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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

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Schlagwort-Archiv: Sozialpädagoge

Wish you were here – Kapitel 11

18 Montag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Mütter, Mutter, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 11 – Schülerportraits

Jürgen, der beliebteste Schüler. Ein stiller, schüchterner Junge, der nie unangenehm auffiel, regelmäßig seine Hausaufgaben machte, sich im Unterricht zurückhielt und meist erst zum Sprechen ermuntert werden musste. Seine besten Freunde befanden sich nicht in der Klasse, aber er kam mit allen gut aus und zeigte sich verträglich. Seltsamerweise gehörte er nicht zu den Opfern. Er wurde respektiert und wohl kaum belästigt.

Allerdings, ich erfuhr es erst in einer deiner Toleranz-Stunden, war es wegen eines beschädigten Federmäppchens zwischen ihm und seinem Nachbarn Florian, der ebenfalls ein ruhiger Typ war, zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen.

Korbinian, ein sehr lebhafter, bestimmender Schüler, hatte sich eingemischt und darauf bestanden, dass die beiden sich bekämpfen mussten, während einige andere Schüler einen Ring um sie herum gebildeten hatten, den sie nicht verlassen durften.

Ich war entsetzt, als ich davon erfuhr, vor allem, weil es nicht bemerkt worden war. Der Kampf hatte in der Pause stattfinden können, weil keiner eingegriffen hatte, weder Pausenaufsicht noch andere Schüler.

Jürgen und Florian war es sichtlich peinlich, dass dieser Kampf angesprochen wurde, während die anderen Beteiligten eher stolz darauf waren, dass es ihnen gelungen war, zwei friedliche Schüler auf Befehl in eine Schlägerei zu verwickeln. Sie hatten die Rächer gespielt, ungefragt und von den beiden auch unerwünscht. Die Rolle der Rächer erlaubte einigen Gewalt auszuüben für einen – in ihren Augen – „guten Zweck“. Das Federmäppchen war so allerdings weiterhin kaputt geblieben, zwei ehemals befreundete Jungen waren, ohne es wirklich zu wollen, aufeinander losgegangen und hatten sich Schmerzen zugefügt, um den beschämenden Worten der Umstehenden ein Ende zu bereiten.

Nach einem Gespräch über den Sinn dieser Schlägerei konnte nur ein Teil der Beteiligten einsehen, dass es sich nicht gelohnt hatte, den Weg der Gewalt zu gehen. Für die einen ein belustigendes Schauspiel, eine Demonstration ihrer Macht, für zwei andere ein demütigender Vorgang. Scham der Opfer vor dem Täter. Gruppenzwang. Scham, ein Grund für die scheinbare Gleichgültigkeit? Scham, ein unerwünschtes, in unserer Zeit selten diskutiertes Gefühl. Ein Gefühl, dass sich niemand leicht eingesteht, weder Lehrer noch Schüler. Scham, ein Gefühl, das verletzbar macht.

*

Da standen sie plötzlich vor der Tür, klingelten Sturm und hielten meinen Sohn Jürgen zwischen sich eingehakt in ihrer Mitte. Mein Gott, er war ganz blass, sein Gesicht blutverschmiert. Er sei bewusstlos gewesen und gestürzt, sagten seine beiden Begleiter, deshalb hätten sie ihn nach Hause gebracht, damit ihm unterwegs nichts passieren würde. ‚So nette Jungs’, dachte ich noch, dankte ihnen und zog meinen Sohn ins Haus. Nachdem er sich das Blut abgewaschen hatte, erfuhr ich nach und nach die ganze Geschichte: Sie hatten ihn vorher verprügelt und auf den Boden gestoßen, vielleicht war er wirklich kurz ohnmächtig gewesen, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, jedenfalls bekamen die „netten Jungs“ es plötzlich mit der Angst zu tun und schleppten ihn nach Hause. Mein Sohn brachte die Zusammenhänge nur stockend hervor, immer wieder bohrte  ich genauer nach, um die Wahrheit zu erfahren. Ehrlich, ich war schon schockiert über diese Kaltblütigkeit: erst jemanden zusammenzuschlagen und ihn hinterher fürsorglich daheim abzuliefern, nicht ohne ihm vorher damit gedroht zu haben, dass er den Mund halten müsse,  sonst würde noch mehr passieren.

