussten noch durchgestanden werden. Für die Erstellung der Zeugnisse verbrachte ich unzählige Stunden vor dem PC, aber ich wusste auch, diese Klasse durfte ich abgeben. Bald.

Ein letztes Mal ließ ich die Gesichter meiner Schüler noch einmal auftauchen vor meinem inneren Auge, versuchte ihnen gerecht zu werden beim Schreiben der Zeugnisbemerkungen, ehe ich sie frei gab, sie los ließ, mich von ihnen verabschiedete.  Letzte Arbeiten, die noch erledigt werden mussten. Schon zählte ich die Tage, die ich noch durchhalten musste.

23. Juli. Da ist es dann passiert, einige Tage vor dem letzten Schultag. Ich verbrachte den Nachmittag in der Schule, mein Fahrrad hatte ich in der Radhalle abgestellt.

Auf dem Heimweg wollte ich unterwegs noch etwas für das Abendessen besorgen, mir eine kleine Belohnung gönnen, einen Blumenstrauß vielleicht? In Gedanken ging ich schon die Einkaufsliste durch, fuhr mit dem Rad schwungvoll über den Randstein des Bürgersteiges, sah mich suchend nach einem freien Platz um, als ich plötzlich wie ein Stein auf dem Boden aufprallte. Ein rasender Schmerz in meinem linken Knöchel trieb mir die Tränen in die Augen, automatisch wischte ich mit meiner Hand über die Augen, schmeckte etwas Salziges und gleichzeitig Süßes in meinem Mund. Verwundert betrachtete ich meine Finger, sie waren blutverschmiert und tränennass. In meinem Gesicht brannte ein höllisches Feuer.

Fremde Menschen beugten sich über mich, redeten beruhigend auf mich ein, riefen den Krankenwagen, der mich ins Krankenhaus brachte.

Stunden später stand ein Polizeibeamter vor meinem Bett, registrierte kurz mitfühlend mein plumpes Gipsbein, den unförmigen Verband in meinem Gesicht. Er lächelte mir aufmunternd zu. „Frau Marau, kaum zu glauben, aber an Ihrem Fahrrad hat jemand mutwillig Schrauben gelockert. Da wollte Ihnen jemand übel mitspielen. Haben Sie einen Verdacht?“

Alles nur Spaß, dachte ich, alles nur Spaß, und ich erzählte von dem mutwilligen Kratzer in meinem Auto, vom Hass einiger Schüler auf mich, von den Böllern im Briefkasten. Namen konnte ich keine nennen.

Aber die Polizei fragte nach, ein Beamter sprach in meiner Klasse mit den Kindern, Zeugen wurden gesucht, viele Schüler wurden befragt. Der Täter würde nie gefunden werden, das war meine Meinung, jetzt hatten sie mich also doch  noch erwischt. 

„Nehmen Sie es nicht persönlich.“ „Ich hasse Sie.“ 

Am letzten Schultag meldete sich völlig überraschend eine Zeugin. Ein Mädchen, das als sehr zurückhaltend bekannt war, das kaum mit anderen sprach, wagte es, eine Aussage zu machen.

„Ich wollte mit meiner Freundin nachmittags  zum Spielplatz. Wir trafen uns um drei Uhr vor der Radhalle. Nur wenige Räder standen da noch drin. Da hörte ich die Stimmen von mehreren Jungs. Sie flüsterten. Das kam mir irgendwie komisch vor. Ich kannte sie vom Sehen. Sie haben mich in der Pause schon oft ausgelacht, die sind ganz gemein. Vor denen fürchtete ich mich. Ich wollte am liebsten gleich verschwinden. Da sah ich, dass sie an dem roten Fahrrad von Frau Marau rummachten. Dann kam meine Freundin und wir sind schnell weggefahren.“ 

*

Nach Tagen bestätigte sich mein nie ausgesprochener Verdacht. Es war Klaus, der Schüler, von dem ich angenommen hatte, dass er mich am meisten hasste. Von der Polizei verhört gab er schließlich zu, Schrauben an meinem Fahrrad gelockert zu haben. Seine Idee war es gewesen, Freunde hatten ihn dabei unterstützt mit dem nötigen Werkzeug. Einer der Beamten fragte ihn nach dem Grund für diese Tat.

Klaus zuckte mit den Schultern und schwieg.

*

Wish you were here (Song)

How I wish, how I wish you were here.

We´re just two lost souls

Swimming in a fish bowl,

Year after year,

Running over the same old ground.

What have we found?

The same old fears.

Wish you were here.

  

Pink Floyd

 

Josef

22 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

≈ 7 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Bruder, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Flucht, Schicksal, Schuld, Tod, Verrat, Verzweiflung, Vorherbestimmung, Zweifel

