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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Schule

Tonne (5)

29 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Arzt, Depression, Freundschaft, Hund, Kind, Krankenhaus, Leben, Lehrerin, Schule

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Karls Plan zu verreisen

Er hatte Hunger und suchte in der Küche nach Essbarem. Seit seine Mutter in der Klinik war, fühlte er sich ständig hungrig. Sein Vater versorgte sie beide so gut es ging. Er brachte aus dem Krankenhaus abgepackte Portionen mit, die ihnen beiden aber nicht so recht schmecken wollten. Irgendetwas fehlte, vermissten sie beide. Es lagen nun oft Kekspackungen herum, die ihren Heißhunger auf Süßes kurzfristig stillten.
So eine Packung suchte Karl. Während er ungeduldig Schranktüren öffnete, Geschirr verschob, in Schubladen wühlte, hielt er plötzlich Fahrkarten in der Hand. Zugfahrkarten. Er kannte sie inzwischen, war mehrmals mit seinem Vater und Tonne zu seiner Mutter gefahren, mit dem Zug. Von innerer Unruhe und Aufregung gepackt, schwenkte er die Karten hin und her. Auf einmal steckte er sie in seine Hosentasche, streichelte Tonne, der sich neugierig an ihm hochstemmte über den Schädel und sagte: „Wir fahren. Tonne, wir fahren zu Mama.“
Tonne, der nur das Wort „Mama“ verstanden hatte, wedelte aufgeregt und begeistert mit dem Schwanz und bellte kurz laut auf, als wolle er Karls Entschluss bekräftigen.

Fünfte Begegnung: Melanie mit Karl und Tonne auf dem Spielplatz

Am Nachmittag traf Karl Melanie auf dem Spielplatz. Er hatte sie schon ungeduldig erwartet und ging ihr rasch entgegen, als er sie kommen sah. Verwundert nahm Melanie Karls Unruhe wahr. Er, der sonst immer so unbeteiligt, so abwesend wirkte, erschien ihr heute aufgewühlt. Da war etwas passiert. Gespannt blickte sie ihm ins Gesicht, das plötzlich so lebendig wirkte, und dachte: „Es kann nichts Schlimmes sein.“
Karl wühlte in seiner Hosentasche und zog zwei Zugfahrkarten hervor, die er ihr freudestrahlend hinhielt. „Wir fahren nach N. Wir fahren zu Mama.“ Verwirrt nahm Melanie die Fahrkarten in die Hand und betrachtete sie genauer. Sie schienen echt zu sein, obwohl sie keine Ahnung davon hatte, war noch nie mit einem richtigen Zug gereist, außer mit der SBahn in die nächste Großstadt. „Wer fährt?“, wollte sie wissen. Karl sah sie überrascht an. „Karl und Melanie und Tonne“, sagte er entschlossen. „Aber wohin, Karl?“, bohrte sie nach, „und wann, und warum?“ Wieder wunderte sich Karl. Wusste Melanie denn nicht, dass sie zu seiner Mutter fahren würden? Endlich. Er würde sie mitnehmen. Seine Bettina, seinen Engel, der Mutter helfen würde, davon war er zutiefst in seinem Inneren überzeugt. Wenn seine Mutter ihren Engel wieder hätte, könnte sie Karl wieder lieben und käme bald zu ihm und seinem Vater zurück und Melanie würde bei ihnen bleiben. Aus Bettina war nun Melanie geworden. „Freitag. Wir fahren zu meiner Mama.“

Melanie war überrumpelt. Heute war Donnerstag. Sie sollte mit Karl im Zug wegfahren. Morgen schon war Freitag. Aber das war doch unmöglich. Sie musste in die Schule gehen. Auch am Freitag. Und ihre Mutter, was würde die wohl sagen, wenn sie nicht pünktlich nach Hause käme?
Ihre erste Freude war, kaum empfunden, schon verflogen.
„Nein, das geht nicht“, widersprach sie Karl. Entsetzt starrte Karl sie an. „Doch. Du musst“, behauptete er bestimmt. Melanie schüttelte traurig den Kopf.
„Mama braucht Engel“, schrie Karl verzweifelt. „Engel macht Mama gesund.“
Da war es wieder: Karl und seine Engelgeschichten, aus denen sie immer noch nicht richtig schlau geworden war.
„Du bist ja total verrückt.“
Karl zuckte zusammen, starrte sie mit einem Blick an, der durch sie hindurchging und doch tief in ihrem Inneren ankam. Ein Blick, der ihr unheimlich war. War er vielleicht wirklich verrückt, wie manche Leute behaupteten?
Plötzlich spürte sie seine kräftigen Hände schmerzhaft auf ihren Schultern, wurde heftig durchgerüttelt, hörte Tonne aufjaulen.
„Karl, hör auf. Du tust mir weh.“
Panik ergriff sie, als sie erkannte, dass in Karls Augen Entsetzen und Angst zu lesen waren. Wie wild begann sie verzweifelt um sich zu schlagen, wehrte Karl ab, aber der war stärker und schien sie nicht mehr zu kennen. Er befand sich plötzlich in einer anderen Welt, zu der sie keinen Zugang hatte.
„Karl, bitte, lass mich doch los“, schluchzte sie mit tränenüberströmtem Gesicht.
Karls Hände, die Melanies Hals packten, drückten langsam auf ihren Kehlkopf. „Karl“, flüsterte Melanie mit heiserer Stimme, neben sich hörte sie Tonne knurren.

Frau Linder
Freitag, 8 Uhr

Frau Linder blickte prüfend in ihre Klasse. Jemand fehlte doch. Melanies Platz war leer. „Wer weiß, was mit Melanie los ist?“, fragte sie.
Niemand meldete sich. Sie sah in ratlose, gleichgültige Gesichter. Frau Linder wurde bewusst, dass Melanie keine Freunde in der Klasse hatte. Sie war eine Einzelgängerin. Sehr zurückhaltend. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Melanie hatte noch nie unentschuldigt gefehlt.
„Petra, frag doch bitte im Büro nach, ob Melanie entschuldigt ist“, bat sie das Mädchen, das in der ersten Bank saß.
Kurz darauf wussten sie es: Melanie fehlte unentschuldigt.
Frau Linder gab den Kindern Stillarbeit und ging ins Büro, um Frau Ascher, Melanies Mutter anzurufen. Es könnte ja auch unterwegs etwas passiert sein, auf dem Schulweg. Das musste geklärt werden und zwar gleich. Frau Linder ließ das Telefon lange läuten, aber niemand nahm ab. Sie bat die Sekretärin Frau S. bei Frau Aschers Arbeitsstelle anrufen, erfuhr aber, dass Frau Ascher nicht mehr dort arbeiten würde, schon seit mehreren Monaten nicht. Frau Linder vereinbarte mit der Sekretärin, in kurzen Abständen bei Frau Ascher zuhause anzurufen und ihr dann Bescheid zu geben, falls sie sie erreicht hatte. Frau S. nickte und Frau Linder kehrte noch stärker beunruhigt als zuvor zurück in ihr Klassenzimmer, aus dem sie schon von weitem lautes Geschrei vernehmen konnte. Abrupt öffnete sie die Tür. Das Schreien verstummte. Schweigen herrschte im Raum. Erwartungsvoll starrten die Kinder ihre Lehrerin an. Auch sie begannen zu spüren, dass etwas am Fehlen Melanies ungewöhnlich war.
In der kleinen Pause, um 9:30 Uhr, fragte Frau Linder besorgt im Büro nach. Frau Ascher war immer noch nicht erreichbar. Niemand hatte eine Ahnung, wo Melanie war. Spurlos verschwunden, Mutter und Tochter. Waren sie beim Arzt oder waren beide gemeinsam verschwunden? Frau Linder fand das eher unwahrscheinlich, aber durchaus möglich.
Als bis 13:00 Uhr Frau Ascher immer noch nicht erreicht werden konnte, besprach sich Frau Linder mit ihrem Schulleiter. Sie schlug vor, bei Melanie daheim vorbeizufahren, um der Sache auf den Grund zu kommen. Ihr Chef war damit einverstanden.

Freitag, 15 Uhr

Frau Linder klingelte an der Tür auf der, schon etwas verblasst, der Name Ascher zu lesen war. Neugierig blickte sie sich um, während sie gespannt wartete. Ein ganz gewöhnliches Mietshaus mit vier Parteien. Wenig gepflegt die Fassade. Nur einzelne Balkone waren liebevoll mit Blumen bepflanzt. Nichts rührte sich. Sie klingelte noch einmal, ließ diesmal den Finger länger auf dem Klingelknopf, hoffte inständig, es möge jemand öffnen. Wieder blieb die Tür verschlossen. Nichts regte sich im Treppenhaus. Erneut wurde sie von ahnungsvoller Unruhe gepackt. Da stimmte doch etwas nicht.
„Hausieren ist bei uns verboten.“
Frau Linder drehte sich der unfreundlichen Stimme entgegen und stand plötzlich einer älteren Frau gegenüber, die soeben die Eingangstür aufsperren wollte und sie misstrauisch anblickte.
„Ich möchte zu Frau Ascher, aber es scheint niemand da zu sein.“
„Da können Sie lange klingeln, die macht oft nicht auf.“
„Ich bin Frau Linder, Melanies Lehrerin. Wissen Sie, wo Melanie ist?“, erwiderte Frau Linder
„Keine Ahnung. Die treibt sich doch überall herum.“ Die Frau griff mürrisch nach ihrer Tasche und schob sich an ihr vorbei ins Treppenhaus, aus dem ihr schale, abgestandene Luft entgegenschlug.
Frau Linder wurde erneut ergriffen von quälender Unruhe. Wo war Frau Ascher?
Sie griff nach ihrem Handy, wählte rasch die Nummer ihres Schulleiters Herrn Boger.

Karls Vater
Freitag, 9 Uhr

Er kam am Freitagmorgen gut gelaunt nach Hause. Während der Nachtschicht im Krankenhaus, die er einmal im Monat übernahm, war es ruhig geblieben. Er hatte schlafen können. Jetzt freute er sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Karl. Außerdem war er neugierig, wie Karl eine Nacht ohne ihn verbracht hatte. Er hatte ihm ausführlich erklärt, dass er am Donnerstag allein sein würde, ihm sicherheitshalber jedoch eine Telefonnummer notiert, unter der er ihn erreichen konnte.
Als erstes fiel ihm die ungewohnte Stille auf, als er das Gartentor aufstieß. Normalerweise begann Tonne spätestens in dem Moment freudig sein Begrüßungsgebell anzustimmen, erwartete ihn bereits aufgeregt hinter der Haustür, um begeistert an ihm hochzuspringen.
Erwartungsvoll schloss er die Tür auf. Stille empfing ihn auch im Haus.
„Karl! Tonne! Guten Morgen!“
Sein Gruß verhallte ungehört. Sofort spürte er: Er war ganz allein. Das Haus war leer. Karl und Tonne waren nicht da. Nervöse Unruhe packte ihn, er riss die Küchentür auf, sah sich aufmerksam in der Küche um. Nichts war verändert seit Mittwochabend. Konzentriert wanderte er mit seinen Blicken noch einmal durch die Küche, verweilte auf der Sitzgruppe, dem Tisch mit der blauen Tischdecke, der Spüle, den Schränken und blieb schließlich hängen an der kleinen Anrichte deren Oberfläche ihm so nackt erschien. Da fehlte doch etwas. Die Fahrkarten. Die Zugtickets. Er hatte sie dort abgelegt.  Heute, am Freitag, wollte er seine Frau besuchen, mit Karl und Tonne natürlich. Die Fahrkarten waren verschwunden.
Sollte Karl sie genommen haben? Aber wozu? Beunruhigt lief er durch alle Zimmer, hoffte eine Spur zu finden, einen Hinweis auf Karls Abwesenheit.
Er versuchte sich zu beruhigen, als er alle Zimmer leer vorfand. Karl war oft alleine mit Tonne unterwegs. Vielleicht hatte er heute früh auf seiner Tour etwas Interessantes entdeckt, womit er sich längere Zeit beschäftigt hatte. Keine Panik, ermahnte er sich selbst. Enttäuscht legte er die Tüte mit den frischen Semmeln auf den Tisch und begann mechanisch den Tisch zu decken für zwei. Vielleicht kommt er ja gleich. Karl liebte Pfefferminztee. Er stellte eine Kanne mit Wasser auf den Herd, legte schon mal zwei Teebeutel bereit, blickte dabei immer wieder aus dem Fenster, horchte angestrengt auf Geräusche von draußen. Das Wasser sprudelte, automatisch schaltete er die Kochplatte ab, zog den Topf zur Seite und gab die Teebeutel ins heiße Wasser, blickte auf die Uhr, fünf Minuten ziehen lassen. Der Duft ofenfrischer Semmeln stieg ihm in die Nase, verstärkte sein Hungergefühl. Er zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor, fühlte sich auf einmal hungrig und müde, erschöpft. Wo blieb bloß Karl?
Nach fünf Minuten frühstückte er allein, ohne besonderen Appetit, einzig um seinen Hunger zu stillen und Zeit zu gewinnen, um darüber nachzudenken, wo Karl sich wohl befinden mochte.

