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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Schüler

Wish you were here – Kapitel 10

17 Sonntag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Chef, Eltern, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Schüler, Schule, Schulleiter

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 10 – Hinter meinem Rücken

In diesem ständigen Auf und Ab der Gefühle machte ich die bittere Erfahrung, dass mein Chef mir in den Rücken fiel.

Boris war der erste Schüler, der von dem Klassenausschluss betroffen war. Seine Eltern waren, wie in der Konferenz vereinbart, vom Schulleiter davon benachrichtigt worden. Kurz darauf stellte ich jedoch fest, dass die Eltern der später ausgeschlossenen Schüler dagegen keine Mitteilung erhalten hatten.

Als Grund dafür wurde mir genannt: „Die Mutter von Klaus verträgt das nicht.“

So hatte ich mir die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Eltern nicht vorgestellt. Zum ersten Mal taten sich nach diesen Worten erste, feine Risse auf im Verhältnis zu meinem Chef, die Basis gegenseitigen Vertrauens begann sich ganz langsam aufzulösen, geriet ins Wanken. Aus Vertrauen wurde Misstrauen.

Ich wusste wohl, dass ich mir diese Mutter zur erbitterten Feindin gemacht hatte, weil ich es gewagt hatte, das Verhalten ihres Sohnes zu kritisieren. Sie dagegen unterstützte ihr Kind, sah alle Schuld bei mir, teilte dies sicher auch ihrem Sohn mit, woraus aus seinen aufwieglerischen Äußerungen zu schließen war. Gerade deshalb erschien es mir notwendig, dass mein Chef zu mir stand und sich nicht auf die Seite dieser Mutter stellte, die jeglichen Kontakt mit mir strikt verweigerte.

Die Schüler spürten sofort, dass sie beim Schulleiter nachhaken konnten. Immer öfter fiel im Unterricht der Satz: 

„Das dürfen Sie nicht. Das sagen wir Herrn Gruff.“

*

Boris öffnete ich daraufhin eines Tages die Klassenzimmertür und schickte ihn mit den Worten: „Geh und beschwer dich, aber sofort.“, hinaus. Verunsichert verließ er das Klassenzimmer, vermutlich jedoch ohne ins Büro zu gehen. Auch unser Schulleiter wollte nicht immer gestört werden, auch er konnte sehr unangenehm werden.

In einem vertraulichen Gespräch teilte mir mein Chef mit, dass sich Eltern über mich beklagt hätten, ich wäre handgreiflich geworden. Natürlich wollte ich Genaueres wissen: Welche Eltern? Wie viele? Welche Art von Handgreiflichkeiten wurde mir vorgeworfen?

Herr Gruff gab nach einigem Zögern zu: „Es waren einige Schüler, nicht die Eltern.“ Er hatte mich also angelogen. Der giftige Stachel des Misstrauens grub sich tiefer in mein Bewusstsein. Er hatte also den Schülern sofort geglaubt, ohne mit mir darüber geredet zu haben. Wish you were here.

Um den ständigen Auseinandersetzungen unter den Schülern gezielter begegnen zu können, schlug mir eine Beratungslehrerin vor, in meiner Klasse ein spezielles Soziogramm durchzuführen. Es könnte Aufschluss geben über die innere Struktur der Klasse. Ich willigte ein und wartete gespannt auf die Auswertung des Soziogrammes.

Wochen später traf ich Frau A. im Lehrerzimmer und fragte sie, was aus dem Soziogramm geworden sei. Sie schien ehrlich überrascht: „Haben Sie die Auswertung noch nicht erhalten? Vor ein paar Wochen schon habe ich sie Herrn Gruff gegeben, mit der Bitte, sie an Sie weiter zu reichen.“ Ich hatte die Auswertung nie erhalten. Eine erneute Nachfrage bei meinem Chef ergab, dass er es momentan nicht finde könne und außerdem vertrat er die Auffassung: „Ein Soziogramm entspricht nach vier Wochen sowieso nicht mehr der tatsächlichen Situation.“ Das allerdings war mir neu. Mein Misstrauen begann zu wachsen. Ich entschloss mich, mein eigenes Soziogramm zu machen und nach dessen Auswertung die Sitzordnung der Kinder zu verändern.