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Jetzt sind sie beide tot. Endlich kann ich dir schreiben, denn mein Zorn ist verraucht und geblieben ist die Trauer über den Tod unserer Söhne. Du wirst dich fragen, woher mein Zorn kommt. Ich werde dir antworten:
Es war dein Sohn, der mir meinen Sohn entfremdet hat. Plötzlich war ich allein, ohne Hilfe, die ich so nötig hatte. Aber dir ging es ja nicht anders. Auch du warst allein. Ich habe lange nachgedacht und versucht mich in deine Lage zu versetzen. Wie hast du es ertragen können, einen Sohn aufzuziehen, von dem nicht bekannt war, dass du ihn gezeugt hast? Ein Sohn, der dich nicht zum Vorbild nahm. Du sahst ihn aufwachsen, umsorgt von der Liebe deiner Frau. Wie oft haben dich wohl Zweifel geplagt über seine Herkunft? Ein Kuckucksei, das man dir ins Nest gelegt hatte. Wie stark hast du wohl geglaubt an deine Frau? Es gingen vielerlei Gerüchte um, die ein schales Licht auf dich und deine Familie warfen. Es ist bekannt, dass du immer zu deiner Frau und deinem Sohn gehalten hast. Mir und meiner Frau erschien das lange Zeit unerklärlich. Wie waren wir doch stolz auf unseren einzigen Sohn, der neben mir in der Werkstatt stand und mir von klein auf  bei meinem Handwerk zusah, begierig es möglichst schnell zu erlernen, was ihm auch gelang. Wir beide wissen, was es bedeutet für den eigenen Handwerksbetrieb den richtigen Nachfolger zu haben, einen, für den es sich lohnt, die ganze Mühe auf sich zu nehmen,  seine Kräfte zu verschwenden, um dann im Greisenalter von den Früchten der eigenen Arbeit zehren zu können. Ich hatte wohl die besten Aussichten auf ein ruhiges Dasein im Alter mit meinem Sohn als Nachfolger, der sich um unsere Familie kümmern würde. Du aber? Wie man so hörte, fiel dein Sohn ganz aus der Reihe. Er war nicht zum Handwerker bestimmt, weigerte sich die Hände schmutzig zu machen, wollte sich nicht plagen mit schweren Arbeiten und lehnte es ab, in der Hitze seinen Schweiß zu vergießen, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Dein Sohn trieb sich stattdessen in der Gegend herum, hielt kluge Reden und fand sogar einige Anhänger, die dem Faulenzen nicht abgeneigt waren und sich ihm anschlossen zum Ärger derer Familien.
Du bist stumm geblieben, hast einfach mehr gearbeitet, nie ein böses Wort verloren, sagt man. Aber mal ehrlich: Was hast du wirklich gedacht, gefühlt? Von deiner Frau verwöhnt, ohne jede Rücksicht auf dich und dein Alter, in dem die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht, zog dein Sohn frei nach seinem Geschmack herum, sorglos, rücksichtslos. Viele haben sich damals gefragt, hinter vorgehaltener Hand, wie kann Josef, das Familienoberhaupt dieses respektlose Verhalten dulden? Viele zweifelten an deinem Verstand, erwarteten ein strengeres Vorgehen, einen Beweis deiner Autorität dem Sohn und seiner Mutter gegenüber. Die Mutter war vielleicht zu jung, zu jung für dich, Josef und zu jung für dieses schwierige Kind, das schon in frühen  Jahren selbstständige Wege ging.
Hatte dein Sohn Freunde in seinem Alter? War er schon von klein auf ein Rebell? Ich habe ihn erst später kennen gelernt, zu spät. Da hatte ich keinen Einfluss mehr auf meinen Sohn, der doch mein ganzer Stolz war. Kräftig gewachsen, arbeitsam, geschickt und willig, meinen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Ohne Rücksicht auf seine alten Eltern verließ er uns eines Tages. Seine Mutter leidet noch immer unter dem Verlust ihres einzigen Sohnes, der sich von uns abgewandt hatte trotz der Fürsorge, die er von uns erhalten hatte. Sie ist krank und lebt seitdem in einer dunklen Welt ohne Freude und Sinn. Sie hat sich zurückgezogen und hofft in einer Ecke ihres Herzens wohl noch immer auf seine Rückkehr. Ich aber war wütend und traurig zugleich. Du hast deinen Sohn in seiner Entwicklung nicht gebremst, du hast es zugelassen, so aus der Art zu schlagen, hast ihn unterstützt und ihm Freiheiten gewährt, die dir zum Nachteil gereichten und nicht nur dir, auch uns. Und dein  Sohn bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus und Judas Iskariot, der ihn überliefert hat. Unser Sohn schloss sich deinem an und wir, seine Eltern, zählten nicht mehr für ihn. Wir waren nicht die einzigen, die durch deinen Sohn unsere Söhne verloren, aber wir waren die einzigen, die den Tod unseres Sohnes zu beklagen hatten. Geschützt vor ihm waren die Frauen, die Töchter, von denen nur wenige es wagten, mit seiner Gruppe zu gehen. Er verkehrte auch mit den übelsten Kreisen, sank wohl immer tiefer, rief Unverständnis und Abneigung hervor, gab sich mit Menschen ab, die von unserer Gesellschaft ausgestoßen und verachtet wurden. Er legte sich mit den geistigen Führern an, verkündete seine Lehren und begeisterte immer wieder neue Anhänger, die mit ihm zogen und ihre Familien im Stich ließen. Wie hast du dich da wohl gefühlt, Josef? Wie schwer war es zu ertragen, Lästerungen über deinen Sohn zu hören? Ist das nicht … der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus, Jose, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern verächtlich mit den Fingern. Seht, auch sein Sohn ist hier bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Hast du dich innerlich von ihm abgewandt oder konntest du seine Reden verstehen? Und seine Mutter, deine junge Frau, wie konnte sie es ertragen, ihren geliebten Sohn an die Menge zu verlieren? Viele Gerüchte waren im Umlauf. Und er begann sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden und von den Hohenpriestern  und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Das sprach er ganz offen aus. Wir hörten nicht richtig hin, waren zu beschäftigt mit dem Verlust unseres Sohnes. Erst allmählich erkannten wir die Gefahr, in der sie alle schwebten. Dein Sohn entwickelte sich zum Gegner des Regimes und die Geheimpolizei wurde hellhörig. Seine Reden wurden aufgeschrieben, seine Auftritte genau beobachtet und protokolliert. Meine ursprüngliche Wut verwandelte sich in Sorge. Was, wenn mein Sohn im Gefängnis landen würde? Widerstand gegen die Regierung, Mitläufertum, das alles könnte sein Todesurteil bedeuten. Seine Mutter betete Tag und Nacht für ihn, hoffte inständig auf seine Rückkehr und sprach mit keinem anderen mehr. Ich arbeitete und versuchte auf diese Weise meine Sorgen und Ängste zu verdrängen, aber die Leute ließen es nicht zu. Ständig erfuhr ich Neuigkeiten über die Gruppe dieser Aufständischen, der Rebellen, wie sie auch von vielen genannt wurden. Aus meinem Stolz wurde Scham. Auch auf meinen Sohn zeigten nun andere ein Anhänger von Josefs Sohn. Seht, auch er wagt es, seine Eltern im Stich zu lassen. Ich schwieg und verschloss mich den anderen gegenüber.

Nun aber, da beide tot sind, sehe ich vieles anders. Ich habe mit vielen seinen Anhängern gesprochen und mir seine Reden noch einmal durchdacht. Er kündigte sein Ende ganz klar an und mein Sohn spielte dabei eine entscheidende Rolle, ohne sich dieser vorher bewusst zu sein. Ja, ich wage jetzt zu behaupten, mein Sohn war unbedingt notwendig für deinen Sohn, um seine Prophezeiungen wahr werden zu lassen. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert, und sie werden ihn töten. Und wenn er getötet worden ist, wird er nach drei Tagen auferstehen.“ Leider war es eine schmähliche Rolle, die er meinem Sohn zugedacht hatte, aber auch diese musste übernommen werden. Keine leichte Rolle, das wirst du zugeben müssen. Ein Rolle, die ihm einen schlechten Ruf über den Tod hinaus einbringen würde, nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. Er brachte Schande über seine Eltern, die ihm stets Ehrlichkeit und Wahrheitsstreben zu vermitteln suchten. Nun trat unser Sohn als feiger Verräter an die Öffentlichkeit und deinem Sohn, der wohl auch mit dem Tod bezahlen musste, gereichte dies zum nachträglichen Ruhm, wenn man es so sehen will. Sicher, auch für deine Familie war es nicht leicht, seinen Tod anzunehmen, aber er hatte somit seine Ankündigungen erfüllt und galt nicht länger als Lügner. Das mag dir vielleicht Genugtuung bedeuten, aber den Schmerz lindert es sicher nicht. Mir aber bleibt die Schande über meinen Sohn, die nicht mehr zu tilgen sein wird. Und Judas Iskariot, der eine von den Zwölfen, ging zu den Hohepriestern hin, um ihn ihnen zu überliefern. Die aber freuten sich, als sie das hörten, und versprachen, ihm Geld zu geben; und er suchte, wie er bei guter Gelegenheit ihn überliefern könnte.