Natürlich redete ich auf Jürgen ein und wollte gleich am nächsten Tag zu der Lehrerin gehen, aber Jürgen war total dagegen und heulte los, als ich mit ihm darüber sprach. Er wollte nicht als Schlappschwanz, Muttersöhnchen und Petze dastehen und auch noch ausgelacht werden. Er verbot mir, mit der Lehrerin zu reden. Also, was sollte ich tun? Ich wollte ihn doch schützen und was konnte ich schon von der Lehrerin erwarten? Sie war doch auch hilflos, die Kinder tanzten ihr auf der Nase herum, obwohl sie es wirklich gut mit ihnen meinte und auch Jürgen mit ihr klar kam. Er fürchtete sich nicht vor ihr, sondern vor den anderen, seinen Klassenkameraden.

Seit einiger Zeit probierten sie in der Schule etwas Neues aus, ein Projekt zum Thema „Toleranz“ oder so ähnlich. Jürgen erzählte nicht viel davon, aber andere Mütter, die ich beim Einkaufen traf, waren regelrecht verärgert und meinten, ihre Kinder bräuchten nicht therapiert zu werden, sie bräuchten andere, bessere Lehrer, die sich durchsetzen könnten. Was sollte da ein Sozialpädagoge schon bewirken können? Er kam ja doch nur einige Male, da fiel auch noch der Unterricht aus. Viele der Mütter dachten so. Aber ich, ich hoffte doch, dass das Projekt etwas bewirken könnte und mein Sohn, der freute sich immer auf diese Projekttage. Vielleicht erwartete er sich das Gleiche wie ich: eine Verbesserung der Situation in dieser Klasse.

Aber dazu kam es leider nicht mehr. Nach diesem tragischen Unfall konnte das Projekt nicht mehr zu Ende geführt werden. Alles blieb ungewiss: Hätte es noch etwas bewirken können, wenn das Ende nicht so abrupt eingetreten wäre? Keiner weiß es. Unfassbar war es jedenfalls für meinen Sohn, der um diesen Sozialpädagogen ehrlich trauerte. Die Kinder waren nun wieder allein, konfrontiert mit dessem jähen Ende. Keiner kümmerte sich um sie. Schockiert wohl auch die Lehrerin, die mit den Schülern darüber zu sprechen versuchte, während andere schon wieder spotteten und lachten und Witze rissen. Vielleicht war das ihre Art zu trauern: ‚Nur ja nichts an sich heranlassen, keine Gefühle zeigen, cool bleiben, auch wenn es weh tut, entsetzlich weh tut und auch schrecklich Angst macht.’ Glauben Sie mir, vor dem Tod fürchten sich auch diese Jungs. Schlimm war das, wirklich schlimm.

Und jetzt kommen Sie daher und wollen wissen, wo mein Sohn am Nachmittag des 23. Juli war. Sie werden ihn doch nicht verdächtigen, dabei gewesen zu sein?“  Jürgens Mutter

*

Boris, der unbeliebteste Schüler. Groß, grobkantig, kräftig, aber nie bereit seine Kraft sinnvoll einzusetzen. Er lebte nach dem Lustprinzip: Alles war ihm zu viel, was nach Anstrengung und Arbeit roch. „Keine Lust.“ „Immer müssen wir so viel schreiben.“ Er malte unentwegt auf  Blättern, aber nicht, wenn es seine Aufgabe war, z. B. einen Eintrag zu gestalten. Ein Kind, das sich nicht in der Hand hatte. Er fiel des öfteren vom Stuhl, furzte schamlos, rülpste lautstark, warf im Zorn Stifte und Hefte zu Boden, fälschte die Unterschrift seiner Eltern, versteckte für die Hausaufgaben benötigtes Material in der Schule im Schrank oder unter der Bank. Einziges Ziel schien Provokation zu sein. Er legte es darauf an, mich als  seine Lehrerin, aber auch bestimmte Schüler aus der Fassung zu bringen, indem er sie verbal beleidigte, verhöhnte, beschimpfte, ihre Sachen beschädigte und sie auch körperlich bedrängte. Ein hilfloses Baby in einem viel zu gewaltigen Körper.