Freitag, 10 Uhr
Er ging noch einmal in Karls Zimmer. Das Bett war unberührt. Vorher war ihm das gar nicht aufgefallen. Er schlug die Bettdecke zurück und entdeckte Hefte, Bücher und ein Federmäppchen. Da lagen ja Schulsachen. Aber sie gehörten Karl nicht, das erkannte er auf einen Blick. Verwundert nahm er ein Heft in die Hand, blickte auf das Namenschild. Melanie. Klasse 3 b. Deutsch. Erstaunt sah er sich die anderen Hefte und Bücher durch. Sie gehörten alle einem Mädchen namens Melanie. Melanie? Er kannte kein Mädchen, das so hieß. Und der Nachname? Er konnte ihn nirgends entdecken.
Wie kam Karl zu diesen Schulsachen? Hatte er sie etwa einem fremden Mädchen abgenommen? War Karl inzwischen gewalttätig geworden und hatte er das als Vater, beschäftigt mit seinen eigenen Problemen, nicht bemerkt?
Junger Behinderter überfällt Mädchen auf dem Schulweg
Ohne es zu wollen, entstand sie vor seinem geistigen Auge, diese Schlagzeile, geeignet, um die schonungslose Aufmerksamkeit der Leute auf seine Familie zu lenken, auf Karl, auf ihn, dem Vater und seiner Verantwortung dem behinderten Sohn gegenüber.
So einer darf nicht frei herumlaufen
Die Leute würden Karl nicht mehr unter sich dulden, seinen harmlosen Sohn, der mit dem Müllsack unterwegs war, der sich so kindlich freuen konnte über das, was andere wegwarfen.
Nein. So durfte er nicht denken. Karl konnte jeden Augenblick zurückkehren. Er horchte angestrengt. Da war nichts zu hören. Keine menschliche Stimme. Vogelgezwitscher und entfernter Motorenlärm.
Bis Mittag beschloss er zu warten, dann würde er sich mit dem Fahrrad auf die Suche nach seinem Sohn machen, alle Spielplätze ansteuern, würde ihn sicher finden, dachte er.
Bis dahin wollte er schlafen, sich beruhigen. Aber er konnte nicht schlafen. Innerlich aufgewühlt lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, aus dem er aufzuwachen hoffte, Karl und Tonne neben sich. Er lag und lauschte, versuchte sich abzulenken, sich zu entspannen, dachte an die Patienten im Krankenhaus, erinnerte sich an den neuen Fall, der gestern Abend eingeliefert worden war, eine Betrunkene, die sich beim Sturz auf der Treppe das Bein gebrochen hatte. Wenigstens trank Karl nicht, war kein Alkoholiker, war nur behindert. Kein Entzug konnte ihn von seiner Behinderung befreien. Er dachte an seine Frau, die weit von ihm entfernt in einer Klinik darum kämpfte, sich aus ihren Depressionen zu befreien.

Freitag, 11 Uhr 10
Ein Klingeln an der Tür riss ihn vom Sofa. Endlich. Schnell öffnete er die Tür. Der Postbote bat ihn, für seine Nachbarn ein Paket anzunehmen. Eine Unterschrift bitte. Mechanisch setzte er seinen Namen an die angewiesene Stelle, trug automatisch das fremde Paket in den Gang. Er musste Karl finden. Jetzt. Gleich. Entschlossen holte er sein Fahrrad aus der Garage.
Karl blieb verschwunden. Alle bekannten Spielplätze hatte er abgeklappert, war nur einzelnen Jugendlichen begegnet, einigen Obdachlosen, die ihre Nächte auf den Spielplätzen verbrachten. Alle hatte er gefragt. Niemand konnte sich erinnern an einen jungen Mann mit einem kleinen Hund, der auf den seltsamen Namen Tonne hörte. Enttäuscht war er zurück gefahren, beschloss, noch einmal im Haus zu suchen, ehe er wohl die Polizei einschalten musste. Und heute Nachmittag, da wollte er seine Frau besuchen, sie erwartete ihn und auch Karl und Tonne. Was sollte er ihr bloß sagen, ohne sie in Unruhe zu versetzen? Suchen, er musste irgendeinen Hinweis finden, er musste.

Freitag, 13 Uhr 20
In Karls Zimmer öffnete er jede einzelne Schachtel, registrierte deren Inhalt, ohne einen Hinweis auf Karls Verschwinden zu entdecken. Seine Verwunderung wuchs mit jeder weiteren Schachtel, die er öffnete. Wie wenig kannte er doch seinen Sohn. Hatte keine Ahnung, was ihm diese Schätze bedeuteten, die er so sorgsam hütete und hortete. Was ging in ihm vor, seinem Sohn, dem Sprachlosen, dem Unnahbaren?
Er öffnete seinen Schrank, wühlte zwischen den Kleidungsstücken, warf in verzweifelter Wut Pullis und T-Shirts auf den Boden, tastete suchend alle Winkel des Schrankes ab und erschrak, als er tatsächlich etwas in der Hand hielt, etwas, das nicht Karl gehörte. Ungläubig starrte er an, was er in der Hand hielt, ein Kleid von Bettina, zusammengerollt, zerknittert, er breitete es aus, wehmütig, Bettinas Bild vor seinen Augen. Bettina, sein Sonnenschein. Das Kleid wippte um ihre schmutzigen Knie, wenn sie auf ihn zulief, der Saum des Kleides stand ab wie eine Glocke, wenn sie sich drehte im Kreis, solange bis sie vor Lachen nach Luft japsend ins Gras fiel. Er drückte sein Gesicht in dieses Stück Stoff, glaubte noch eine Spur ihres Duftes, ihres Geruches wahrzunehmen, glaubte sie noch einmal in seinen Armen zu halten. Jäh riss er sich los von diesen unerwarteten Gefühlen. Was tat Karl mit diesem Kleid? Und was tat er mit Bettina? Plötzlich fühlte er sich schwach, überwältigt von der ungeheuren Vorstellung, dass Karl nicht nur Bettinas Spielkamerad gewesen war, sondern … Nein, das konnte, das durfte er nicht einmal denken. Aber sein Misstrauen, seine Furcht waren geweckt, entwickelten sich blitzschnell weiter, nahmen ungeheure Ausmaße an. Sein Sohn Karl, ein Kinderschänder? Verzweifelt wehrte er diese Gedanken ab, die ihn überrannten, ihn kaum atmen ließen,  immer neue, schrecklichere Ahnungen entstehen ließen.
Er suchte weiter, immer hektischer, suchte nach Beweisen und hoffte inständig, keine zu finden, griff in die Taschen der Hosen, der Jacken, die im Schrank hingen, atmete schon erleichtert auf, als ihm ein leises metallisches Klicken verriet, dass er etwas übersehen hatte. Er starrte auf den Boden, erkannte einen winzigen Ring, Bettinas Ring.
Fünf brennende Kerzen auf eine kleine Torte gesteckt leuchteten auf, fünf Flammen, die sich in Bettinas Augen widerspiegelten, unzählige Päckchen liebevoll auf dem Tisch hindrapiert, leuchtend bunte Luftballons und Bettina, die ihre Backen aufplusterte, um die Kerzen auszublasen unter dem Beifall ihrer großen und kleinen Gäste und Karl, der verzückt dabeistand, schweigend und stumm wie meist. Und Bettina, die stolz ihren Finger herzeigte, jedem, der ihn sehen wollte, den Finger mit dem winzigen Ring, der ihre Augen stolz strahlen ließen. Wie kam Karl an diesen Ring?
Und dann die Sache mit den Schulheften. Melanie. Angestrengt dachte er nach, aber er kannte wirklich keine Melanie. Dritte Klasse. Bettina wäre jetzt auch in der dritten Klasse. Plötzlich begann er zu begreifen. Der Tag, an dem Karl so verwirrt am Mittagstisch saß, der Tag an dem er behauptete, Bettina sei wieder da. Er spürte, dass es da einen Zusammenhang gab, den er entdecken musste. Melanie und Bettina. Zwei Mädchen, die Karl viel bedeuteten. Aber woher kannte Karl diese Melanie? Und was hatte dieses Mädchen mit Bettina zu tun?
Seine Unruhe wuchs sich in Angst aus, der er nicht ausweichen konnte. Er musste wohl die Polizei einschalten, fragte sich, wie lange er noch warten durfte, wie lange er noch hoffen konnte, dass Karl wieder auftauchen würde. Konnte es sein, dass Karl allein zu seiner Mutter unterwegs war? Die fehlenden Zugkarten, eindeutiger Beweis: Karl wollte weg. War er in der Lage, allein zu der Klinik zu finden? Oder war er vielleicht gar nicht allein unterwegs? Die Polizei würde ihm viele Fragen stellen, die verschwundenen Fahrkarten erleichterten sicher die Suche, gaben klare Anhaltspunkte. Und die Frage nach Melanie, darüber weigerte er sich nachzudenken.

Freitag, 15 Uhr
Bis sieben Uhr wollte er noch warten, setzte sich noch eine letzte Frist, ehe er zur Polizei gehen wollte. In vier Stunden konnte noch viel geschehen, konnte Karl wieder heimkehren und alles wäre in Ordnung, beinahe, bis auf die Sache mit Melanie. Er stellte sich den Wecker auf 19 Uhr und legte sich erschöpft auf das Sofa. Er musste vorher noch in der Klinik Bescheid geben, dass er verhindert war, dringender Fall im Krankenhaus.

Frau Linder begegnet Herrn Kenter in der Bücherei
Freitag, 17 Uhr
Frau Linder hatte sich Bücher zurücklegen lassen. Sie brauchte sie am Wochenende. Melanies Fehlen beschäftigte sie immer noch. Herr Kenter, der Büchereimitarbeiter, suchte ihr die zurückgelegten Bücher heraus. Er wusste, dass sie Lehrerin war, deshalb sprach er sie wohl an. „Sie unterrichten doch hier an der Grundschule, nicht wahr?“, begann er freundlich. „Ja, Ja, in der dritten Klasse.“ Frau Linder wunderte sich etwas, da Herr Kenter sonst immer sehr zurückhaltend war.
„Ich habe einem Mädchen versprochen, die Bremsen an ihrem Fahrrad zu reparieren. Sie brachte das Rad gestern Nachmittag vorbei, wirkte etwas durcheinander und hatte keine Zeit zu bleiben. Ich sah, wie sie sich vor der Bücherei mit einem seltsamen jungen Mann traf, der einen kleinen Hund dabei hatte.“
„Melanie Ascher?“, platzte Frau Linder überrascht hervor.
„Genau, Melanie Ascher. Aber seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Mutter ist gestern unerwartet ins Krankenhaus gekommen.“
„Wissen Sie mehr darüber? Ich bin Melanies Lehrerin und heute fehlte sie unentschuldigt, ihre Mutter war auch nicht zu erreichen. Ich mache mir schon große Sorgen.“
„Ich tratsche sonst gewiss nicht, aber in diesem Fall sollten Sie wissen, dass Frau Ascher sich im Krankenhaus befindet, seit gestern Abend.“ (Donnerstagabend) Fragend schaute er die Frau an, die auf eine Erklärung wartete. „Sie haben keine Ahnung, oder?“, wollte er wissen. Verwirrt schüttelte Frau Linder den Kopf.
„Wovon sollte ich eine Ahnung haben? Ich verstehe nicht …“
Herrn Kenter war es sichtlich unangenehm darüber zur reden, aber auch er machte sich große Sorgen um Melanie. Zögernd begann er.
„Also, es ist so, dass Frau Ascher alleinstehend ist und dass sie gerne Alkohol trinkt, meistens Bier. Melanie versucht das immer zu vertuschen, entsorgt die Flaschen heimlich, aber ich habe sie zufällig dabei gesehen und auch die anderen im Haus wissen Bescheid. Wenn Melanie in der Schule ist, trinkt Frau Ascher eben auch und zwar auf dem Balkon, wo viele sie sehen können. Gestern aber, als Melanie nicht von der Schule nach Hause kam, dachte sie, ihre Tochter sei bei einer Geburtstagsfeier eingeladen. Melanie hätte ihr das so gesagt. Sie würde also später heimkommen. Frau Ascher nutzte die freie Zeit, um unbekümmert trinken zu können. Vergaß dann, dass sie Spätschicht hatte, wurde von ihrem Chef angerufen und stolperte, als sie – wohl schwer betrunken – das Haus verlassen wollte, um in die Arbeit zu gehen. Sie stürzte die Treppe hinunter, blieb dort liegen. Ich hatte Lärm gehört, ein lautes Poltern gefolgt von schmerzvollem Stöhnen, daraufhin rannte ich gleich hinaus, um helfen zu können. Frau Ascher lag seltsam verkrümmt im Treppenhaus, stöhnte immer wieder vor Schmerzen und lallte , dass sie in die Arbeit müsse, ihr neuer Chef käme sie sonst holen, er hätte schon angerufen. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Da rief ich den Notarzt, der einen offenen Beinbruch feststellte. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, musste allerdings erst wieder nüchtern werden, ehe sie operiert werden konnte.“ Nachdenklich machte Herr Kenter eine Pause.
„Aber Melanie, von ihr weiß ich nichts. Ich hatte ihr einen Zettel an die Wohnungstür geklebt und sie gebeten, sich bei mir zu melden, es wäre sehr wichtig. Der Zettel hing heute Morgen noch dort.“ Er zuckte ratlos mit den schmächtigen Schultern. Frau Linder wurde erneut gepackt von ihrer quälenden Unruhe.
„Melanie fehlte heute unentschuldigt in der Schule. Ich habe vor ein paar Stunden schon versucht mit ihrer Mutter in ihrer Wohnung zu reden. Leider öffnete dort niemand. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie im Krankenhaus liegt.“ „Sollen wir die Polizei anrufen?“, schlug Herr Kenter vor.
„Nein, ich rufe erst meinen Chef an, vielleicht weiß er inzwischen etwas über Melanie.“
Aufgeregt griff Frau Linder zum Handy. Ihr Chef war nicht erreichbar.
Sie hinterließ folgende Nachricht: Frau Ascher liegt seit gestern Abend im Krankenhaus. Keine Spur von Melanie. Polizei informieren?