Du willst wissen, warum ich dir diesen Brief schreibe? Eine Hoffnung, die ich noch habe drängt mich dazu, die Hoffnung, das Licht der Wahrheit auf seinen Tod scheinen zu lassen. Es hängt nun von dir ab, ob du bereit bist, diesen Brief mit meiner Erkenntnis weiter zu verbreiten unter den Anhängern deines Sohnes.

Ich konnte nicht glauben, dass mein Sohn als Verräter in die Geschichte eingehen würde, also wollte ich näheres erfahren und habe Nachforschungen betrieben. Nachdem man ihn tot aufgefunden hatte, hatte man mir seine Kleidungsstücke überbracht. Ich durchwühlte sie immer wieder, in der Hoffnung, wenigstens ein Zeichen, einen Hinweis auf seine Unschuld zu finden, denn nach wie vor war ich davon überzeugt: er hatte nicht aus böser Absicht so gehandelt.

Tatsächlich entdeckte ich, eingenäht in seinen Kleidern ein Stück Leinen, auf dem er seine Not, die ihn zum Verräter werden ließ, geschildert hatte.

„Ich war entsetzt und gleichzeitig wie gebannt. Wie konnte mein Freund und Meister, den ich so schätzte und verehrte, behaupten: Wahrlich, ich sage euch. Einer von euch wird mich überliefern, einer, der mit mir isst. Da begannen wir traurig zu werden und fragten ihn nacheinander: Ich bin es doch nicht? Er aber antwortete: Einer von den Zwölfen, der mit mir die Hand in die Schüssel taucht. Zwar geht der Menschensohn dahin, so wie es von ihm geschrieben steht. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren.

Plötzlich wusste ich es: Jesus meinte mich. Ich starrte sekundenlang auf meine Hand, die neben seiner in die Schüssel tauchte, ich konnte nicht mehr schlucken und auch nicht reden. Ich fiel lautlos aus der Gemeinschaft seiner Jünger und keiner schien es zu bemerken. Selbst Jesus wandte sich von mir ab. Sein Urteil war gesprochen, ich hatte es verstanden, aber ich schrie in meinem Innersten: Nein. Dieser wollte ich nicht sein, von dem gesagt wurde, es wäre besser, er wäre nie geboren. Das machte mein ganzes bisheriges Leben sinnlos, das machte mich zum Verräter,  ja zum Mörder eines Unschuldigen. Diese Last der Schuld wollte ich nicht tragen ein Leben lang. Warum blieben die anderen, die es doch auch vernommen hatten, so gleichgültig? Sie aßen weiter, als wäre nichts geschehen. Doch in diesem Augenblick war mein Schicksal bestimmt worden von dem Menschen, den ich so liebte, dem ich vertraut hatte bis zu dieser Stunde, mit dem ich bei Tische lag, zum letzten Mal, Seite an Seite, stolz darauf, ihm nahe zu sein, näher als den anderen. Was hatte ich verbrochen, um ein Verbrecher werden zu müssen? Warum wählte er gerade mich dazu aus, die Schrift zur Erfüllung zu bringen? Warum? Am liebsten hätte ich geschrien, getobt, ihn geschüttelt um eine Antwort zu erfahren. Aber ich blieb stumm, wie gelähmt und besessen von dem einzigen Gedanken: Es muss eine andere Lösung geben, so kann es nicht sein.
In der Finsternis, an einen Baumstamm gelehnt kam ich wieder zu mir. Was war passiert? Ich sollte Jesus verraten? Nein, dazu war ich nicht bereit. Warum flüchtete Jesus nicht? Noch bot sich günstige Gelegenheit. Er blieb, also musste ich wohl gehen. Flucht in die Einsamkeit. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die uns stark gemacht hatte, den Feinden gegenüber. Kein zurück wäre mehr möglich. Geflohen, um kein Verräter sein zu müssen und doch einer zu sein, der sich geweigert hatte, seinen Auftrag anzunehmen, damit sich Jesu Schicksal erfüllen könne. Um mich nur Dunkelheit, ein Loch, in das ich fiel, unaufhaltsam, immer schneller, atemlos. Nie zuvor war ich so allein gewesen, so verzweifelt. Ich warf mich auf den Boden und flehte zu meinem Gott, er solle mich nicht verlassen, sondern mir einen Weg, einen Ausweg weisen, den ich gehen könnte. Ich raufte mir die Haare und schlug mir Steine vor die Brust, wollte Schmerz fühlen, um aus meiner Erstarrung aufzuwachen.

Da wurde ich grob von fremden Händen gepackt und hochgerissen, der Schein einer Fackel leuchtete mir ins Gesicht und höhnische Stimmen drangen in mein Ohr. Das ist einer von den Zwölfen, haltet ihn fest, er kann uns zu ihm führen. Ich wehrte mich und wollte flüchten, aber es waren zu viele und sie trugen Waffen und meine Angst war zu groß. Die Angst, hier und jetzt sofort sterben zu müssen. Verzeih mir, mein Gott, wenn dies der erflehte Ausweg war, habe ich ihn aus Feigheit nicht angenommen und bin schuldig geworden. Sie drückten mir einen Sack mit 30 Silbermünzen in die Hand, den ich erzürnt wegschleuderte, sie aber hoben ihn erneut auf und banden ihn an meinen Gürtel und mir die Arme auf den Rücken. Nun sollte es also doch geschehen, was mir prophezeit worden war? Sie schoben mich durch die Straßen und verlangten, ich solle sie zu meinem Meister führen. Ich bewegte mich wie in Trance, immer noch auf einen Ausweg hoffend, eine günstige Gelegenheit, ihnen zu entkommen. Wie ein Schlafwandler führte ich sie ziellos durch die kleinen Gassen, um Zeit zu gewinnen, dem Schicksal zu entkommen. Bald bemerkten sie meine Absicht und wurden grober, begannen mich mit ihren Schwertern heftig zu berühren, drängten mich so in die von ihnen gewünschte Richtung. Woher aber wussten sie, wo sich Jesus mit den Jüngern aufhielt? Ahnten sie es, oder wussten sie es? Warum aber musste ich sie dann führen? Brauchten auch sie einen Sündenbock, um ihre Schuld abladen zu können, wohlwissend, dass mit Jesus ein Unschuldiger festgehalten wurde? Wirkten sie als die Besetzer unseres Landes glaubwürdiger, wenn unser Meister von einem aus den eigenen Reihen bloßgestellt werden würde? Hatten sie etwa Angst vor das jüdische Volk zu treten? Befürchteten sie gar einen Aufstand der wütenden Massen und Pilger im Ort?