Niemand wollte gerne neben ihm sitzen. Als Kleinkind hatte er seine Mutter schon zum Weinen gebracht. Ein einsames Kind.

Korbinian, sehr unbeliebt. Ein Schüler, der unter dem ADS-Syndrom litt und mit ihm litten die Schüler und die Lehrer. Ein gefährlicher Schüler. Er strotzte vor Kraft, war ein leistungsmäßig guter Sportler, aber ohne jede Disziplin und Fairness. „Dann ist er eben kein guter Sportler.“, sagtest du kurz und ich teilte deine Meinung. Seine Mutter, schien überfordert. Sie war berufstätig, alleinerziehend und nicht immer in der Lage, dafür zu sorgen, dass Korbinian regelmäßig seine Medizin einnahm. Ein Ritalinkind, dessen Verhalten stark von der Medikamenteneinnahme abhing. Meist zeigte sich der Junge mir gegenüber unzugänglich und aufsässig, während er sich den Mitschülern gegenüber rücksichtslos verhielt, mit einem bösen Lachen im Gesicht Schläge austeilte, mit  höhnischen Worten andere zum Weinen brachte.

In seltenen Augenblicken erlebte ich ihn ernsthaft und ansprechbar, spürte wie die Mauer, hinter der er sich versteckte, Risse bekam, nahm die andere Seite seines Wesens wahr, die verletzbare, die empfindliche Seite, die er vor anderen meist verbarg, wohl aus Angst, selbst verletzt zu werden. Der Einzige, der die unfassbaren Ereignisse vom 11. September „cool“ und „geil“ fand, was auch die anderen Kinder befremdete.

Manuel, der Schüler aus Amerika. Stark, alle anderen durch seine Körpergröße überragend, auffallend durch seine schwarze Hautfarbe, sein undurchdringliches maskengleiches Gesicht. Verzog mir gegenüber keine Miene, es sei denn er war wütend, dann verlor er die Beherrschung und brüllte mich an. „Ich kann Sie nicht mehr sehen. Halten Sie die Fresse.“ Ein Heimkind, dessen Erzieher sich ehrlich Mühe gab mit ihm. Beide erschienen mehrmals in meiner Sprechstunde. Die Einsicht, die Manuel im Gespräch zeigte, währte meist nicht lange. Er hatte sich hohe Ziele gesteckt, allerdings ohne ernsthaft bereit zu sein, sich dafür langfristig anzustrengen. Seine Leidenschaft war das Zeichnen. Ununterbrochen kritzelte er im Unterricht Figuren. „Reden Sie ruhig weiter. Ich höre schon zu.“

Allmählich fasste er Fuß in der Klasse. Mit ihm wollte niemand in einen Kampf verwickelt werden. 

*

„Ich hasse diese Frau. Was bildet die sich eigentlich ein, wer sie ist? Sie ist schlimmer als meine Mutter, die mir dauernd vorjammert, wie schlimm es mit mir noch enden wird, wenn ich in der Schule nicht aufpasse. Auch diese Lehrerin versucht mich ständig davon zu überzeugen dass es  wichtiger ist, fleißig zu sein und aufzupassen anstatt zu malen. Sie erinnert mich immer an meine Ziele, meine Wünsche, die ich ihr genannt habe, als sie mich danach gefragt hat. Mittlere Reife, ja das wäre schon okay, aber das ist viel zu viel Arbeit, also was soll’s, ich zeichne und male lieber, denn der Unterricht ist mir zu langweilig, viel zu nervig, echt ätzend diese Frau.

 Stimmt, ich kann schon mal ausrasten, wenn sie immer an mir herumkritisiert, ich habe sie auch schon beschimpft, das gebe ich zu, aber den Verweis, den hätte sie besser nicht geschrieben. Weiß sie eigentlich, was das für mich im Heim bedeutet? Sie sperren mich dort ein, ich kann nicht mehr raus wann ich will, auch am Wochenende darf ich nicht zu meiner Mutter, so ein Mist. Sie braucht doch nicht so zimperlich zu sein, „halt die Fresse,“ das ist doch nur so dahin gesagt. Ich werde mich bei ihr entschuldigen, dann wird sie es sicher bleiben lassen.