Melanie
Karl ist doch verrückt. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über ihren Hals. Gott sei Dank, alles schien in Ordnung. Sie hatte schon gedacht, jetzt müsse sie sterben, sterben wie Bettina. Hatte Karl Bettina vielleicht doch umgebracht? Es schien ihr jetzt durchaus möglich. Sie meinte noch seine kräftigen Hände auf ihrem Hals zu spüren. Ohne Tonne wäre sie tot. Tonne hatte sie gerettet. Im letzten Moment musste er Karl angegriffen haben, der plötzlich aufschrie und sie so heftig wegstieß, dass sie erst auf die Knie fiel, ehe sie sich aufrappelte, immer noch entsetzt und davon stolperte, von dem einzigen Gedanken besessen: weg, weit weg.
Sie war gerannt, wollte nur heim, sich einschließen in ihrem Zimmer, wollte nur Sicherheit hinter verschlossenen Türen. Endlich, schweißgebadet, schloss sie die Wohnungstür auf, drehte gleich den Schlüssel wieder um, nachdem sie im Gang war. Ihre Mutter hatte Nachmittagsschicht, zum Glück, sie konnte jetzt nicht reden, unmöglich, ohne in Tränen auszubrechen, die sie nicht erklären wollte.
Es roch schon wieder nach abgestandenem Bier. Wie sie diesen Geruch hasste. Widerlich. Eilig riss sie ein Fenster auf, dabei entdeckte sie den Brief, der auf dem Fensterbrett lag. „Jugendamt“. Erschrocken griff sie danach. „Jugendamt“. Das Wort jagte ihr erneut Angst ein. Sie begann zu lesen, verstand wenige Sätze. „Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Tochter Melanie vorübergehend von einer Pflegefamilie betreut werden wird, sofern Sie nicht bereit sind, Ihren Alkoholkonsum einzuschränken. Das Sorgerecht für Ihre Tochter muss Ihnen dann entzogen werden …“
Aufgewühlt faltete Melanie den Brief zu einem winzigen Viereck und versteckte ihn in ihrem Geldbeutel. Das Briefkuvert zerriss sie in winzige Flocken, die sie ganz unten im Abfalleimer verbarg. Weinend warf sie sich auf ihr Bett, drückte ihr Gesicht in das weiche Fell ihres Stoffhundes, der sie schon oft getröstet hatte. Erschöpft schlief sie ein.

Melanies Mutter im Krankenhaus
Freitag, 17 Uhr
„Sie wissen also wirklich nicht, wo Ihre Tochter sich aufhält?“
Der Arzt sah Frau Ascher aufmerksam an. Sie war wieder nüchtern, hatte die Operation gut überstanden und war wieder ansprechbar.
„Melanie?“, flüsterte die Frau besorgt. „Was ist mit Melanie?“ Der Arzt griff nach ihrer Hand, ertastete unauffällig den Puls. „Sie ist nicht in der Wohnung. Seit gestern Abend hat sie niemand mehr gesehen.“
„Aber …“ Mühsam dachte die Frau nach. Der Arzt konnte an ihrem blassen Gesicht förmlich erkennen, wie sie klare Gedanken zu fassen versuchte.
„Sie war bei einer Geburtstagsfeier eingeladen, am Donnerstag.“
„Wissen Sie bei wem?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe den Namen vergessen.“
„Ihr Schulleiter wollte schon mit Ihnen sprechen. Ihre Tochter Melanie geht in die dritte Klasse, 3 b, nicht wahr?“
Frau Ascher nickte.
„Die Lehrerin hatte bei allen Kindern angerufen. Leider konnte sie nichts über Melanie erfahren.“
„Was machen wir jetzt?“,  fragte die Frau zaghaft.
„Wenn wir nichts erfahren, müssen wir die Polizei informieren. Aber Melanie taucht sicher bald wieder auf.“
Ihm war der Schreck nicht entgangen, der Frau Aschers Gesicht durchzuckte, als er das Wort „Polizei“ erwähnte. Sekunden später schlief sie ein. Das Beruhigungsmittel zeigte seine Wirkung. Im Schlaf entspannte sich ihr Gesicht. Grübelnd blickte der Arzt sie an.

Frau Linder – Arzt
Freitag, 20 Uhr
Telefonat

„Hier Linder.“
„Dr. Hauser. Haben Sie noch etwas erreichen können?“
„Nein. Nachdem ich alle Kinder der Klasse angerufen habe, weiß ich nur, dass niemand  am Donnerstag eine Geburtstagparty feierte. Merkwürdig. Einige Kinder haben auch seltsame Bemerkungen gemacht über Melanie und ihren komischen Freund, mit dem sie sich auf dem Spielplatz oft trifft. Genaueres wollten sie aber nicht rausrücken. Irgendetwas stimmt da nicht, ich habe so ein seltsames Gefühl. Was meinen Sie dazu?“
„Ich werde die Polizei benachrichtigen. Ich denke wir haben lange genug gewartet.“
„Ja, bitte, tun Sie das.“

Tonne

15 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Depression, Freundschaft, Gewalt, Hund, Leben, Liebe, Schule, Schwester, Tod, Tonne, Verzweiflung

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text  „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Bettina (1)

Kleine, weiche Finger, die vorsichtig einen Bauklotz auf den anderen stapeln, dunkle Augen, die konzentriert die wachsende Höhe des Turmes verfolgen, in Vorfreude aufblitzender Tri-umph: Sie würde Siegerin bleiben, den höchsten Turm bauen, während er durch eine ungeschickte Bewegung seinen Turm polternd zum Einsturz bringen wird, in der Vorfreude auf ihr strahlendes Gesicht, das so stolz sein würde darüber, den großen Bruder besiegt zu haben. Kleine Hände, die vor Freude klatschen. Er kann sich nicht satt sehen an der kleinen Person, die ihm wie ein Wunder erscheint. Alles so klein und doch so perfekt. Er liebt es, sie zu halten, ganz zart, behutsam, um ihr ja nicht weh zu tun, er liebt es, ihre zarte, warme Haut zu spüren, über ihre Hände zu streichen und ganz besonders liebt er es, sie zu trösten, ihre Tränen zum Versiegen zu bringen, die nach einem Sturz über ihre Backen kullern, glasklar wie Perlen. Sie wirft sich in seine Arme, schmiegt ihr Köpfchen mit den wirren Haarsträhnen an seine Schulter, er streicht ihr ganz zart über den bebenden Rücken, der sich unter seinen Händen rasch beruhigt, genießt kurze Zeit die Wärme des kleinen Körpers, spürt das Glück, das sich wie eine warme Welle in ihm ausbreitet, das Glück über das Vertrauen, das sie ihm schutzsuchend ent-gegenbringt. Er, der große Bruder, von vielen verachtet, nicht für voll genommen, über den die Leute reden, sie macht ihn stark und froh. Bettina.
Auch die Mutter verhält sich anders seit Bettina da ist. Sie schaut ihn manchmal ganz seltsam an, als ob sie nicht wisse, was sie von ihm halten solle. Er fühlt es ganz tief innen, sie misstraut ihm noch immer. Er weiß es schon lange, dass sie ihn nicht so lieben kann wie Bettina, nie wird sie ihn so lieben können: so frei und unbeschwert, so zärtlich und sorgsam. Aber Bettina, auch das fühlt er, fühlt es seit sie laufen kann, Bettina vertraut ihm, sucht seine Nähe, braucht ihn als Spielgefährten und Beschützer, ihn den großen Bruder, von dem niemand etwas wissen will.
Bettina, die abends ungestüm ihre Arme um seinen Hals schlingt, ihm einen feuchten Kuss auf die Wange drückt und ihm gute Träume wünscht.

Erste Begegnung auf dem Spielplatz (Melanie, Karl, Tonne)

Schwanzwedelnd kam der Hund auf sie zu und sprang an ihr hoch. Ohne Angst kraulte sie sein struppiges Fell und ließ es zu, dass er ihre Hand beschnupperte, spürte die kühle feuchte Schnauze auf ihrer Haut und war einfach glücklich.
„Tonne“, eine Stimme riss sie aus ihrem Glück und überrascht blickte sie in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. „Tonne, lass das, komm zu mir!“, diesmal klang die Stimme energischer und der Hund gehorchte widerstrebend. Da sah ihn das Mädchen zum ersten Mal, den jungen Mann, der vor ihr stand in auffälliger Kleidung, einen Müllsack in der einen Hand haltend, während er mit der Leine in der anderen Hand aufgeregt herumfuchtelte. „Komisch“, war ihr erster Gedanke.
Sie setzte sich auf eine freie Schaukel, begann sich rhythmisch in die Luft zu schwingen und ließ das seltsame Paar nicht mehr aus den Augen.
Der Mann mit der schmuddeligen, viel zu langen, an den Rändern ausgefransten Hose, begann systematisch im Papierkorb zu wühlen und ließ ab und zu etwas in dem Müllsack verschwin-den, den er anschließend sorgfältig mit einem Stück schmutziger Schnur verschnürte. An seinen bewegten Lippen konnte sie erkennen, dass er ununterbrochen vor sich hinmurmelte. Sprach er mit sich selbst oder mit dem Hund? Sie wusste es nicht. Die beiden waren zu weit von ihr entfernt.
„Tonne.“ Der Hund schien wohl „Tonne“ zu heißen, das klang irgendwie verrückt, aber auch lustig. „Tonne“. Mehrmals kostete sie es aus, diesen Namen auszusprechen, mal laut, mal leise, während der Hund und sein seltsamer Begleiter sich inzwischen vom Spielplatz entfernt hatten. Vielleicht waren sie unterwegs zu weiteren Papierkörben.
In Gedanken versunken schaukelte das Mädchen weiter, genoss das unablässige Auf- und Absteigen und hoffte, den beiden wieder zu begegnen, vor allem dem Hund.