Ehe ich noch eine Antwort fand, betraten wir den Garten, in dem Jesus sich aufhielt, auch er gepackt von tiefer Angst, auch er in großer Einsamkeit und Verzweiflung, aber er war bereit, sein Schicksal anzunehmen. War auch ich bereit? Und er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: „Schlaft ihr weiter und ruht!“ Es ist  genug. Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überliefert. Steht auf, wir wollen gehen. Siehe, der mich überliefert ist nahe.“ Durchflutet von einem Gefühl unbeschreibbarer Nähe, geistig und körperlich spürbar, trat ich meinen letzten Schritt auf ihn zu. Rabbi,  ein letztes Mal, diesem Gesicht so nahe, ein letztes mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dieses vertraute Gesicht, diese sanften Augen, dieser Mund, der so wunderliche und heilsame Worte sprach. Sollte ich es also sein, der ihn auslieferte? Hatte er es so gewollt? Vielleicht erwies ich ihm einen Dienst, vielleicht befand er mich am stärksten, als seinen Freund, der ihm dazu verhalf, seinen schwierigen Weg zu gehen, damit sich die Schrift erfüllen könne? Konnte ich ihm in dieser Sekunde einen kleinen Beistand bieten? Überwältigt von dieser neuen Erkenntnis trat ich auf ihn zu und küsste ihn, ein Liebeskuss. Ein Abschiedskuss, ein Versöhnungskuss. Täuschte ich mich oder entdeckte ich in seinen Augen ein wohlwollendes Leuchten? Er verzieh mir, er war der einzige, der mich verstanden hatte, nachdem wir uns nach qualvollen Stunden, ausgeschlossen von jeglicher Gemeinschaft wieder trafen. Mehr konnte ich nicht tun. Schon rissen sie ihn mit sich und den Jüngern gebot Jesus Einhalt. Ich aber gepackt von Scham und Schuld jenen gegenüber, die von nichts ahnten, entfloh den Soldaten, die sich nun nicht mehr um mich kümmerten. Ich raste durch die Dunkelheit erneut von Entsetzen gepackt, dem Wahnsinn nahe. Das Säckchen mit den Münzen riss ich von meinem Gürtel, stürzte zu Pilatus und warf es ihm vor die Füße. Er ist unschuldig, schreiend so laut ich konnte. Nehmt mich und lasst ihn laufen. Die Wachen aber lachten, warfen mich hinaus und sprachen. Was kümmerst du uns? Wieder vernahm ich meines Meisters Worte. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren. Ununterbrochen vernahm ich diese Worte, sie ließen mich nicht mehr los. Auch sie mussten sich erfüllen. Ein letzter Schritt noch.

Bevor ich diesen Schritt aus dem Leben gehe, habe ich aufgeschrieben, was mich bewegte, in der Hoffnung, nach meinem Tod, wenigstens einen Menschen zu finden, der für mich betet, damit Gott mir meine Schuld, die er mir bestimmt hatte, vergeben wird.

Versuch einer Erklärung

12 Dienstag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Droge, Drogen, Erinnerung, Erklärung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gedicht, Gefühle, Krankenhaus, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Psychologie, Rauschgift, Rauschmittel, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Tod, Vorstellungen

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Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich hier auf den Stuhl. Ich kann nur leise sprechen, das hat man Ihnen sicher schon gesagt. Sind Sie erstaunt über mein Aussehen? Doch, ich merke es Ihnen deutlich an, nein, versuchen Sie nicht dagegen zu reden. Wahrscheinlich habe ich Sie durch mein Äußeres erschreckt, aber ich habe keinen Spiegel und es interessiert mich auch nicht wie ich aussehe. Wozu auch, mir ist alles so gleichgültig. Am liebsten würde ich schlafen, schlafen, Tag und Nacht und irgendwann möchte ich erwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.

Aber Sie wollen mit mir reden, keine Angst, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Fangen Sie also an, ehe ich zu müde werde.

Sie wollen wissen, ob es Absicht war, was sich an jenem Abend ereignet hat? Darauf kann ich keine Antwort geben, noch nicht, denn ich bin mir selbst darüber nicht im Klaren. Vielleicht interessiert es Sie, mehr über diesen Tag zu erfahren, Sie könnten sich dann selbst Ihre Meinung bilden. Ja? Es ist eigenartig, aber irgendwie vertraue ich Ihnen. Bei allen anderen habe ich mich geweigert darüber zu sprechen. Aber ich spüre, dass ich endlich reden muss, um nicht daran zu ersticken. Bitte hören Sie nur zu und geben Sie keine Kommentare ab, schreiben Sie auch nichts mit, sonst könnte ich nicht sprechen. Sie sind einverstanden? Gut. Ich nehme an, man hat Ihnen schon eine Menge über mich erzählt und Sie haben eine gewisse Vorstellung von mir. Sicher wissen Sie noch nicht wie ich ihn kennen gelernt habe.

Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Hosengeschäft, probeweise. Was ich später machen sollte, wusste ich damals nicht. Meine Eltern erwarteten, dass ich mich um eine gute Ausbildung bemühen werde, aber ich wollte mir dazu Zeit lassen. Kurz vor Ladenschluss sah ich ihn zum ersten Mal. Mein erster Eindruck? Ich hielt ihn für eingebildet, gut aussehend, ja, aber zu arrogant. Er sah sich im Laden um, betont lässig, ohne etwas zu kaufen. Wenige Tage darauf, stand er wieder im Laden und wollte von mir beraten werden. Ich versuchte, ihn so freundlich wie die anderen Kunden auch zu behandeln. Er fand nichts Passendes. Eine Woche lang erschien er jeden Tag und allmählich schwand mein innerer Widerstand und ich willigte ein, eines Abends, mich mit ihm zu treffen. Ich war fest entschlossen, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Abwarten wollte ich, wie er sich verhalten würde. Aber schneller als erwartet hatte er mich von sich überzeugt. Da fällt mir ein wie er mir eine Rose schenkte, die er zuvor hastig von einem blühenden Strauch abgerissen hatte, zufällig hatte ich ihn dabei beobachtet. Verlegen lächelnd schleuderte er die Rose über den Ladentisch in meine Hände. Überrascht hielt ich die zarte Blüte fest und atmete ihren zarten Duft ein, glücklich. Jetzt denke ich, vielleicht war alles Berechnung und ich war zu leichtgläubig. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich von ihm abgestoßen fühlte, von seiner kalten Sprache, seiner Verachtung anderen gegenüber. Nach und nach erfuhr ich mehr von ihm und begann langsam zu begreifen, ein bisschen wenigstens wie er so geworden war.