Sie hat den Verweis nicht zurückgenommen, die blöde Kuh. Ich hasse sie, ich kann sie nicht mehr sehen. Mein Erzieher hält auch noch zu ihr und findet, ich wäre zu weit gegangen. Immer ich! Jetzt kann sie mich mal, ich mache nicht mehr mit.

Ich habe schon gemerkt, dass sie besonders freundlich sein will zu mir. Vielleicht hat sie Angst vor mir? Obwohl, sie ist ganz schön stark, hätte ich nicht gedacht. Sie hat hart zugepackt, als ich auf Boris losgegangen bin, mitten im Unterricht. Ich war so wütend, er hat meine Mutter eine Hure genannt, ich hätte ihn zusammengeschlagen, echt, aber da packte sie mich plötzlich und riss mich von ihm weg. Die ganze Klasse hat da gestaunt. Das hätten sie ihr wohl nicht zugetraut. 

Immer will sie mit mir reden, aber da gibt es nichts zu reden. Es kotzt mich an, dieses Getue um eine kleine Schlägerei. Ist doch nichts passiert. Diesmal nicht, aber vor einem Jahr schon, das stimmt, da hatte ich Pech und musste die Schule wechseln, die haben mich einfach rausgeschmissen, weil ich denen zu gefährlich war. Meine Mutter wäre beinah durchgedreht. Seit diesem Rausschmiss bin ich im Heim gelandet. Ich soll mich anständig aufführen, damit ich auch bleiben darf, aber trotzdem, alles muss ich mir nicht bieten lassen. Ich nicht.“ Manuel

*

Gökhan, ein türkischer Schüler, der im Laufe des Schuljahres zu uns gekommen war. Gleich am ersten Tag hatte er eine brutale Rauferei angefangen. Auch er nicht beliebt, tanzte immer aus der Reihe, konnte weder still sitzen noch konzentriert und ruhig arbeiten. Bewegte sich immer im Klassenzimmer und störte rücksichtslos seine Mitschüler, indem er sie ansprach, beleidigte, anrempelte, ihnen Sachen wegnahm.

Schulmaterial hatte er grundsätzlich nicht dabei. Er fiel immer wieder durch sein aggressives Verhalten auf. Aufgrund seiner schwachen Leistungen hätte er eigentlich die Klasse wiederholen müssen. Aus „pädagogischen Gründen“ ließ ihn mein Chef dann allerdings aufsteigen.

„Warum hast du das zugelassen?“ Sozialpädagoge 

Warum? Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt schon so ausgebrannt und hatte nicht mehr die Kraft, mich mit meinem Schulleiter auseinander zu setzen, obwohl ich es den anderen Schülern gegenüber als sehr ungerecht empfand, immer noch empfinde, aber zu dem Zeitpunkt, da war ich schon total erschöpft, hatte nicht mehr den Mut und die Kraft mich durchzusetzen. Burnout.

Michaela, ein temperamentvolles Mädchen, von dem Manuel sagte: „Die ist doch wie ein Junge, die schlägt doch selbst.“ Sie war in keiner Weise zimperlich, wurde von ihrer Mutter darin bestärkt,  sich nichts gefallen zu lassen.

Interessierte sie der Unterrichtsstoff arbeitete sie lebhaft mit, von Hausaufgaben hielt sie dagegen nicht viel. Mir gegenüber verhielt sie sich unterschiedlich, manchmal kooperativ, aber auch zeitweise feindselig, wusste nicht, auf welche Seite sie sich schlagen sollte.

Von dir war sie sehr begeistert, sie freute sich jedes Mal auf die Stunden, in denen du in die Klasse kamst. Sie blühte richtig auf und wollte dir unbedingt gefallen, von dir beachtet werden. Hast du das bemerkt?

Rita und Barbara, zwei stille, unauffällige Mädchen, die miteinander befreundet waren, hielten – so weit mir bekannt – sich von den Schlägereien fern und arbeiteten im Unterricht bereitwillig mit.