Seit der ersten Begegnung trieb sie sich öfter auf dem Spielplatz herum, immer mit suchenden Augen, immer hoffend auf eine erneute Begegnung. Freunde hatte sie keine, da war es ziemlich egal, wo sie sich aufhielt. Allerdings, bei ihrer Mutter wollte sie nicht sein, zu Hause, das kein wirkliches Zuhause für sie war, sondern eine vergammelte Wohnung, in die sie keine Kinder mitbringen durfte, weil dann Gerüchte entstehen würden, die eigentlich keine waren, da sie ja der Wahrheit entsprachen: Ihre Mutter trank, leise, unauffällig, aber immer häufiger.
Überall entdeckte sie die verborgenen Flaschen, teilweise noch Reste enthaltend, stinkige Reste, die in ihr Ekel und Abscheu erzeugten. Heimlich schaffte sie die Flaschen weg, brachte sie, versteckt in Pappschachteln oder eingewickelt in altes Zeitungspapier, aus dem Haus. Keiner hatte ihr das aufgetragen, niemand hatte ihr verboten, Freunde mitzubringen, einzig ihre Scham verbot das einfach. Sie war sich absolut sicher, dass es nicht gut wäre, jemand in ihr Zuhause, zu ihrer Mutter zu bringen.
Ein Tier wäre da etwas anderes, ein lebendiges Wesen, das schweigen könnte, dem man alles anvertrauen könnte und mit dem man kuscheln könnte. Ein Tier, dachte sie sehnsüchtig, würde mich nicht verraten, sich nicht über mich lustig machen. Als Tier kam für sie nur ein Hund in Frage, aber ihre Mutter war strikt dagegen.
„Tonne“. So ein Hund wie Tonne, das wäre ihr ersehnter Freund. In Gedanken beschäftigte sie sich nun oft mit Tonne, überlegte, was sie alles mit ihm machen könnte, träumte von geheimen Abenteuern. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Zweite Begegnung auf dem Spielplatz ( Melanie, Karl, Tonne)

Nach Wochen erst traf sie den Hund und sein Herrchen wieder, an einem Tag, an dem sie nicht mit den beiden gerechnet hatte. Es nieselte und der Spielplatz war leer, als sie ankam. Minuten später entdeckte sie Tonne, der ihr, die Schnauze tief am Boden haltend, konzentriert schnüffelnd, entgegenkam. „Tonne“, rief sie leise, „Tonne, komm her.“ Sie ließ sich in die Hocke fallen und breitete die Arme aus. Tonne spitzte die Ohren, sprang stürmisch heran und warf sie beinah um, während sie ihn streichelnd festhielt und wie einen alten Freund begrüßte, das Gesicht in sein feuchtes Fell drückte, den bitteren Geruch einatmete.
Sein Begleiter, der junge Mann, der verlottert gekleidet war, kam ebenfalls näher und blickte sie zum ersten Mal aufmerksam an. Sie wich seinem Blick nicht aus, hielt ihm trotzig stand. Plötzlich bemerkte sie ein Aufleuchten in seinem Gesicht, als ob er sie erkannt hätte. „Engel“, murmelte er heiser, „mein Engel ist wieder da.“ Völlig unerwartet trat er auf sie zu und hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest, ganz kurz nur und mit unendlich zarter Geste und trotz-dem stockte ihr der Atem und sie hielt die Luft an, spürte einen Moment lang eine schreckliche Angst in ihrem Körper aufsteigen, die sich als Hilfeschrei lösen wollte. Da sah sie ihm erneut in die Augen, entdeckte dort nichts Böses, entdeckte freudige, ungläubige Überra-schung, Schmerz und Liebe. „Mein Engel“, flüsterte er immer wieder. Ein Gefühl der Beklommenheit ließ sie starr stehen bleiben, abwartend, was weiter geschehen würde. Abrupt wandte er sich wieder von ihr ab, das warme Leuchten auf seinem Gesicht, das ihn so jung erscheinen ließ im Gegensatz zu seinem alt wirkenden Körper, war erloschen. Gleichgültig strebte er wieder auf einen Papierkorb zu und machte sich daran, ihn zu durchwühlen, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken.
Entschlossen näherte sie sich ihm und blickte ebenfalls neugierig in den Papierkorb, beobachtete gespannt, welche Dinge herausgefischt wurden und nach eingehender kritischer Begut-achtung im Müllsack landeten. Glitzernde Abfälle waren das, silberne Kaugummipapiere, Flaschendeckel, Stanniolpapier, Glasscherben.
Sie streichelte den Hund und redete leise mit dem Tier, da begann der Mann erneut sie wahrzunehmen.
Vorsichtig zog er etwas Zerknittertes aus seiner Jackentasche, warf einen langen Blick darauf und reichte ihr zögernd das schmutzige Etwas, das sie als ein kleines Bild erkannte, ein Sterbebild mit aufgedrucktem Foto. Sie nahm es neugierig in die Hand und betrachtete verblüfft das kleine Foto: Ein Mädchen blickte sie aus dunklen Augen aufmerksam an, ein Mädchen, das ihre Zwillingsschwester hätte sein können. Sie versuchte den Namen und die Daten darauf zu lesen. Bettina hieß das Mädchen, war vor vier Jahren gestorben an einem 10. August im Alter von fünf Jahren. Das tote Mädchen wäre jetzt genauso alt wie sie. „Mein Engel“, murmelte der junge Mann entzückt und ganz allmählich begann sie zu begreifen: Der Engel war wohl das junge Mädchen, der Engel hieß Bettina.
Der Mann benahm sich sehr seltsam. Wieder wühlte er in seiner Jackentasche und zerrte einen kleinen Gegenstand heraus, den er liebevoll anblickte und ihr stumm entgegenhielt. Als sie danach greifen wollte, steckt er ihn jedoch schnell wieder zurück in die ausgebeulte Tasche. Aber sie hatte schon erkannt, was er ihr gezeigt hatte: Es war eine winzige Puppe in Form eines Engels. Bettina, der Engel, sein Engel. Wer das wohl gewesen war?
„Ich heiße Melanie, und du?“, fragte sie den jungen Mann. Er reagierte nicht. Sie klopfte sich an die Brust: „Ich – Melanie und du?“, begann sie noch einmal. Endlich begriff er. „Karl“, sagt er, „ich bin Karl.“

Tonne sprang zufrieden um die beiden herum und blickte sie immer wieder abwartend an. Es war neu, dass sein Herrchen mit jemand sprach, der Hund fühlte das sofort.
„Was machst du da?“ wollte Melanie wissen.
Karl wühlte wieder im Müll.
„Schatz“, antwortete er.
„Du suchst einen Schatz?“, bohrte Melanie ungläubig nach.
„Schatz“, wiederholte Karl einsilbig.
„Wer ist Bettina?“,  fragte das Mädchen energisch.
„Engel. Mein Engel im Himmel.“
„Zeig mir Bettina noch einmal. Ich möchte das Bild noch einmal sehen“, forderte das Kind.
Karl hörte mit dem Herumwühlen auf und blickte sie erstaunt an. „Bettina. Zeig mit Bettina noch einmal. Bitte.“
Vorsichtig brachte Karl das kleine Bild erneut zum Vorschein, betrachtete aufmerksam das Foto und Melanie, vergleichend wanderten seine Augen vom Bild zum Kind. Endlich überließ er Melanie das Bild. Sie sah es aufmerksam an, fasziniert von der Ähnlichkeit, fast könnte es ihr Spiegelbild sein. Es erinnerte sie an eines der wenigen Bilder, die es von ihr gab, aufgenommen während sie die Zähne putzte und dabei Grimassen schnitt mit Schaum vor dem Mund.
Wie war das möglich? Diese Bettina sah ihr zum Verwechseln ähnlich.
Ein zarter Finger strich über ihr Gesicht, behutsam, leicht wie eine Feder. „Mein Engel ist wieder da.“
Hier lag eine Verwechslung vor. Sie begriff: auch Karl hatte diese Ähnlichkeit entdeckt, aber sie war nicht Bettina, war kein Engel, nein. Entschieden wandte sie sich ab. Karl schwieg, obwohl sie mehrmals versuchte hatte mit ihm über Bettina zu sprechen. Er zog sich in sich zurück, wirkte unnatürlich, beinahe feindselig und in ihr stieg Beklommenheit hoch. Sie dachte an die Mahnungen ihrer Mutter, der Lehrerin und auch der Kindergärtnerin, die sie immer in den Wind geschlagen hatte. „Geh nicht mit fremden Menschen mit, sie können dir Böses antun.“
Plötzlich tauchten Bilder auf aus dem Fernsehen, aus Zeitungen, vermisste Mädchen, auch Jungen, die tot aufgefunden worden waren, misshandelt, verscharrt, versteckt, zerstückelt. Hatte Karl Bettina umgebracht? Nein, dann gäbe es kein Sterbebild für ihn, oder doch?

Dritte Begegnung: Melanie verfolgt Karl heimlich
Es dämmerte schon, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig zum Abendessen daheim zu sein, falls es eins gab. Nichts war sicher im Zusammenleben mit ihrer Mutter, nur auf eines war Verlass, es gab kein geregeltes Familienleben. Erstaunt lauschte sie oft den Berichten ihrer Mitschülerinnen, wenn sie über ihre Wochenenden berichteten, hörte von Zoobesuchen, Wanderungen, Ausflügen und Treffen mit Freunden. Auch sie wurde immer wieder freundlich aufgefordert, sich am Gespräch, im Stuhlkreis sitzend, zu beteiligen. Verbissen schwieg sie, lehnte jegliche Teilnahme ab. Erst in den letzten Wochen gab sie ihren Widerstand auf, berichtete ebenfalls, allerdings war alles erfunden. Am Abend vorher hatte sie es sich ausgedacht, ja sogar aufgeschrieben, damit sie sich nicht zu oft wiederholte. Es begann ihr sogar Spaß zu machen, zu lügen, ohne dass dies jemand ahnte, oder vielleicht ahnte die Lehrerin doch etwas, die hatte sie so prüfend angeschaut, aber weiter nichts dazu gesagt, was Melanie als stummes Einverständnis auffasste.
Jetzt aber hatte sie wirklich eine Geschichte, aber die würde ihr Geheimnis bleiben. Sie wollte herausfinden, was die Sache mit Bettina auf sich hatte. Sie musste mehr über Karl wissen. Über Karl und Tonne.
Seit der zweiten Begegnung begann sie immer öfter in Gedanken abzuschweifen, dachte immer häufiger über das Sterbebild nach.
Regelmäßig umkreiste sie den Spielplatz, aber Karl und Tonne tauchten nicht auf. Enttäuscht ging sie dann wieder heim oder, wenn sie dazu keine Lust hatte, trieb sie sich in den großen Möbelgeschäften im nahen Gewerbegebiet herum. Da wurde es nie langweilig, stundenlang konnte sie sich dort umsehen, Dinge in die Hand nehmen, Stühle ausprobieren, auf bequemen Sofas sitzen und Leute beobachten.
Am letzten Mittwoch flüchtete sie sich vor dem kalten Regenschauer wieder in das Möbelgeschäft, genoss die Wärme dort. Auf dem Heimweg warf sie prüfende Blicke zu den bis zum Rand gefüllten Papierkörben auf dem Parkplatz. Da entdeckte sie Karl, der gerade seinen blauen Müllsack, der ziemlich voll aussah, sorgfältig verschnürte und sich dann von ihr entfernte, Tonne an seiner Seite. Er hatte sie nicht bemerkt.
Ohne nachzudenken rannte sie den beiden hinterher und plötzlich kam ihr die Idee der heimlichen Verfolgung. So konnte sie vielleicht herausfinden, wo Karl wohnte. Der Gedanke machte sie froh. Karl bewegte sich ziemlich flott, schien jegliches Interesse an Müll verloren zu haben, hatte wohl ein bestimmtes Ziel im Kopf. Immer konzentriert darauf, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren, achtete Melanie nicht auf den Weg und stellte schließlich überrascht fest, dass sie am Friedhof angekommen waren. Hunde waren dort eigentlich verboten, aber Karl kümmerte das nicht. Eilig durchquerte er das Gelände und fand in dem Geflecht der Gräberreihen den richtigen Weg. Endlich. Er blieb stehen. Melanie verbarg sich hinter einem Strauch. Karl öffnete seinen Müllsack und fischte darin herum, zog einen Gegenstand heraus, der kurz aufblitzte, als ihn ein Sonnenstrahl, der unerwartet hinter einer dunklen Wolke hervorbrach, traf und legte ihn auf das Grab. An den bewegten Lippen erkannte sie, dass er wieder vor sich hinmurmelte, ununterbrochen.

Wish you were here – Kapitel 12

19 Dienstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Schule, Tod, Trauer, Unfall

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 12 – Den Gang entlang (letztes Kapitel)

Am Ende des düsteren Ganges sah ich dich wartend stehen. schon ein bisschen ungeduldig. Endlich. Ich durfte die Verantwortung für kurze Zeit abgeben, du warst gekommen, um dein Projekt „Toleranz“ weiterzuführen. Nun wurde ich zum Beobachter.

Die Motivation der Schüler hatte allerdings bereits nachgelassen. Viele fühlten sich gekränkt, weil sie als einzige Klasse unserer Schule, diese Extrabetreuung erhielten. Sie fühlten sich bestärkt darin, die „schlimmste Klasse“ zu sein. Sie wollten nicht länger therapiert werden, brauchten keinen „Seelenklempner“. Vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht schämten sie sich vor den anderen Schülern. Wie die Eltern sich zu unserem Projekt verhielten blieb ungeklärt. Die Kinder wollten es jedenfalls nicht mehr nötig haben, „behandelt“ zu werden.

Alles Vermutungen, die mir jetzt im Nachhinein durchaus denkbar erscheinen. Auch darüber hätte ich gerne noch mit dir geredet. Wish you were here.