Wish you were here – Kapitel 8

15 Freitag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Eltern, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Schüler, Schule

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 8 – Der Lehrer als Sündenbock

„Faul, weltfremd, unbeweglich – keine Beamtengruppe hat so ein schlechtes Image wie die Pädagogen.“ Wirtschaft

*

Scham neben Wut und Betroffenheit. Ich erzählte nur wenigen davon. Wie würden sich andere Lehrer verhalten? Scham, dem Hass der Schüler ausgesetzt zu sein, ohne sich wehren zu können. Über ihre Taten prahlende Schüler, selbst dagegen dazustehen als dummer Lehrer, hilflos.

Mangelndes Durchsetzungsvermögen.

„Sie sind der Lehrer. Sie haben die Ausbildung“.

So die Mutter eines schwierigen Schülers. Richtig, ich wurde ausgebildet für den Unterricht und den Umgang mit Schülern in einer Regelklasse. Ausgehend davon, dass diese Schüler vertraut sind mit sozialen Verhaltensweisen und von ihren Eltern erzogen wurden zu einem friedfertigen Umgang im Miteinander. Mir fehlte die Ausbildung zum Sonderschullehrer, zum Psychologen, zum Sozialpädagogen, zum Eheberater und zum Familientherapeuten.

Indirektes Eingeständnis der Eltern: Wir werden mit unserem Kind nicht fertig. Angst der Eltern vor ihrem Kind, dessen Wutausbrüchen, dessen Aggressionen. „Sie sind der Lehrer.“ Sie müssen mit meinem Kind klar kommen, aber sagen Sie kein falsches Wort, verlangen Sie nicht zu viel von ihm. Diese Haltung erspüren die Kinder natürlich. Sie erkennen den Widerspruch: Einerseits drohen die Eltern mit der Schule, andrerseits schärfen sie den Kindern ein, sich nichts gefallen zu lassen, weder von anderen noch vom Lehrer.

 „Das mache ich nicht.“

„Sie können mich mal.“ 

„Meine Mutter war beim Anwalt.“ Triumphierender Blick von Klaus. Blitzende Augen, Provokation pur. Alle starrten mich an, feindselig bis auf ganz wenige, die mir aus Verlegenheit nicht in die Augen sehen konnten. Klaus war voll darauf konzentriert, alles was ich sagte, abzuwägen, ob es geeignet wäre für den Anwalt oder nicht. Er war bereit, meine Worte sofort aufzuschreiben um sie weiterzugeben, hielt Stift und Block schon griffbereit.

Unterricht vor einer lebenden Mauer. Selbst-Schutz. Ignorieren. Nicht zur Kenntnis nehmen. Keine Betroffenheit zeigen. Gleichgültigkeit beweisen. Fassade als Schutz-Panzer.

*

Fassaden

Gut geborgen meine verwundbare Seele,

sicher versteckt meine Gefühle und

vor anderen geschützt mein wahres Ich

mit kalter Fassade das Wagnis eingeh’n,

anderen Fassaden zu begegnen.

*

All das schluckte zusätzliche Energie, blockierte mich während des Unterrichts. Diese spannungsgeladene Atmosphäre erstickte meine Kreativität, ließ sie verdorren  wie eine Pflanze in der Wüste.

Der Internist und Psychiater Joachim Bauer warnt davor: „Das Ansehen derjenigen weiter zu ruinieren, die unsere Kinder ausbilden. Nur ein Weg führt aus der Krise: Wenn auch „gesellschaftliche Meinungsbilder aufhören, das Image der Lehrerschaft zu ruinieren.“                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      

Der Schüler, dein Feind, bohrende Gedanken an schlechten Tagen. Immer wieder muss ich mir ins Gedächtnis rufen: Nicht alle sind so. Kümmere dich um die „Willigen“. Sie haben ein Recht auf guten Unterricht.

Aber immer wieder auch die Frage: Warum sind die „Willigen“ so gleichgültig geworden? Warum lassen sie die Störer gewähren und distanzieren sich nicht deutlicher? Stehen sie so unter deren Einfluss? Warum halten sie nicht besser zusammen? Sind auch sie ausgebrannt und zermürbt?