Die beiden waren die einzigen, die sich zuverlässig immer wieder um die Blumen im Klassenzimmer kümmerten.

Wish you were here – Kapitel 2

09 Samstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kunst, Kurzgeschichte, Literatur

≈ Ein Kommentar

Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Lehrer, Lehrerin, Mobbing, Schüler, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 2 – Die Situation

Ich haste den dunklen Gang entlang und spüre wieder dieses bleierne Gefühl des Ausgeliefertseins, das mich beinahe zwei Jahre lang lähmte und an meiner Arbeit verzweifeln ließ.

Heute ist vieles anders. Ich kann endlich wieder gehen ohne zu humpeln, Schmerzen im Bein spüre ich nur noch selten, die

flammend rote Narbe unter dem linken Auge beginnt zögernd zu verblassen und wird mit der Zeit ganz verschwinden, so sagen die Ärzte tröstend. Ja, ich hatte wirklich Glück gehabt, das stimmt. Aber ich reagiere immer noch in gewissen Situationen wie damals, muss mir jedes Mal bewusst machen, „das“ ist vorbei, aber ich weiß auch, „das“ kann jederzeit wieder kommen. „Das“, damit ist die Situation eines Lehrers gemeint, der hilflos wie ich vor seiner Klasse steht und nicht fähig ist, seine Funktion auszuüben.

Wish you were here. Wie oft habe ich gewünscht von anderen verstanden zu werden, mit Kollegen darüber sprechen zu können ohne gleich als Versagerin abgestempelt zu werden.

Du, der Sozialpädagoge, wurdest mir als Hilfe angeboten, wohl in erster Linie darum, weil es sich gut machte an einer Schule ein Projekt mit dem Thema „Toleranz“ durchzuführen. Ich nahm das Angebot an, weil ich wollte, dass andere, die nicht in der Lehrerolle steckten, dieses Empfinden mit mir teilen sollten und vielleicht konnte ich ja von ihnen lernen, es besser zu machen. Du sagtest selbst, dein Vorteil mir gegenüber sei, nicht Lehrer zu sein und wieder gehen zu können. Wie oft hatte ich mir das gewünscht: einfach gehen zu können, das Klassenzimmer zu verlassen.

Ich genoss es, wenn du und deine Kollegin mit der Klasse arbeiteten und ich zusehen und beobachten konnte, ohne handeln zu müssen, obwohl es mir manchmal sehr schwer fiel, nicht einzugreifen, das musste ich zugeben.

Zu wenig Zeit hattest leider auch du. Nur kurz konnten wir über die Kinder sprechen, immer in Eile blieb nicht viel Zeit zu ausführlichen Gesprächen. Allerdings wurde mir bald klar, auch du hattest zu kämpfen mit dieser Klasse, aber wie gesagt, du gingst wieder.

Zurück blieb ich mit meiner Wut, meiner aufkeimenden Aggression einzelnen Schülern gegenüber und meiner Hilflosigkeit. Ich war unfähig, diese Kinder irgendwo in der Seele berühren zu können, ihre eiskalte Fassade zu durchbrechen.

Manche hätte ich gerne festgehalten, kräftig geschüttelt bis ihre harte Schale zu bröckeln begann und andere dagegen am liebsten getröstet und im Arm gehalten. „Fassen Sie mich nicht an.“ Dieser Befehl aus Kindermund verfolgte mich.

Eine Mathematikstunde. Klaus streikt. Höhnisch grinsend verweigert er seine Mitarbeit. „Ich brauche gar nichts tun. Meine Mutter kann mir das besser erklären.“ Provokativ schneidet er mir Grimassen, die Lacher sind auf seiner Seite. Ich spüre langsam die Wut in mir aufsteigen, die Ohnmacht sich ausbreiten und einen grenzenlosen Hass auf dieses Kind, das all meine Pläne zunichte macht. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe. Wen sieht es in mir? Ich kann Klaus nicht länger ertragen. „Geh vor die Tür.“ Er bleibt sitzen, spöttisch lächelnd. In wenigen Schritten bin ich bei ihm, schleudere ihn vom Stuhl – „Fassen Sie mich nicht an.“ – und schlage ihm meine Hand klatschend ins Gesicht, links, rechts, links, rechts, rasend vor Wut. „Nun geh und beschwer dich.“  Bedrohliches Schweigen breitet sich im Klassenzimmer aus. Schrill  zerreißt der Gong plötzlich die jähe Stille.  