Deine letzte Projektstunde fand ohne mich statt. Von meinem Chef erfuhr ich, du wolltest alleine mit den Kindern sein, hattest vor, später bei einer Tasse Kaffee dann noch mit mir über die Klasse sprechen.

Zugegeben, ein wenig enttäuscht war ich zunächst schon. Hatte ich doch gehofft, diesmal wäre endlich Zeit, eine Art Verhaltenstraining durchführen zu können. Endlich Praxis, statt Theorie. 

 „Was erwarten Sie sich eigentlich von Therapien? Versprechen Sie sich nicht zu viel davon.“ Mein Schulleiter

*

Es war mein freier Tag und deine letzte Stunde in dieser Klasse. Über deren Verlauf erfuhr ich nichts, weder von dir noch von meinem Schulleiter. Schließlich fragte ich bei den Kindern nach und Jürgen berichtete mir, dass du die Stunde abgebrochen hattest, weil die Klasse sich unmöglich verhalten hatte. Du warst nach Rücksprache mit dem Schulleiter einfach gegangen. Mein Chef hatte den Unterricht daraufhin übernommen.

Ich war entsetzt. Nichts hatte sich geändert. Die Schüler schwiegen teilnahmslos, niemand sprach den Ablauf dieser Stunde an.

Was damals niemand wusste: Es war deine letzte Stunde, die du an unserer Schule verbracht hattest. Tage darauf kam die schreckliche Nachricht. Motorradunfall, tödlich. Ein Sonntagsausflug ohne Rückkehr.

*

Kurz vor Acht. Ein schwerer Tag begann.

Schon auf dem Gang rannten sie mir entgegen, Michaela, Rita und Barbara, die Gesichter verweint, aufgelöst, ratlos, hilflos und ich spürte wie sich kalt die Angst in mir hoch schlich, die Angst vor dem, was ich gleich erfahren würde, ich wehrte mich innerlich, wollte nicht wissen, was ich schon wusste, meine Ahnung wurde zur grausamen Gewissheit, der verunglückte Motorradfahrer, von dem ich gehört hatte: du warst das gewesen. Gewesen, welch furchtbares Wort, gewesen, wo du doch sein solltest, hier, bei uns sein solltest. Tröstend legte ich den Arm um die fassungslosen Mädchen, verzweifelt hielten wir uns aneinander fest, stumm.

Wie sollte ich der Klasse mitteilen, was passiert war? Einige Schüler hatten es schon gehört, manche fragten nach, ob das auch stimme. Die meisten waren betroffen, nur der „harte Kern“ konnte sich keine Blöße geben und zog die trauernden Kinder ins Lächerliche.

Ich durfte das wohl nicht erwarten, aber ich tat es doch, erwarten, dass alle von deinem plötzlichen Tod berührt wurden, von dem Unbegreiflichen, dem Endgültigen, dass du nie mehr zu uns kommen wirst. Vorbei deine letzte Stunde, die du abbrechen musstest, keine Gelegenheit zur Wiederholung, keine Möglichkeit der Aufarbeitung.

Ich dachte an deine letzte Begegnung, dein letztes Gespräch mit mir und an die Tasse Kaffee, die wir zusammen trinken wollten. Wish you were here.

Wie gerne wäre ich geflüchtet, weit weg an einen verborgenen Platz, um mich der Trauer, die mir die Kehle zusammenschnürte, endlich überlassen zu können, um ungestört die Tränen weinen zu können, die ich gewaltsam zurückdrängte. Aber ich musste bleiben und – wollte ich nicht noch mehr verwundet werden – in eine Maske schlüpfen, die grausame Maske der Gleichgültigkeit. Das Versteckspiel begann.

*

Verstecken

Kann es sein, dass wir uns voreinander verstecken, um nicht verwundbar zu sein?

Können wir nicht mehr zeigen wie wir wirklich sind aus Angst getroffen zu werden?

Schützen wir uns mit Masken, die unsere wahren Gefühle verbergen?

Bauen wir Mauern aus Gleichgültigkeit, Hohn, Spott, Aggression als Schutz vor zu viel  Nähe?

*

Die letzten Tage des Schuljahres mussten noch durchgestanden werden. Für die Erstellung der Zeugnisse verbrachte ich unzählige Stunden vor dem PC, aber ich wusste auch, diese Klasse durfte ich abgeben. Bald.

Ein letztes Mal ließ ich die Gesichter meiner Schüler noch einmal auftauchen vor meinem inneren Auge, versuchte ihnen gerecht zu werden beim Schreiben der Zeugnisbemerkungen, ehe ich sie frei gab, sie los ließ, mich von ihnen verabschiedete.  Letzte Arbeiten, die noch erledigt werden mussten. Schon zählte ich die Tage, die ich noch durchhalten musste.

23. Juli. Da ist es dann passiert, einige Tage vor dem letzten Schultag. Ich verbrachte den Nachmittag in der Schule, mein Fahrrad hatte ich in der Radhalle abgestellt.

Auf dem Heimweg wollte ich unterwegs noch etwas für das Abendessen besorgen, mir eine kleine Belohnung gönnen, einen Blumenstrauß vielleicht? In Gedanken ging ich schon die Einkaufsliste durch, fuhr mit dem Rad schwungvoll über den Randstein des Bürgersteiges, sah mich suchend nach einem freien Platz um, als ich plötzlich wie ein Stein auf dem Boden aufprallte. Ein rasender Schmerz in meinem linken Knöchel trieb mir die Tränen in die Augen, automatisch wischte ich mit meiner Hand über die Augen, schmeckte etwas Salziges und gleichzeitig Süßes in meinem Mund. Verwundert betrachtete ich meine Finger, sie waren blutverschmiert und tränennass. In meinem Gesicht brannte ein höllisches Feuer.

Fremde Menschen beugten sich über mich, redeten beruhigend auf mich ein, riefen den Krankenwagen, der mich ins Krankenhaus brachte.

Stunden später stand ein Polizeibeamter vor meinem Bett, registrierte kurz mitfühlend mein plumpes Gipsbein, den unförmigen Verband in meinem Gesicht. Er lächelte mir aufmunternd zu. „Frau Marau, kaum zu glauben, aber an Ihrem Fahrrad hat jemand mutwillig Schrauben gelockert. Da wollte Ihnen jemand übel mitspielen. Haben Sie einen Verdacht?“

Alles nur Spaß, dachte ich, alles nur Spaß, und ich erzählte von dem mutwilligen Kratzer in meinem Auto, vom Hass einiger Schüler auf mich, von den Böllern im Briefkasten. Namen konnte ich keine nennen.

Aber die Polizei fragte nach, ein Beamter sprach in meiner Klasse mit den Kindern, Zeugen wurden gesucht, viele Schüler wurden befragt. Der Täter würde nie gefunden werden, das war meine Meinung, jetzt hatten sie mich also doch  noch erwischt. 

„Nehmen Sie es nicht persönlich.“ „Ich hasse Sie.“ 

Am letzten Schultag meldete sich völlig überraschend eine Zeugin. Ein Mädchen, das als sehr zurückhaltend bekannt war, das kaum mit anderen sprach, wagte es, eine Aussage zu machen.

„Ich wollte mit meiner Freundin nachmittags  zum Spielplatz. Wir trafen uns um drei Uhr vor der Radhalle. Nur wenige Räder standen da noch drin. Da hörte ich die Stimmen von mehreren Jungs. Sie flüsterten. Das kam mir irgendwie komisch vor. Ich kannte sie vom Sehen. Sie haben mich in der Pause schon oft ausgelacht, die sind ganz gemein. Vor denen fürchtete ich mich. Ich wollte am liebsten gleich verschwinden. Da sah ich, dass sie an dem roten Fahrrad von Frau Marau rummachten. Dann kam meine Freundin und wir sind schnell weggefahren.“ 

*

Nach Tagen bestätigte sich mein nie ausgesprochener Verdacht. Es war Klaus, der Schüler, von dem ich angenommen hatte, dass er mich am meisten hasste. Von der Polizei verhört gab er schließlich zu, Schrauben an meinem Fahrrad gelockert zu haben. Seine Idee war es gewesen, Freunde hatten ihn dabei unterstützt mit dem nötigen Werkzeug. Einer der Beamten fragte ihn nach dem Grund für diese Tat.

Klaus zuckte mit den Schultern und schwieg.

*

Wish you were here (Song)

How I wish, how I wish you were here.

We´re just two lost souls

Swimming in a fish bowl,

Year after year,

Running over the same old ground.

What have we found?

The same old fears.

Wish you were here.

  

Pink Floyd

 

Wish you were here – Kapitel 11

18 Montag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Mütter, Mutter, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 11 – Schülerportraits

Jürgen, der beliebteste Schüler. Ein stiller, schüchterner Junge, der nie unangenehm auffiel, regelmäßig seine Hausaufgaben machte, sich im Unterricht zurückhielt und meist erst zum Sprechen ermuntert werden musste. Seine besten Freunde befanden sich nicht in der Klasse, aber er kam mit allen gut aus und zeigte sich verträglich. Seltsamerweise gehörte er nicht zu den Opfern. Er wurde respektiert und wohl kaum belästigt.

Allerdings, ich erfuhr es erst in einer deiner Toleranz-Stunden, war es wegen eines beschädigten Federmäppchens zwischen ihm und seinem Nachbarn Florian, der ebenfalls ein ruhiger Typ war, zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen.

Korbinian, ein sehr lebhafter, bestimmender Schüler, hatte sich eingemischt und darauf bestanden, dass die beiden sich bekämpfen mussten, während einige andere Schüler einen Ring um sie herum gebildeten hatten, den sie nicht verlassen durften.

Ich war entsetzt, als ich davon erfuhr, vor allem, weil es nicht bemerkt worden war. Der Kampf hatte in der Pause stattfinden können, weil keiner eingegriffen hatte, weder Pausenaufsicht noch andere Schüler.

Jürgen und Florian war es sichtlich peinlich, dass dieser Kampf angesprochen wurde, während die anderen Beteiligten eher stolz darauf waren, dass es ihnen gelungen war, zwei friedliche Schüler auf Befehl in eine Schlägerei zu verwickeln. Sie hatten die Rächer gespielt, ungefragt und von den beiden auch unerwünscht. Die Rolle der Rächer erlaubte einigen Gewalt auszuüben für einen – in ihren Augen – „guten Zweck“. Das Federmäppchen war so allerdings weiterhin kaputt geblieben, zwei ehemals befreundete Jungen waren, ohne es wirklich zu wollen, aufeinander losgegangen und hatten sich Schmerzen zugefügt, um den beschämenden Worten der Umstehenden ein Ende zu bereiten.

Nach einem Gespräch über den Sinn dieser Schlägerei konnte nur ein Teil der Beteiligten einsehen, dass es sich nicht gelohnt hatte, den Weg der Gewalt zu gehen. Für die einen ein belustigendes Schauspiel, eine Demonstration ihrer Macht, für zwei andere ein demütigender Vorgang. Scham der Opfer vor dem Täter. Gruppenzwang. Scham, ein Grund für die scheinbare Gleichgültigkeit? Scham, ein unerwünschtes, in unserer Zeit selten diskutiertes Gefühl. Ein Gefühl, dass sich niemand leicht eingesteht, weder Lehrer noch Schüler. Scham, ein Gefühl, das verletzbar macht.

*

Da standen sie plötzlich vor der Tür, klingelten Sturm und hielten meinen Sohn Jürgen zwischen sich eingehakt in ihrer Mitte. Mein Gott, er war ganz blass, sein Gesicht blutverschmiert. Er sei bewusstlos gewesen und gestürzt, sagten seine beiden Begleiter, deshalb hätten sie ihn nach Hause gebracht, damit ihm unterwegs nichts passieren würde. ‚So nette Jungs’, dachte ich noch, dankte ihnen und zog meinen Sohn ins Haus. Nachdem er sich das Blut abgewaschen hatte, erfuhr ich nach und nach die ganze Geschichte: Sie hatten ihn vorher verprügelt und auf den Boden gestoßen, vielleicht war er wirklich kurz ohnmächtig gewesen, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, jedenfalls bekamen die „netten Jungs“ es plötzlich mit der Angst zu tun und schleppten ihn nach Hause. Mein Sohn brachte die Zusammenhänge nur stockend hervor, immer wieder bohrte  ich genauer nach, um die Wahrheit zu erfahren. Ehrlich, ich war schon schockiert über diese Kaltblütigkeit: erst jemanden zusammenzuschlagen und ihn hinterher fürsorglich daheim abzuliefern, nicht ohne ihm vorher damit gedroht zu haben, dass er den Mund halten müsse,  sonst würde noch mehr passieren.