Ich wohnte noch bei meinen Eltern und er bei seiner alleinstehenden Mutter. Wo also konnten wir uns treffen außer in Cafes und später dann in üblen Kneipen, in denen er mit abstoßenden Leuten bekannt war, denen ich zunächst am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Immer wieder überfiel mich Furcht vor meinem eigenen Verhalten. Wie konnte es geschehen, dass ich innerhalb kürzester Zeit in Kneipen verkehrte, in die ich mich vorher nie gewagt hätte? Ich verstand mich selbst nicht. Meine Eltern hatten wohl auch Angst vor meiner Veränderung. Sie drängten mich, diese unglückliche Freundschaft wie sie es nannten, aufzugeben. Aber da war es schon zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück, obwohl ich es damals gerne gewollt hätte.

Ob ich wusste, dass er verheiratet gewesen war? Ja, irgendwann hatte er darüber geredet, nicht viel, aber ich spürte, das hatte er nicht verkraftet, dass seine Frau die Scheidung gewollt hatte. Nein, Gründe nannte er mir nicht. Sie scheinen darüber mehr zu wissen als ich? Sie schweigen. Mir wurde selbst bald klar, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Sie musste es tun, um sich zu retten, sonst wäre es ihr ergangen wie mir. Sie verstehen nicht, wie ich das meine? Seit er arbeitslos war, hatte er angefangen erste Erfahrungen mit Drogen zu machen und wie es dann weiterging, haben Sie sicher schon lange in Erfahrung gebracht, nehme ich an. Nein? Er konnte bald nicht mehr ohne Drogen leben. Er träumte davon, sich große Mengen zu beschaffen, um möglichst lange in seiner neu entdeckten Welt leben zu können, frei von aller Verantwortung und den Erwartungen der Gesellschaft. Sein Ziel war, tun und lassen zu können, was er wollte und wann er es wollte.

Sie meinen, das sei die Welt eines Kleinkindes. Ja, gerade das dachte ich auch manchmal. Die Droge als Schnuller sozusagen, der pure Zufriedenheit und Lustgewinn garantierte sobald ihn das Baby im Mund hatte. Flucht nach rückwärts, um sich allen Anforderungen zu entziehen.

Aber er war kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen, trotz seiner herausgeputzten Männlichkeit, die er gerne zur Schau stellte durch seine auffällige Kleidung, mit denen er seine Muskeln betonte. Hinter seinem unnahbaren Verhalten verbarg sich, gut getarnt, einsame Schwäche.

Bis heute verstehe ich nicht wie es passieren konnte, dass auch ich Erfahrungen mit Rauschgift machte. Lange habe ich mich geweigert, hartnäckig. Ich könnte auch ohne dieses Zeug leben, habe ich verzweifelt geschrien, wenn er immer wieder darauf bestand, dass ich mit ihm in seine verrückte Welt flüchten sollte, um dort frei zu sein. An Trennung dachte ich oft in dieser Zeit. Längst war ich abhängig von ihm und bald würde ich es auch von Drogen sein. Was also hinderte mich an einer endgültigen Trennung von ihm? Angst, ich hatte einfach Angst vor dem Alleinsein. Irgendwie hoffte ich wohl  immer noch durch meine Zuneigung einen gewissen Einfluss auf sein Leben, das in eine Sackgasse geraten war, nehmen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung wie aussichtslos es war, ihn aus dieser Sackgasse zurückholen zu wollen. Allein, ohne fremde Hilfe wäre das unmöglich gewesen, teilten mir die Ärzte später mit.

Wie ich es empfunden habe, abhängig von Drogen zu sein? Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht wie die Fahrt mit einem Ballon. Man hebt lautlos und langsam ab, lässt alles Unangenehme wie Ballast unter sich. Mit dem unaufhörlichen Höhersteigen verkleinern sich automatisch alle Probleme, werden beinahe unsichtbar. Die Landung erfolgt dagegen oft sehr unsanft. Du wachst auf und alles ist wieder sichtbar, deutlicher und erdrückender als zuvor. Unlösbar all deine Probleme und du hast nur den einzigen Wunsch, wieder zu starten, um abzuheben, höher als beim letzten Mal.

Die Zeit drängt, ich weiß. Warten Sie noch ein bisschen, bitte. Sie sind wirklich nicht ungeduldig? Ich glaube Ihnen. Alle anderen, die kamen, um mich zu befragen, hatten keine Geduld mit mir. Da hatte ich beschlossen, mich nicht ansprechbar zu zeigen. Regungslos, schweigend lag ich im Bett, ohne sie zu beachten.

Verärgert mussten sie schließlich wieder gehen. Tagelang versuchten sie, mir eine Antwort zu entlocken, aber ich weigerte mich. Eine Schwester, die echte Anteilnahme an mir zeigte, kam mir dabei zu Hilfe. Stets betrat sie wenige Minuten nach dem Besuch der Herren, zwei in Uni­form und zwei in Zivil, das Zimmer, um an meiner Infusion eine Änderung vorzunehmen und so einen Grund zu finden, die strengen Herren zu verabschieden und sie auf die nächsten Tage zu vertrösten.

Ich bin froh, dass heute Sie gekommen sind. Wer kam auf die Idee, die Polizei aus dem Spiel zu lassen? Die freundliche Schwester? Ja, das habe ich fast vermutet. Aber zurück zu Ihrer Frage. Absicht oder nicht? Hören Sie bitte weiter zu.

An jenem Tag genossen wir mit Freunden das herrliche Wetter und die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende. Schon am frühen Nachmittag lagerten wir an einem See. Wir grillten, tranken, badeten und waren sehr ausgelassen, zum Ärger der anderen Bade­gäste, die mit Unverständnis darauf reagierten und uns empört beschimpften. An diesem Tag hatte ich den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Heute noch, nur heute noch mache ich mit, dann werde ich ihm mitteilen, dass ich aussteigen werde aus diesem Milieu und auch aus unserer Beziehung. Aussteigen wie aus einem parkenden Auto, Tür auf, danke fürs Mitnehmen, die Fahrt war angenehm, aber ich muss nun in eine andere Richtung, Tür zu. Auf Wiedersehen. So wollte ich es machen. Nächtelang hatte ich gegrübelt und mit mir verzweifelt gekämpft. Letzte Chance, sagte ich mir und dachte dabei an seine geschiedene Frau, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, abzuspringen.