Ich wachte auf, stellte den Wecker ab und fürchtete mich vor meiner eigenen in mir schwelenden Aggression. Ein rumorender Vulkan vor dem Ausbruch. Von nun an begleitete mich die Angst auszurasten, wirklich einmal die Beherrschung zu verlieren und in eines dieser Gesichter, die mich so höhnisch und provozierend angrinsten in dem Wissen, die schlägt nicht, die wagt es nicht, die darf das nicht,  brutal hineinzuschlagen.

*

Von meinem Chef, unserem neuen Schulleiter erhielt ich ein weiteres Hilfsangebot: In der Lehrerkonferenz wurde beschlossen, dass ich die schwierigsten  Schüler aus dem Unterricht in der Klasse ausschließen durfte, d.h. sie mussten eine bestimmte  Zeit lang in eine andere Klasse gehen. Die Entscheidung musste ich treffen. Was als Erleichterung beabsichtigt war, entpuppte sich als Bumerang: Die ausgeschlossenen Schüler steigerten ihre Aggressionen mir gegenüber, denn ihrer Ansicht nach trug nur ich die Schuld an ihrem Verhalten, sie waren auch der falschen Meinung, sie könnten nur einmal ausgeschlossen werden und nach ihrer Rückkehr in die Klasse benahmen sie sich entsprechend aufsässig.

Boris schaukelt auf dem Stuhl, steckt sich Stifte in die Nase.

Gökhan rennt im Klassenzimmer umher, reißt die Fenster auf, spuckt hinaus, spielt mit dem Lichtschalter, knipst das Licht an und aus, immer wieder, möchte mehrmals hintereinander auf die Toilette, beschwert sich lautstark, weil ich ihn nicht gehen lasse.

*

Einzig wohltuend waren die Stunden, in denen ich unterrichten konnte, während einige Störenfriede ausgeschlossen blieben. Ein Aufatmen ging dann durch die Klasse. So sollte es immer sein, was natürlich eine Illusion war. So blieb es natürlich nicht. Der Ausschluss aus der Klasse führte bei keinem der Betroffenen zu der erwünschten Einsicht über sein Verhalten.

„Fehlendes Unrechtbewusstsein? Seelisch verhungert? Mangelerscheinungen an Gefühlen? Unfähigkeit zu sozialem Verhalten? Spielball ihrer Lust? Unfähigkeit Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren?“ Immer wieder vergebliche Versuche das unfassbare Verhalten vieler Schüler meiner Klasse in Worte zu fassen, Erklärungen zu finden.

Nicht nur ich als Klassenlehrerin, sondern auch andere Fachkollegen standen fassungslos vor diesen Kindern, die nichts schreckte oder überzeugte: stichhaltige Argumente, vernünftige Erklärungen über das Warum und Wieso von gewissen Regeln verpufften, prasselten bei vielen ab. Vom Lehrer erteilte Anordnungen wurden einfach nicht ausgeführt, wurden verweigert mit unvorstellbarer Selbstverständlichkeit. 

„Das mache ich nicht. Sie können mich mal. Halten Sie die Fresse.“ Manuel 

*

„Kommen Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Ein Angebot meines neuen Chefs, von dem ich mich in der ersten Zeit verstanden fühlte. Hieß es am Anfang noch „Es liegt nicht an Ihnen.“, klang es später doch ganz anders. Zu spät wurde mir bewusst, dass mein Chef nicht wirklich an meiner persönlichen Lage Interesse zeigte, sondern vor allem an der Darstellung seiner schulleiterlichen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit. Zu tief steckte ich da schon im Sumpf der täglichen Gehässigkeiten, die mir wie faule Luft entgegenschlugen, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Zu spät erkannte ich die wahren Absichten.

 

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