Natürlich redete ich auf Jürgen ein und wollte gleich am nächsten Tag zu der Lehrerin gehen, aber Jürgen war total dagegen und heulte los, als ich mit ihm darüber sprach. Er wollte nicht als Schlappschwanz, Muttersöhnchen und Petze dastehen und auch noch ausgelacht werden. Er verbot mir, mit der Lehrerin zu reden. Also, was sollte ich tun? Ich wollte ihn doch schützen und was konnte ich schon von der Lehrerin erwarten? Sie war doch auch hilflos, die Kinder tanzten ihr auf der Nase herum, obwohl sie es wirklich gut mit ihnen meinte und auch Jürgen mit ihr klar kam. Er fürchtete sich nicht vor ihr, sondern vor den anderen, seinen Klassenkameraden.

Seit einiger Zeit probierten sie in der Schule etwas Neues aus, ein Projekt zum Thema „Toleranz“ oder so ähnlich. Jürgen erzählte nicht viel davon, aber andere Mütter, die ich beim Einkaufen traf, waren regelrecht verärgert und meinten, ihre Kinder bräuchten nicht therapiert zu werden, sie bräuchten andere, bessere Lehrer, die sich durchsetzen könnten. Was sollte da ein Sozialpädagoge schon bewirken können? Er kam ja doch nur einige Male, da fiel auch noch der Unterricht aus. Viele der Mütter dachten so. Aber ich, ich hoffte doch, dass das Projekt etwas bewirken könnte und mein Sohn, der freute sich immer auf diese Projekttage. Vielleicht erwartete er sich das Gleiche wie ich: eine Verbesserung der Situation in dieser Klasse.

Aber dazu kam es leider nicht mehr. Nach diesem tragischen Unfall konnte das Projekt nicht mehr zu Ende geführt werden. Alles blieb ungewiss: Hätte es noch etwas bewirken können, wenn das Ende nicht so abrupt eingetreten wäre? Keiner weiß es. Unfassbar war es jedenfalls für meinen Sohn, der um diesen Sozialpädagogen ehrlich trauerte. Die Kinder waren nun wieder allein, konfrontiert mit dessem jähen Ende. Keiner kümmerte sich um sie. Schockiert wohl auch die Lehrerin, die mit den Schülern darüber zu sprechen versuchte, während andere schon wieder spotteten und lachten und Witze rissen. Vielleicht war das ihre Art zu trauern: ‚Nur ja nichts an sich heranlassen, keine Gefühle zeigen, cool bleiben, auch wenn es weh tut, entsetzlich weh tut und auch schrecklich Angst macht.’ Glauben Sie mir, vor dem Tod fürchten sich auch diese Jungs. Schlimm war das, wirklich schlimm.

Und jetzt kommen Sie daher und wollen wissen, wo mein Sohn am Nachmittag des 23. Juli war. Sie werden ihn doch nicht verdächtigen, dabei gewesen zu sein?“  Jürgens Mutter

*

Boris, der unbeliebteste Schüler. Groß, grobkantig, kräftig, aber nie bereit seine Kraft sinnvoll einzusetzen. Er lebte nach dem Lustprinzip: Alles war ihm zu viel, was nach Anstrengung und Arbeit roch. „Keine Lust.“ „Immer müssen wir so viel schreiben.“ Er malte unentwegt auf  Blättern, aber nicht, wenn es seine Aufgabe war, z. B. einen Eintrag zu gestalten. Ein Kind, das sich nicht in der Hand hatte. Er fiel des öfteren vom Stuhl, furzte schamlos, rülpste lautstark, warf im Zorn Stifte und Hefte zu Boden, fälschte die Unterschrift seiner Eltern, versteckte für die Hausaufgaben benötigtes Material in der Schule im Schrank oder unter der Bank. Einziges Ziel schien Provokation zu sein. Er legte es darauf an, mich als  seine Lehrerin, aber auch bestimmte Schüler aus der Fassung zu bringen, indem er sie verbal beleidigte, verhöhnte, beschimpfte, ihre Sachen beschädigte und sie auch körperlich bedrängte. Ein hilfloses Baby in einem viel zu gewaltigen Körper.

Niemand wollte gerne neben ihm sitzen. Als Kleinkind hatte er seine Mutter schon zum Weinen gebracht. Ein einsames Kind.

Korbinian, sehr unbeliebt. Ein Schüler, der unter dem ADS-Syndrom litt und mit ihm litten die Schüler und die Lehrer. Ein gefährlicher Schüler. Er strotzte vor Kraft, war ein leistungsmäßig guter Sportler, aber ohne jede Disziplin und Fairness. „Dann ist er eben kein guter Sportler.“, sagtest du kurz und ich teilte deine Meinung. Seine Mutter, schien überfordert. Sie war berufstätig, alleinerziehend und nicht immer in der Lage, dafür zu sorgen, dass Korbinian regelmäßig seine Medizin einnahm. Ein Ritalinkind, dessen Verhalten stark von der Medikamenteneinnahme abhing. Meist zeigte sich der Junge mir gegenüber unzugänglich und aufsässig, während er sich den Mitschülern gegenüber rücksichtslos verhielt, mit einem bösen Lachen im Gesicht Schläge austeilte, mit  höhnischen Worten andere zum Weinen brachte.

In seltenen Augenblicken erlebte ich ihn ernsthaft und ansprechbar, spürte wie die Mauer, hinter der er sich versteckte, Risse bekam, nahm die andere Seite seines Wesens wahr, die verletzbare, die empfindliche Seite, die er vor anderen meist verbarg, wohl aus Angst, selbst verletzt zu werden. Der Einzige, der die unfassbaren Ereignisse vom 11. September „cool“ und „geil“ fand, was auch die anderen Kinder befremdete.

Manuel, der Schüler aus Amerika. Stark, alle anderen durch seine Körpergröße überragend, auffallend durch seine schwarze Hautfarbe, sein undurchdringliches maskengleiches Gesicht. Verzog mir gegenüber keine Miene, es sei denn er war wütend, dann verlor er die Beherrschung und brüllte mich an. „Ich kann Sie nicht mehr sehen. Halten Sie die Fresse.“ Ein Heimkind, dessen Erzieher sich ehrlich Mühe gab mit ihm. Beide erschienen mehrmals in meiner Sprechstunde. Die Einsicht, die Manuel im Gespräch zeigte, währte meist nicht lange. Er hatte sich hohe Ziele gesteckt, allerdings ohne ernsthaft bereit zu sein, sich dafür langfristig anzustrengen. Seine Leidenschaft war das Zeichnen. Ununterbrochen kritzelte er im Unterricht Figuren. „Reden Sie ruhig weiter. Ich höre schon zu.“

Allmählich fasste er Fuß in der Klasse. Mit ihm wollte niemand in einen Kampf verwickelt werden. 

*

„Ich hasse diese Frau. Was bildet die sich eigentlich ein, wer sie ist? Sie ist schlimmer als meine Mutter, die mir dauernd vorjammert, wie schlimm es mit mir noch enden wird, wenn ich in der Schule nicht aufpasse. Auch diese Lehrerin versucht mich ständig davon zu überzeugen dass es  wichtiger ist, fleißig zu sein und aufzupassen anstatt zu malen. Sie erinnert mich immer an meine Ziele, meine Wünsche, die ich ihr genannt habe, als sie mich danach gefragt hat. Mittlere Reife, ja das wäre schon okay, aber das ist viel zu viel Arbeit, also was soll’s, ich zeichne und male lieber, denn der Unterricht ist mir zu langweilig, viel zu nervig, echt ätzend diese Frau.

 Stimmt, ich kann schon mal ausrasten, wenn sie immer an mir herumkritisiert, ich habe sie auch schon beschimpft, das gebe ich zu, aber den Verweis, den hätte sie besser nicht geschrieben. Weiß sie eigentlich, was das für mich im Heim bedeutet? Sie sperren mich dort ein, ich kann nicht mehr raus wann ich will, auch am Wochenende darf ich nicht zu meiner Mutter, so ein Mist. Sie braucht doch nicht so zimperlich zu sein, „halt die Fresse,“ das ist doch nur so dahin gesagt. Ich werde mich bei ihr entschuldigen, dann wird sie es sicher bleiben lassen.

Sie hat den Verweis nicht zurückgenommen, die blöde Kuh. Ich hasse sie, ich kann sie nicht mehr sehen. Mein Erzieher hält auch noch zu ihr und findet, ich wäre zu weit gegangen. Immer ich! Jetzt kann sie mich mal, ich mache nicht mehr mit.

Ich habe schon gemerkt, dass sie besonders freundlich sein will zu mir. Vielleicht hat sie Angst vor mir? Obwohl, sie ist ganz schön stark, hätte ich nicht gedacht. Sie hat hart zugepackt, als ich auf Boris losgegangen bin, mitten im Unterricht. Ich war so wütend, er hat meine Mutter eine Hure genannt, ich hätte ihn zusammengeschlagen, echt, aber da packte sie mich plötzlich und riss mich von ihm weg. Die ganze Klasse hat da gestaunt. Das hätten sie ihr wohl nicht zugetraut. 

Immer will sie mit mir reden, aber da gibt es nichts zu reden. Es kotzt mich an, dieses Getue um eine kleine Schlägerei. Ist doch nichts passiert. Diesmal nicht, aber vor einem Jahr schon, das stimmt, da hatte ich Pech und musste die Schule wechseln, die haben mich einfach rausgeschmissen, weil ich denen zu gefährlich war. Meine Mutter wäre beinah durchgedreht. Seit diesem Rausschmiss bin ich im Heim gelandet. Ich soll mich anständig aufführen, damit ich auch bleiben darf, aber trotzdem, alles muss ich mir nicht bieten lassen. Ich nicht.“ Manuel

*

Gökhan, ein türkischer Schüler, der im Laufe des Schuljahres zu uns gekommen war. Gleich am ersten Tag hatte er eine brutale Rauferei angefangen. Auch er nicht beliebt, tanzte immer aus der Reihe, konnte weder still sitzen noch konzentriert und ruhig arbeiten. Bewegte sich immer im Klassenzimmer und störte rücksichtslos seine Mitschüler, indem er sie ansprach, beleidigte, anrempelte, ihnen Sachen wegnahm.

Schulmaterial hatte er grundsätzlich nicht dabei. Er fiel immer wieder durch sein aggressives Verhalten auf. Aufgrund seiner schwachen Leistungen hätte er eigentlich die Klasse wiederholen müssen. Aus „pädagogischen Gründen“ ließ ihn mein Chef dann allerdings aufsteigen.

„Warum hast du das zugelassen?“ Sozialpädagoge 

Warum? Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt schon so ausgebrannt und hatte nicht mehr die Kraft, mich mit meinem Schulleiter auseinander zu setzen, obwohl ich es den anderen Schülern gegenüber als sehr ungerecht empfand, immer noch empfinde, aber zu dem Zeitpunkt, da war ich schon total erschöpft, hatte nicht mehr den Mut und die Kraft mich durchzusetzen. Burnout.

Michaela, ein temperamentvolles Mädchen, von dem Manuel sagte: „Die ist doch wie ein Junge, die schlägt doch selbst.“ Sie war in keiner Weise zimperlich, wurde von ihrer Mutter darin bestärkt,  sich nichts gefallen zu lassen.

Interessierte sie der Unterrichtsstoff arbeitete sie lebhaft mit, von Hausaufgaben hielt sie dagegen nicht viel. Mir gegenüber verhielt sie sich unterschiedlich, manchmal kooperativ, aber auch zeitweise feindselig, wusste nicht, auf welche Seite sie sich schlagen sollte.

Von dir war sie sehr begeistert, sie freute sich jedes Mal auf die Stunden, in denen du in die Klasse kamst. Sie blühte richtig auf und wollte dir unbedingt gefallen, von dir beachtet werden. Hast du das bemerkt?

Rita und Barbara, zwei stille, unauffällige Mädchen, die miteinander befreundet waren, hielten – so weit mir bekannt – sich von den Schlägereien fern und arbeiteten im Unterricht bereitwillig mit.

Die beiden waren die einzigen, die sich zuverlässig immer wieder um die Blumen im Klassenzimmer kümmerten.

Wish you were here – Kapitel 10

17 Sonntag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Chef, Eltern, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Schüler, Schule, Schulleiter

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 10 – Hinter meinem Rücken

In diesem ständigen Auf und Ab der Gefühle machte ich die bittere Erfahrung, dass mein Chef mir in den Rücken fiel.

Boris war der erste Schüler, der von dem Klassenausschluss betroffen war. Seine Eltern waren, wie in der Konferenz vereinbart, vom Schulleiter davon benachrichtigt worden. Kurz darauf stellte ich jedoch fest, dass die Eltern der später ausgeschlossenen Schüler dagegen keine Mitteilung erhalten hatten.