Wie gesagt, die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen. Ich versuchte, ein letztes Mal noch unbeschwert dabei zu sein. Am Abend war ich mit ihm allein, in seinem Zimmer. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, auszusteigen, ihm die Wahrheit zu sagen, ehrlich und schonungslos. Minute um Minute zögerte ich. Es lag vielleicht daran, dass er unerwartet seine harte Schale ablegte und ich ihm näher war als je zuvor. Er erinnerte mich an eine Zwiebel. Entfernt man ihre Schalen, eine nach der anderen, rückt man dem Herzen näher, aber immer leichter muss man dabei weinen. So empfand ich sein Entblättern, gefühlsmäßig meine ich, wenn Sie das verstehen können. Deutlich spürte ich, dass seine Arroganz verschwunden war und ich mich seinem Innersten näherte. Seine überraschende Zärtlichkeit verwirrte mich. Warum war er vorher selten so gewesen? Er hielt mich fest, aber sanft und ich legte meinen Kopf an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein, spürte seine Hand warm auf meinem Haar, fühlte mich geborgen. Ich brachte es nicht fertig, ihm meinen Entschluss mitzuteilen und so stieg ich nicht aus, denn ich saß im fahrenden Auto und wagte nicht, die Tür zu öffnen und mich hinausfallen zu lassen. Hätte ich es getan, wenigstens versucht. Vielleicht hätte er das Auto, Sie ahnen, was ich damit meine, angehalten, um mich aussteigen zu lassen, gefahrlos.

Diesen letzten Abend, von dem ich noch nicht wusste, dass es sein letzter werden würde, wollte ich also nicht verderben und schob die Aussprache mit ihm auf.

Er, der immer der Starke war, wirkte auf einmal so liebesbedürftig, brachte mich immer wieder ins Schwanken. Er hätte wunderbare Tabletten von seinem Freund, schwärmte er mir vor. Mit deren Hilfe könnten wir beide ein unvorstellbares Erlebnis in einer Phan­tasiewelt haben. Nein, sagte ich wiederholt. Zum Schluss aber trank ich gleichzeitig mit ihm das Glas Cola mit den aufgelösten Tabletten. Ach, es war ein verrückter Abend.

Aus dem Radio tönte leise Musik und wir ließen uns auf sein Bett sinken, eng aneinan­dergeschmiegt. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme seiner nackten Haut auf meiner Haut und begann langsam in einen Schlaf zu fallen, traumlos, aber unendlich tief, immer tiefer und tiefer, ohne je irgendwo anzukommen. Wie lange dieses Fallen in eine künstlich erzeugte Welt dauerte, ich habe keine Ahnung. Aber der Aufschlag kam, grausam hart.

Als ich erwachte, war ich geblendet von der unerwarteten Helligkeit. Weißgekleidete Gestalten umgaben mich mit besorgten Gesichtern. Meine Hand suchte ihn, aber sein warmer Körper war nicht neben mir, er war schon lange kalt, aber noch wusste ich es nicht. Ich wollte fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte. Nur allmählich konnte ich klare Gedanken fassen, auftauchen aus diesen Nebeln von Ahnungen, die mich umgaben und zur Unfähigkeit verdammten. Von weit her drangen beruhigende Worte und eine schmerzende Müdigkeit überfiel mich anfallsartig. Stunden später sprachen sie mit mir, erklärten, sie hätten meinen Magen auspumpen müssen, um mich zu retten. Retten wozu und vor was? Diese Frage quälte mich ständig. Aber die Ärzte hatten ihre Pflicht getan, mir das Leben gerettet und nun ließen sie mich allein mit der verdammten Erkenntnis, dass es ihn nicht mehr gab, nie mehr geben würde. Ob man mir gleich die Wahrheit gesagt hat? Nein, natürlich nicht, erst nach Tagen, als sie glaubten, ich könne sie schon verkraften. Sie versuchten mir in zunächst unverständlichen Worten beizubringen, dass sie auch bei ihm alles versucht hätten, aber zu spät gekommen seien. Es dauerte lange, bis ich begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten. Oft denke ich, bis heute habe ich sie nicht richtig verstanden. Gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen. Aber man erzählte mir, ich sei tagelang immer wieder in Bewusstlosigkeit gefallen und daher nicht sei es nicht möglich gewesen.

Sie schweigen. Habe ich genug gesagt? Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich wundern über mich. Vermutlich denken Sie, ich sei abgestumpft. Aber nein, das darf ich von Ihnen nicht behaupten, ich weiß. Sie meinen, ich sei verzweifelt und leide unter Selbst­vorwürfen. Das hat noch keiner vor Ihnen gedacht, vielleicht haben Sie recht. Irgendetwas in mir ist gestorben, mit ihm, ein wichtiger Teil in mir ist tot, gefühllos. Ich spüre meinen Magen, der sich verkrampft, spüre meinen Kopf, der schmerzt, aber mein Herz spüre ich nicht, nicht mehr. Das macht mir Angst vor dem Weiterleben, nicht tot und nicht lebendig. Die Ärzte nennen meinen Zustand „Schock“ und meinen, es werde bald wieder aufwärts gehen mit mir. Sie nicken zustimmend. Glauben Sie den Ärzten? Ja, vielleicht macht es ein wenig Hoffnung, die Aussicht auf Besserung.

Darf ich Ihnen zum Schluss noch ein paar Fragen stellen? Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm meinen Entschluss an jenem Abend mitgeteilt hätte? Wissen Sie, darüber denke ich stundenlang nach. Hätte ich das Unglück dadurch verhindern können? Und nun zurück zu Ihrer Frage, die auch meine ist, war es Absicht?

Wir beide können keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten, keine einzige. Sie haben recht, es ist sinnlos, darauf Energie zu verschwenden. Sinnlos, so sinnlos wie mein Leben mir jetzt erscheint. Sie sagen nein? Darüber müssen wir uns noch unter­halten, aber nicht sofort, denn ich spüre wie mich diese Müdigkeit wieder überfällt. Was ich mir wünsche, wollen Sie wissen. Ich habe nur einen Wunsch. Weinen, um wieder ganz lebendig zu werden. Weinen war mir unmöglich seit ich hier aufgewacht bin, gerettet sozusagen. Ich sehne mich danach zu weinen wie ein Kind, hemmungslos. Ein dummer Wunsch, nicht wahr? Nein, Sie lächeln zum ersten Mal. Was ist wohl wichtiger zu weinen oder zu lachen? Beides. Nun müssen Sie gehen, ich weiß. Vielen Dank für das Taschentuch, aber warum legen Sie es auf mein Bett? Weil ich weine, sagen Sie.