Als Grund dafür wurde mir genannt: „Die Mutter von Klaus verträgt das nicht.“

So hatte ich mir die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Eltern nicht vorgestellt. Zum ersten Mal taten sich nach diesen Worten erste, feine Risse auf im Verhältnis zu meinem Chef, die Basis gegenseitigen Vertrauens begann sich ganz langsam aufzulösen, geriet ins Wanken. Aus Vertrauen wurde Misstrauen.

Ich wusste wohl, dass ich mir diese Mutter zur erbitterten Feindin gemacht hatte, weil ich es gewagt hatte, das Verhalten ihres Sohnes zu kritisieren. Sie dagegen unterstützte ihr Kind, sah alle Schuld bei mir, teilte dies sicher auch ihrem Sohn mit, woraus aus seinen aufwieglerischen Äußerungen zu schließen war. Gerade deshalb erschien es mir notwendig, dass mein Chef zu mir stand und sich nicht auf die Seite dieser Mutter stellte, die jeglichen Kontakt mit mir strikt verweigerte.

Die Schüler spürten sofort, dass sie beim Schulleiter nachhaken konnten. Immer öfter fiel im Unterricht der Satz: 

„Das dürfen Sie nicht. Das sagen wir Herrn Gruff.“

*

Boris öffnete ich daraufhin eines Tages die Klassenzimmertür und schickte ihn mit den Worten: „Geh und beschwer dich, aber sofort.“, hinaus. Verunsichert verließ er das Klassenzimmer, vermutlich jedoch ohne ins Büro zu gehen. Auch unser Schulleiter wollte nicht immer gestört werden, auch er konnte sehr unangenehm werden.

In einem vertraulichen Gespräch teilte mir mein Chef mit, dass sich Eltern über mich beklagt hätten, ich wäre handgreiflich geworden. Natürlich wollte ich Genaueres wissen: Welche Eltern? Wie viele? Welche Art von Handgreiflichkeiten wurde mir vorgeworfen?

Herr Gruff gab nach einigem Zögern zu: „Es waren einige Schüler, nicht die Eltern.“ Er hatte mich also angelogen. Der giftige Stachel des Misstrauens grub sich tiefer in mein Bewusstsein. Er hatte also den Schülern sofort geglaubt, ohne mit mir darüber geredet zu haben. Wish you were here.

Um den ständigen Auseinandersetzungen unter den Schülern gezielter begegnen zu können, schlug mir eine Beratungslehrerin vor, in meiner Klasse ein spezielles Soziogramm durchzuführen. Es könnte Aufschluss geben über die innere Struktur der Klasse. Ich willigte ein und wartete gespannt auf die Auswertung des Soziogrammes.

Wochen später traf ich Frau A. im Lehrerzimmer und fragte sie, was aus dem Soziogramm geworden sei. Sie schien ehrlich überrascht: „Haben Sie die Auswertung noch nicht erhalten? Vor ein paar Wochen schon habe ich sie Herrn Gruff gegeben, mit der Bitte, sie an Sie weiter zu reichen.“ Ich hatte die Auswertung nie erhalten. Eine erneute Nachfrage bei meinem Chef ergab, dass er es momentan nicht finde könne und außerdem vertrat er die Auffassung: „Ein Soziogramm entspricht nach vier Wochen sowieso nicht mehr der tatsächlichen Situation.“ Das allerdings war mir neu. Mein Misstrauen begann zu wachsen. Ich entschloss mich, mein eigenes Soziogramm zu machen und nach dessen Auswertung die Sitzordnung der Kinder zu verändern.

Wish you were here – Kapitel 9

16 Samstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Klasse, Lehrerin, Schule, Unterricht

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 9 – Lichtblicke

Unterricht in fremden Klassen, Vertretungsstunden für erkrankte Kollegen übernehmen und feststellen können: Es gab sie auch, freundliche Schüler, die einem das Gefühl vermittelten, an der richtigen Stelle zu sein, die das Lehrer-Sein sinnvoll erscheinen ließen.

Womöglich konnte ich doch mit Kindern umgehen? In meiner Klasse war ich mir dagegen längst nicht mehr sicher, ob ich für den Lehrerberuf geeignet war.

„Das hat Spaß gemacht.“ Schüler einer fremden Klasse

Der Fachunterricht in einer neunten Klasse erschien mir als Erholung im Gegensatz zu meiner Klasse. Auch wenn dort nicht alles glatt verlief, gab es genügend Schüler, die sich am Unterricht beteiligten, ohne einen Großteil ihrer Energie auf die Bekämpfung der Lehrerperson zu verschwenden.

Aber auch in meiner, als so schwierig erlebten Klasse, erlebte ich immer wieder einzelne wertvolle Stunden, die weitgehend störungsfrei verliefen und mir Hoffnung gaben auf bleibende Besserung der Situation.

Mir war klar, dass ich den Blick auf einzelne Schüler richten musste, auf jene, die noch bereit waren, mit mir zu arbeiten. Große Gefahr spürte ich in der in mir aufkeimenden Bitterkeit, die sich immer häufiger bemerkbar machte. An manchen Tagen empfand ich alles als aussichtslos. Einige wenige Schüler aber brachten mich immer wieder dazu, nicht aufzugeben, durchzuhalten, um wenigsten ihnen die Zeit in der Schule angenehm zu gestalten und ihnen die Gewissheit zu vermitteln, sie lernten täglich Neues dazu und vor allem, dass Lernen Freude machen konnte.

Gespräche mit Kindern, die sie freiwillig mit mir führten, in der Pause oder vor bzw. nach dem Unterricht. Gespräche als Vertrauensbeweis.

Lernen macht Spaß. Manchmal gelang es mir, meine eigene Freude und meine Begeisterung auf die Kinder zu übertragen. An solchen Tagen verwandelten sich die Schüler, schlüpften gekonnt und fasziniert in fremde Rollen, erlebten die Römerzeit, fühlten sich als Herrscher, Sklaven, Soldaten, Handwerker, Bauern und Händler, tauchten ohne Scheu ein in eine vergangene fremde Welt, versetzten sich scheinbar mühelos in eine weit zurückliegende Zeit, ließen sich faszinieren, herausreißen aus ihrer stumpfen Gleichgültigkeit. An solchen Tagen war ich glücklich.

Wish you were here – Kapitel 8

15 Freitag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Eltern, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Schüler, Schule

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 8 – Der Lehrer als Sündenbock

„Faul, weltfremd, unbeweglich – keine Beamtengruppe hat so ein schlechtes Image wie die Pädagogen.“ Wirtschaft

*

Scham neben Wut und Betroffenheit. Ich erzählte nur wenigen davon. Wie würden sich andere Lehrer verhalten? Scham, dem Hass der Schüler ausgesetzt zu sein, ohne sich wehren zu können. Über ihre Taten prahlende Schüler, selbst dagegen dazustehen als dummer Lehrer, hilflos.

Mangelndes Durchsetzungsvermögen.

„Sie sind der Lehrer. Sie haben die Ausbildung“.

So die Mutter eines schwierigen Schülers. Richtig, ich wurde ausgebildet für den Unterricht und den Umgang mit Schülern in einer Regelklasse. Ausgehend davon, dass diese Schüler vertraut sind mit sozialen Verhaltensweisen und von ihren Eltern erzogen wurden zu einem friedfertigen Umgang im Miteinander. Mir fehlte die Ausbildung zum Sonderschullehrer, zum Psychologen, zum Sozialpädagogen, zum Eheberater und zum Familientherapeuten.

Indirektes Eingeständnis der Eltern: Wir werden mit unserem Kind nicht fertig. Angst der Eltern vor ihrem Kind, dessen Wutausbrüchen, dessen Aggressionen. „Sie sind der Lehrer.“ Sie müssen mit meinem Kind klar kommen, aber sagen Sie kein falsches Wort, verlangen Sie nicht zu viel von ihm. Diese Haltung erspüren die Kinder natürlich. Sie erkennen den Widerspruch: Einerseits drohen die Eltern mit der Schule, andrerseits schärfen sie den Kindern ein, sich nichts gefallen zu lassen, weder von anderen noch vom Lehrer.

 „Das mache ich nicht.“

„Sie können mich mal.“ 

„Meine Mutter war beim Anwalt.“ Triumphierender Blick von Klaus. Blitzende Augen, Provokation pur. Alle starrten mich an, feindselig bis auf ganz wenige, die mir aus Verlegenheit nicht in die Augen sehen konnten. Klaus war voll darauf konzentriert, alles was ich sagte, abzuwägen, ob es geeignet wäre für den Anwalt oder nicht. Er war bereit, meine Worte sofort aufzuschreiben um sie weiterzugeben, hielt Stift und Block schon griffbereit.

Unterricht vor einer lebenden Mauer. Selbst-Schutz. Ignorieren. Nicht zur Kenntnis nehmen. Keine Betroffenheit zeigen. Gleichgültigkeit beweisen. Fassade als Schutz-Panzer.

*

Fassaden

Gut geborgen meine verwundbare Seele,

sicher versteckt meine Gefühle und

vor anderen geschützt mein wahres Ich

mit kalter Fassade das Wagnis eingeh’n,

anderen Fassaden zu begegnen.

*

All das schluckte zusätzliche Energie, blockierte mich während des Unterrichts. Diese spannungsgeladene Atmosphäre erstickte meine Kreativität, ließ sie verdorren  wie eine Pflanze in der Wüste.

Der Internist und Psychiater Joachim Bauer warnt davor: „Das Ansehen derjenigen weiter zu ruinieren, die unsere Kinder ausbilden. Nur ein Weg führt aus der Krise: Wenn auch „gesellschaftliche Meinungsbilder aufhören, das Image der Lehrerschaft zu ruinieren.“                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      

Der Schüler, dein Feind, bohrende Gedanken an schlechten Tagen. Immer wieder muss ich mir ins Gedächtnis rufen: Nicht alle sind so. Kümmere dich um die „Willigen“. Sie haben ein Recht auf guten Unterricht.

Aber immer wieder auch die Frage: Warum sind die „Willigen“ so gleichgültig geworden? Warum lassen sie die Störer gewähren und distanzieren sich nicht deutlicher? Stehen sie so unter deren Einfluss? Warum halten sie nicht besser zusammen? Sind auch sie ausgebrannt und zermürbt?

Wish you were – Kapitel 7

14 Donnerstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Schule, Spaß

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 7 – Alles nur Spaß?

Weihnachtsferien. Ein Jahr ging zu Ende. Silvester. Gedankenverloren stand ich in der Küche und hörte durch das geöffnete Fenster Kinderstimmen. „Das wird krachen“. Noch dachte ich mir nichts dabei. Dann der erste Knall. Wieder die Stimmen. Noch ein Knall. Plötzlich fiel es mir ein: Bei meinen Eltern war der Briefkasten auf diese Art zerstört worden. Ich hastete ins Treppenhaus und Rauch qualmte aus meinem Briefkasten, Brandgeruch breitete sich aus. Alles nur Spaß? Ein übler Scherz oder ein Racheakt? Was brachte die Kinder dazu, mir diese Knaller einzuwerfen? Ich schwankte zwischen Lachen und Wut. Hassten sie mich wirklich so? Was hatte ich ihnen getan? Was störte sie so an mir?

Mein größter Fehler war wohl Lehrer zu sein. Lehrer, das ist der Feind, Lehrer, das ist kein Mensch mit Gefühlen. Lehrer fordern von Schülern Leistungen und soziales Verhalten, Lehrer erzeugen so Unmut, also sind Lehrer schlecht. Sie bringen die Eltern dazu, dass sie von ihren Kindern verlangen, etwas für die verhasste Schule zu tun, sie sorgen für Ärger zwischen Eltern und Schülern, denn sie sind es, die die Mitteilungen und Verweise schreiben, sie allein verderben den Schülern das sorglose Leben, das Leben ausschließlich nach dem Lustprinzip. Lehrer also als die Verkörperung des Bösen. Du kannst noch so freundlich und hilfsbereit sein, du bist Lehrer und hast somit kein Recht auf faire Behandlung, du darfst beschimpft und beleidigt werden, du als der Verursacher aller Probleme mit denen die Schüler kämpfen, du darfst gnadenlos verletzt werden.

Ein Jahr darauf. Wieder Silvester. Am Neujahrstag eine böse Überraschung: Ein frischer Kratzer an der Seite meines Autos. Mutwillige Sachbeschädigung. Ich war mehr betroffen als wütend. Dieser Kratzer traf mich, mein Inneres. Betroffenheit über das Verhalten der Kinder. Bewusst fremdes Eigentum zu beschädigen, bewusst am Eigentum des Lehrers Gewalt ausüben. Sie wollten mich treffen als Person und sie hatten mich getroffen.

  „Nehmen Sie es nicht persönlich.“ Meine Kollegen

Faschingsdienstag. Wieder ein Knaller im Briefkasten und das Wort „Hure“ auf dem Briefkastendeckel. Persönliche Beleidigung.

  „Ich hasse Sie. Sie sind schuld am Ärger mit meinen Eltern.“ Boris

Wish you were here – Kapitel 6

13 Mittwoch Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Rettung, Schule

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 6 – Rettungsringe

„Wie hältst du das aus in dieser Klasse? Ich beneide dich nicht.“ Sozialpädagoge

Wie eine Ertrinkende griff ich nach allem, was mich über Wasser hielt, klammerte mich an Erinnerungen, hielt mich fest an Dingen, schönen heilsamen Dingen, die ich auf mein Pult stellte, im Raum verteilte, auf die ich blickte, wenn ich nicht mehr weiter wusste.

Die blaue Karte auf dem Pult. Blau die Fischerboote, blau das Wasser und blau gekleidet die Fischer aus der Bretagne. Französische Worte auf der Rückseite. Vor langer Zeit geschriebene Worte von jemandem, der mir mit der Farbe Blau eine Freude machen wollte. Worte aus einer Zeit, in der ich noch an die Möglichkeiten der Lehrer glaubte und daran, den Kindern nahe sein zu können. Worte, die mir jetzt Kraft gaben, die mich stärkten.

Auch die Kinder spürten wie wichtig mir diese Karte war, keiner wagte, sie zu zerstören. Ich sah wohl, dass der eine oder andere die Karte näher besah, aber die französische Schrift schien ihnen Respekt einzuflößen.

Die rosa Azalee auf dem Fensterbrett. Eigens für die Schule gekauft, für mich zum Auftanken. Ich schaute sie gerne an, täglich öffneten sich neue Blüten, auch sie schenkte mir mit ihrer Schönheit Kraft und innere Ruhe.

Der Blick aus dem Fenster. Dichte Laubkronen, Inseln der Entspannung, ab und zu ein springendes Eichhörnchen beobachten, das geschäftige Treiben der Vögel wahrnehmen, Bäume, die sich nicht beeindrucken ließen von dem Lärm, der aus den Fenstern drang. Starke Bäume, Trostspender und Zufluchtsorte für flüchtende Eichhörnchen und fliehende Gedanken.

Musik zum Entspannen. Vor Unterrichtsbeginn Musik erklingen lassen, immer die gleiche, meine Musik, ein Ritual, das mir half meine Anspannung loszulassen.

Meine Rettungsringe entführten mich auf Inseln, enthoben mich dem Zugriff der Schüler und befreiten mich aus der Enge des Klassenzimmers. Auf diesen Inseln war ich in Sicherheit, konnte neue Gedanken fassen und wieder neu beginnen mit dem Versuch, die immer gleichen Ziele zu erreichen: eine Klassengemeinschaft zu entwickeln und auch noch Lehrstoff zu vermitteln.

Wish you were here – Kapitel 5

12 Dienstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Burnout, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gefühle, Lehrer, Schüler, Schule, Unterricht

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 5 – Burnout

Täglich wünschte ich mir ein Ende des Schuljahres herbei. Nur noch ein Schuljahr, dann würde ich in den Genuss eines Sabbatjahres kommen. Täglich stellte ich mir die Frage: „Willst du wirklich Lehrerin sein bzw. bleiben?“ Täglich die Suche nach einer Alternative.

Ausgebrannt. Leben auf Sparflamme. Ohne Energie für den Alltag. Heimkommen nach dem Unterricht, leer und doch gedanken- übervoll, ruhelos und doch erschöpft, müde und doch schlaflos, erleichtert, die Zeit heute überstanden zu haben und doch frustriert, deprimiert beim Gedanken an morgen. Es dauerte oft Stunden, ehe ich mich aufraffen konnte, das Nötigste zu erledigen. Burnout. Ausgesaugt. Eine leere Hülle, eine kranke Hülle, so würde es enden. So durfte es nicht enden.

Burn-out Ursache liegt nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Lehrern. Der Psychologe Uwe Schaarschmidt spricht vom „Perfektionsstreben“ und „Überengagement“ sowie von der fehlenden „Fähigkeit, sich vom Job zu distanzieren“. Potsdamer Studie 

Burnout-Syndrom. Dieses Ausgebranntsein ist demnach häufig bei Lehrern anzutreffen, die ihre Sache besonders gut machen wollten. War ich zu ehrgeizig oder einfach unfähig?

Die Schüler oder ich? Ich musste mich entscheiden, jetzt, sofort, wollte ich wieder leben können, ohne mich täglich verstellen zu müssen, wollte ich wieder leben und Ich sein dürfen, ohne seelische Verrenkungen, wollte ich nicht ersticken hinter einer übergestülpten Lehrer-Maske, die mich anwiderte: Das war nicht ich.

So entschied ich mich für mich, versuchte Grenzen zu ziehen zwischen dem Schulalltag, und meinem Privatleben, das brach lag, unbestellt wie ein dürrer Acker: Ständig kreisten meine Gedanken um die Schule, sogar aus meinen Träumen konnte ich sie nicht verbannen.

Da begann ich zu lesen, um meinen Gedanken an Schule keinen Raum zu lassen, füllte ich mich mit fremden Gedanken: Kriminalromane, früher nie gelesen, wurden jetzt zu meinem bevorzugten Lesestoff. Obwohl ich Gewalt tief verabscheute, las ich nun – mir selbst unerklärlich – die grausamsten Krimis. Mankells Kommissar Wallander faszinierte mich, nicht wegen der Fälle, sondern wegen seiner Versuche, die Täter zu verstehen bzw. aufzuzeigen, was sie zu Tätern gemacht hatte. Immer noch hoffte ich, eine Lösung für meine Probleme in der Schule zu finden. Irgendwie. Eine Erklärung wenigstens.

Kreativität, das Schaffen von schönen Dingen, das mir in der Schule versagt blieb, wollte ich nun für mich haben. Bleibendes wollte ich erzeugen nach all den fehlgeschlagenen Versuchen, Wissen und Freude am Lernen zu vermitteln. So entdeckte ich die Malerei neu für mich, besuchte Kurse. Malte ich zu Hause, konzentrierte ich mich auf ein Motiv, fanden Gedanken an die Schule keinen Einlass. Ich schaffte mir nach und nach wieder Freiräume, frische Luft und einen Sicherheits-Abstand zur Schule.

Kompromisse waren angesagt: Schütze die Lernwilligen und ermögliche ihnen eine störungsfreie Atmosphäre. Zum Glück stand mir noch ein kleiner selten genutzter Raum zur Verfügung, der sich im selben Stockwerk wie das Klassenzimmer befand. Immer wieder schickte ich die Lernwilligen in dieses Zimmer und ließ sie dort Aufgaben bearbeiten, während ich die Chaoten beaufsichtigte. Dabei vertraute ich auf mein Glück und hoffte, dass nichts passieren würde, wohlwissend, dass ich meine Aufsichtspflicht dabei verletzte. Den teilbaren Lehrer gibt es aber noch nicht, also handelte ich auf Risiko. Ich hoffte, die Gruppe der Lernwilligen auf diese Weise so stärken zu können, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln würde, das hilfreich wäre bei der Auseinandersetzung mit den Gewalttätigen. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass der innere Zusammenhalt der Schüler diese vor Angriffen der anderen schützen könnte.

Die Klasse wurde so in zwei Gruppen getrennt, was sicher ein Nachteil war und pädagogisch eher fragwürdig, das war mir auch klar. Nach all den Fehlversuchen stieß ich jetzt an eine Grenze, und die, das fühlte ich, durfte ich auf keinen Fall überschreiten. Ich musste die Kinder schützen und auch mich.

Die Fähigkeit, mich vom Job zu distanzieren, erprobte ich nach und nach, hatte ich doch einsehen müssen, dass ich allein gegenüber den mannigfaltigen Störungen vieler Schüler wenig ausrichten konnte.

„Haben Sie es schon gehört? Frau Krenz hat vor ihrer Klasse geweint, sie hat echt geheult und ist aus dem Zimmer gerannt.“ Klaus triumphiert während dem Unterricht, mich erwartungsvoll anschauend.

Ich spürte die versteckte Drohung: ‚Wart nur, wir bringen dich auch noch zum Heulen.’

„Ist ihre Klasse nun zufrieden? Sind sie jetzt stolz darauf, den Lehrer zum Weinen gebracht zu haben?“, fragte ich kühl zurück und schwor mir gleichzeitig dabei, vor dieser Klasse nicht zu heulen. Nie. Niemals.

Die Schüler oder ich? Ich musste mich entscheiden, jetzt, sofort, wollte ich wieder leben können, ohne mich täglich verstellen zu müssen, wollte ich wieder leben und Ich sein dürfen, ohne seelische Verrenkungen, wollte ich nicht ersticken hinter einer übergestülpten Lehrer-Maske, die mich anwiderte: Das war nicht ich.

So entschied ich mich für mich, versuchte Grenzen zu ziehen zwischen dem Schulalltag, und meinem Privatleben, das brach lag, unbestellt wie ein dürrer Acker: Ständig kreisten meine Gedanken um die Schule, sogar aus meinen Träumen konnte ich sie nicht verbannen.

Da begann ich zu lesen, um meinen Gedanken an Schule keinen Raum zu lassen, füllte ich mich mit fremden Gedanken: Kriminalromane, früher nie gelesen, wurden jetzt zu meinem bevorzugten Lesestoff. Obwohl ich Gewalt tief verabscheute, las ich nun – mir selbst unerklärlich – die grausamsten Krimis. Mankells Kommissar Wallander faszinierte mich, nicht wegen der Fälle, sondern wegen seiner Versuche, die Täter zu verstehen bzw. aufzuzeigen, was sie zu Tätern gemacht hatte. Immer noch hoffte ich, eine Lösung für meine Probleme in der Schule zu finden. Irgendwie. Eine Erklärung wenigstens.

Kreativität, das Schaffen von schönen Dingen, das mir in der Schule versagt blieb, wollte ich nun für mich haben. Bleibendes wollte ich erzeugen nach all den fehlgeschlagenen Versuchen, Wissen und Freude am Lernen zu vermitteln. So entdeckte ich die Malerei neu für mich, besuchte Kurse. Malte ich zu Hause, konzentrierte ich mich auf ein Motiv, fanden Gedanken an die Schule keinen Einlass. Ich schaffte mir nach und nach wieder Freiräume, frische Luft und einen Sicherheits-Abstand zur Schule.

Kompromisse waren angesagt: Schütze die Lernwilligen und ermögliche ihnen eine störungsfreie Atmosphäre. Zum Glück stand mir noch ein kleiner selten genutzter Raum zur Verfügung, der sich im selben Stockwerk wie das Klassenzimmer befand. Immer wieder schickte ich die Lernwilligen in dieses Zimmer und ließ sie dort Aufgaben bearbeiten, während ich die Chaoten beaufsichtigte. Dabei vertraute ich auf mein Glück und hoffte, dass nichts passieren würde, wohlwissend, dass ich meine Aufsichtspflicht dabei verletzte. Den teilbaren Lehrer gibt es aber noch nicht, also handelte ich auf Risiko. Ich hoffte, die Gruppe der Lernwilligen auf diese Weise so stärken zu können, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln würde, das hilfreich wäre bei der Auseinandersetzung mit den Gewalttätigen. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass der innere Zusammenhalt der Schüler diese vor Angriffen der anderen schützen könnte.

Die Klasse wurde so in zwei Gruppen getrennt, was sicher ein Nachteil war und pädagogisch eher fragwürdig, das war mir auch klar. Nach all den Fehlversuchen stieß ich jetzt an eine Grenze, und die, das fühlte ich, durfte ich auf keinen Fall überschreiten. Ich musste die Kinder schützen und auch mich.

Die Fähigkeit, mich vom Job zu distanzieren, erprobte ich nach und nach, hatte ich doch einsehen müssen, dass ich allein gegenüber den mannigfaltigen Störungen vieler Schüler wenig ausrichten konnte.

„Haben Sie es schon gehört? Frau Krenz hat vor ihrer Klasse geweint, sie hat echt geheult und ist aus dem Zimmer gerannt.“ Klaus triumphiert während dem Unterricht, mich erwartungsvoll anschauend.

Ich spürte die versteckte Drohung: ‚Wart nur, wir bringen dich auch noch zum Heulen.’

„Ist ihre Klasse nun zufrieden? Sind sie jetzt stolz darauf, den Lehrer zum Weinen gebracht zu haben?“, fragte ich kühl zurück und schwor mir gleichzeitig dabei, vor dieser Klasse nicht zu heulen. Nie. Niemals.

Selbst-Schutz

Morgens

Fertig zum Geh’n

Vor dem Spiegel steh’n

Und täglich prüfen,

ob die Angst auch wirklich tief verborgen bleibt,

der Blick auch kalt und abweisend genug ist

und der Mund so fest geschlossen, dass kein Schrei entweicht.

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