Beinah

08 Freitag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Beinah, Erinnerung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer, Vorstellungen

Beinah_small

Gestern hielt ich den Hörer schon in der Hand, hatte dein Bild schon vor meinen Augen, deine Stimme im Ohr, da fiel mein Blick auf das abgegriffene zerknitterte Stückchen Papier mit deiner Adresse, da wusste ich es wieder, du warst  längst nicht mehr zu erreichen. Wie hatte ich es vergessen können? Einem Wolkenbruch gleich überströmten mich Gedanken, die so oft gedacht, irgendwo abgelegt, stets griffbereit waren. Dein Bild stand klar vor mir, zersprühend in viele Einzelbilder, jedes von besonderer Bedeutung für mich, habe ich doch nur diese Bilder von dir. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe sie geordnet, jedes hat seinen eigenen Wert für mich. Jetzt wirst du laut lachen, wie gerne würde ich dich hören, aber ich kenne deine neue Adresse nicht.

Mein Lieblingsbild hättest du wohl gerne gewusst? Du sitzt  in einem Garten, in dem es wuchert und wächst, grün und lebendig, angehaucht schon vom Modergeruch des Herbstes, du sitzt auf einem wackligen Stuhl unter dem grünen Dach von Bäumen durch dessen lecke Stellen das Sonnenlicht warm herabtropft. Das Buch, das du damals gelesen hast, kenne ich inzwischen auch, aber es blieb uns nicht genügend Zeit, darüber zu reden. Es blieb überhaupt wenig Zeit. Irgendwo sind wir uns begegnet, an einer Wegkreuzung. Keine von uns ahnte, wo die andere herkam, wohin sie wollte. Ein kleines Stück gingen wir gemeinsam, so zufällig eben, wie zwei sich treffen, die den gleichen Weg haben, ein kurzes Stück weit. Nur wenig Annäherung war möglich,  eine gewisse Fremdheit blieb, Verlegenheit oder Unsicherheit. Obwohl ich schon dachte, ich hätte dich aus den Augen verloren, tauchtest du immer wieder auf, gingst neben mir, wurdest jedes Mal vertrauter, lebendiger.

Da gibt es noch ein Sommerbild von dir. Beim Baden traf ich dich, wie du der Hitze ausgewichen bist und dich unter den Schatten der Bäume gesetzt hattest, ein weißer Fleck warst du, sommerhell leuchtete dein langes Kleid. Wieder hattest du ein Buch in der Hand, als du grüßend die Hand gehoben hast. Gerne wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich zu dir gesetzt, wagte es aber nicht.

Erinnerst du dich an die Steine, die wir ein anderes Mal so ganz nebenbei, am Wasser sitzend aus unseren Händen fallen ließen, spielerisch? Du erzähltest von dir, und ich bemerkte mit heimlicher Genugtuung, dass zwei unserer Steine dicht nebeneinander ins Wasser getaucht waren, und die sich weich ausbreitenden Kreiswellen sich unablässig näherten und sich für Momente überschnitten, weit in den Bereich des anderen vorstoßend. Du hattest es auch bemerkt und kurz schauten wir uns an, ehe du, den nächsten Stein schon in der Hand rollend, weiter erzähltest.

Wir kamen uns näher mit jeder Begegnung. Du bist viele Wege vor mir gegangen, bittere und unbequeme, aber auch Wege, die dir Mut gaben, nicht stehen­ zu bleiben. Du hast nicht nur die einfachsten Wege gewählt, nicht die kürzesten. Den Hindernissen bist du nicht ausgewichen, du hast dich ihnen gestellt, wurdest dabei auch verletzt. Allmählich  erst wurde mir klar, wie tief die Wunden waren, die man dir geschlagen hat. Einziger Schutz für dich: verstecken, verbergen. Die Maske, die den anderen nichts von dir verrät, dein Lachen, laut, unbekümmert mit einer winzigen Nuance Verzweiflung, manchmal. Du lebst so wie ich es mir oft wünschte, ein altes Haus, verträumter Garten, in allem ein bisschen anders. Aber ich spürte: irgendwie warst du nicht so zufrieden, wie ich es mir erhofft hätte an deiner Stelle. Heute ist mir klar, dass es wohl unmöglich ist, sich in gesicherter Situation, in deine Lage zu versetzen. Und du, du wolltest nicht, dass ich bemerkte, wie deine Existenz manchmal wirklich bedroht war, unsicher fast immer. Du kämpftest ja gerade um eine Entscheidung für die Zukunft: Sollte dein Studium tatsächlich umsonst gewesen sein? All die Zeit und Energie, die du dafür aufgebracht hast, vergebens? Du hattest zu dieser Zeit wenig Gelegenheit zum Lachen, und trotzdem hast du gelacht, laut wie so oft.

Ich habe dich damals bewundert. Du hast dich entschieden gegen die Meinung so vieler, du hast für dich entschieden, mutig auf mögliche Sicherheiten verzichtend. Du warst bereit, unbekannte Wege zu gehen, dich auf Neues einzulassen, um deinen Lebensunterhalt sichern zu können. Du brauchtest einen langen Atem, erst in einigen Jahren würde dein Ziel erreicht sein, auch das wusstest du.

Lange habe ich überlegt, wie ich entschieden hätte, letztlich vielleicht doch mehr für die sofortige Sicherheit, das heißt auch gleichzeitig für Langeweile, Monotonie. Dein Leben erschien mir aufregender, lebendiger, bunter als meines. Neben dir wirkte ich fad und farblos. Wer war ich schon? Sicherer Beruf, alles bisher geradlinig verlaufen, einfache saubere Wege gegangen, alles geregelt, gesichert und doch – glücklich nicht, aber wer ist schon glücklich? Ich hätte zu gerne gewusst, was du von mir dachtest, aber um ehrliche Antworten auf solche Fragen zu bekommen waren wir noch zu weit entfernt voneinander. Spürte ich doch manchmal den Abstand sich verringern, ein winziger Schritt hätte genügt, und wir wären uns nah gewesen. Doch die Zeit rannte uns davon und wir durften diesen einen Schritt nicht tun, der mir so viel bedeutet hätte.

Ein letztes Bild habe ich noch von dir, eines von deinem letzten Fest. Wir wollten uns in zwei Wochen wiedersehen, dir ging es gut, ich fühlte es und war froh mit dir. Wir trafen uns früher, unbeabsichtigt, und ob du mich noch sehen konntest unter all jenen, die gekommen waren, um dir Lebewohl zu sagen, ich weiß es nicht. Wieder bist du einen unbequemen Weg vor mir gegangen, wieder anders als andere, mitten aus einem Fest heraus. Wie sehr hoffe ich, dass du wenigstens glücklich warst, ehe du so plötzlich und vollkommen unerwartet den Weg aus dem Leben gingst, ihn unfreiwillig gehen musstest, ungefragt.

Ich weiß nicht mehr, welchem Zufall  ich es verdanke, dass wir uns begegnet sind, aber noch fühle ich deine Nähe in gewissen Augenblicken, an bestimmten Orten, die für immer die Rahmen für dein Bild sein werden. Noch heute würde ich dich am liebsten anrufen, um deine Stimme noch einmal zu hören. Vergeblich: Kein Anschluss mehr möglich. Aber  was ich dir in stummen Selbstgesprächen  berichte, –  du  weißt es, davon bin ich überzeugt.

Abschied

03 Sonntag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer

Abschied_small

Die Krankenschwestern hatten sich in das Stationszimmer zurückgezogen und saßen gerade beim Frühstück. Bitte nur in dringenden Fällen stören! las ich auf dem Schild, das an der Tür hing. War ich ein dringender Fall? Davon war ich fest überzeugt, trotzdem lag mir die Angst im Magen und am liebsten hätte ich eine Toilette aufgesucht, als ich spürte wie sich diese Angst in meinem Unterleib ausbreitete. Es musste sein, dass ich klopfte und ich überwand meine Hemmung zu stören und öffnete die Tür, einen spaltbreit nur.

Eine der Schwestern erhob sich sofort und kam auf mich zu. Höflich fragte sie mich, was ich wollte. Meine Stimme zitterte, als ich ihr meinen Wunsch mitteilte, aber ich war fest entschlossen, mich nicht abweisen zu lassen.

Sie schaute mich prüfend an und sagte, dass gerade eben Besucher hier gewesen wären. Eben deshalb, schoss es mir durch den Kopf, deshalb durfte ich jetzt nicht umkehren. Ich hatte meiner Familie versprochen zu kommen und nun war ich hier, verspätet zwar, aber entschlossen zu bleiben.

Ich entschuldigte mich dafür, dass ihre Pause nun zum zweitenmal unterbrochen wurde. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, mich ständig zu entschuldigen, obwohl oft kein Grund dazu vorlag. Die Schwester war noch sehr jung und sie strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die mich ein bisschen tröstete und meine Sympathie für diese Schwester weckte. Sie nickte, holte sich einen dicken Schlüsselbund und forderte mich auf, ihr zu folgen. Schweigend betraten wir den Aufzug, der tief in den Keller führte. Mich fröstelte. Unheimlich ruhig war hier alles, kein Mensch außer der Schwester und mir. Mein Bauch schmerzte unangenehm. Verdammte Angst klammerte sich darin fest. Endlich blieb die Schwester vor einer Tür stehen, schloss auf und bat mich vorher noch zu warten, einen Augenblick nur. Gleich ist es soweit, meine Gedanken schweiften ab. Ich kannte diese Reaktion schon lange. Wenn ich Angst hatte, versuchte ich mich abzulenken. Mich störte es sehr, dass die Schwester dabei war. Ich wäre gerne allein gewesen, ganz allein, nur du und ich. Die Schwester gab die Tür frei und deutete auf das erste Bett. Mit schwachen Beinen trat ich in einen Raum, in dem ungefähr fünfzehn Betten, abgedeckt mit weißen Tüchern, standen. Blitzartig wurde mir klar, dass unter jedem Tuch ein Toter lag, jung oder alt, Mann oder Frau, ich wusste es nicht. Nein, ich durfte mich nicht ablenken lassen, ich musste zu dir.

Da lagst du nun, aufgedeckt und fast so weiß wie das Tuch, mit dem man dich bedeckte. Nicht zudeckte, nein, unter dem man dich versteckte wie all die anderen hier, die dir stumm Gesellschaft leisteten.

Beinahe hätte ich dich nicht erkannt. So fremd warst du plötzlich, das konnte ich nicht verstehen. Aber dein rechtes Auge war nicht ganz geschlossen, wie durch einen winzigen Spalt blinzelte es mir zu. Daran habe ich dich sicher wiedererkannt, dein blinzelndes Auge war mir vertraut. Deine Hände, die mir so viele Male in Kindertagen Wärme und Trost schenkten, waren nun gefaltet und nie mehr werde ich sie spüren können. Ohne Rosenkranz lagst du da, hattest nichts was dir Trost geben könnte. Die Schwester hatte gemeint, ich sollte dich erst anschauen, wenn du „hergerichtet“ wärst, dann wäre es für mich angenehmer. Aber ich wollte dich doch sehen, so wie du warst, wie ich dich kannte, schon als kleines Kind. Besonders hergerichtet warst du nie.

Als ich selbst vor Jahren im Krankenhaus lag, hattest du mir eine Rose geschenkt aus deinem Garten und ich erinnerte mich jetzt ganz deutlich daran. Diese duftende Rose von damals hätte ich dir gerne in die Hand  gegeben oder wenigstens einen Rosenkranz, aber nichts hatte ich, mit leeren Händen stand ich vor dir und hatte Angst von der Schwester beobachtet zu werden oder in ein Weinen auszubrechen, das kein Ende finden würde. Nur berühren konnte ich dich ein letztes Mal und mir deinen Anblick einprägen, um ihn nie wieder zu vergessen.

Als kleines Kind fragte ich dich, was den Menschen passieren wird, die gestorben sind. Ruhig und überzeugt erklärtest du mir, dass wir uns alle im Himmel wiedersehen würden. Ich glaubte dir sofort und lange Zeit. Und jetzt, werden wir uns wiedersehen? Wer tröstet mich nun? Und wer hat dich getröstet in deiner letzten Minute. Ich war entsetzt, dass ich nicht gespürt hatte wie nahe deine letzte Minute war. Das musst du mir glauben, denn hätte ich es geahnt, ich hätte dich nicht allein gelassen.

Die Schwester wartete schweigend auf dem Flur, da riss ich mich los und verließ den Raum. Sorgfältig deckte sie dich wieder zu, verschloss die Tür und begleitete mich zum Aufzug. Sie hieß Helga und ich konnte mir vorstellen, dass sie dir auch gefallen hätte. Bevor ich den Aufzug verließ, bedankte ich mich und trat wie benommen ins Freie. Draußen blühten Rosen, dunkelrot und duftend, Rosen für dich. Ich spürte die Sonnenwärme auf meiner Haut und wusste, es war Sommer, dein letzter, und du warst tot.

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