Wish you were here – Kapitel 5

12 Dienstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Burnout, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gefühle, Lehrer, Schüler, Schule, Unterricht

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 5 – Burnout

Täglich wünschte ich mir ein Ende des Schuljahres herbei. Nur noch ein Schuljahr, dann würde ich in den Genuss eines Sabbatjahres kommen. Täglich stellte ich mir die Frage: „Willst du wirklich Lehrerin sein bzw. bleiben?“ Täglich die Suche nach einer Alternative.

Ausgebrannt. Leben auf Sparflamme. Ohne Energie für den Alltag. Heimkommen nach dem Unterricht, leer und doch gedanken- übervoll, ruhelos und doch erschöpft, müde und doch schlaflos, erleichtert, die Zeit heute überstanden zu haben und doch frustriert, deprimiert beim Gedanken an morgen. Es dauerte oft Stunden, ehe ich mich aufraffen konnte, das Nötigste zu erledigen. Burnout. Ausgesaugt. Eine leere Hülle, eine kranke Hülle, so würde es enden. So durfte es nicht enden.

Burn-out Ursache liegt nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Lehrern. Der Psychologe Uwe Schaarschmidt spricht vom „Perfektionsstreben“ und „Überengagement“ sowie von der fehlenden „Fähigkeit, sich vom Job zu distanzieren“. Potsdamer Studie 

Burnout-Syndrom. Dieses Ausgebranntsein ist demnach häufig bei Lehrern anzutreffen, die ihre Sache besonders gut machen wollten. War ich zu ehrgeizig oder einfach unfähig?

Die Schüler oder ich? Ich musste mich entscheiden, jetzt, sofort, wollte ich wieder leben können, ohne mich täglich verstellen zu müssen, wollte ich wieder leben und Ich sein dürfen, ohne seelische Verrenkungen, wollte ich nicht ersticken hinter einer übergestülpten Lehrer-Maske, die mich anwiderte: Das war nicht ich.

So entschied ich mich für mich, versuchte Grenzen zu ziehen zwischen dem Schulalltag, und meinem Privatleben, das brach lag, unbestellt wie ein dürrer Acker: Ständig kreisten meine Gedanken um die Schule, sogar aus meinen Träumen konnte ich sie nicht verbannen.

Da begann ich zu lesen, um meinen Gedanken an Schule keinen Raum zu lassen, füllte ich mich mit fremden Gedanken: Kriminalromane, früher nie gelesen, wurden jetzt zu meinem bevorzugten Lesestoff. Obwohl ich Gewalt tief verabscheute, las ich nun – mir selbst unerklärlich – die grausamsten Krimis. Mankells Kommissar Wallander faszinierte mich, nicht wegen der Fälle, sondern wegen seiner Versuche, die Täter zu verstehen bzw. aufzuzeigen, was sie zu Tätern gemacht hatte. Immer noch hoffte ich, eine Lösung für meine Probleme in der Schule zu finden. Irgendwie. Eine Erklärung wenigstens.

Kreativität, das Schaffen von schönen Dingen, das mir in der Schule versagt blieb, wollte ich nun für mich haben. Bleibendes wollte ich erzeugen nach all den fehlgeschlagenen Versuchen, Wissen und Freude am Lernen zu vermitteln. So entdeckte ich die Malerei neu für mich, besuchte Kurse. Malte ich zu Hause, konzentrierte ich mich auf ein Motiv, fanden Gedanken an die Schule keinen Einlass. Ich schaffte mir nach und nach wieder Freiräume, frische Luft und einen Sicherheits-Abstand zur Schule.

Kompromisse waren angesagt: Schütze die Lernwilligen und ermögliche ihnen eine störungsfreie Atmosphäre. Zum Glück stand mir noch ein kleiner selten genutzter Raum zur Verfügung, der sich im selben Stockwerk wie das Klassenzimmer befand. Immer wieder schickte ich die Lernwilligen in dieses Zimmer und ließ sie dort Aufgaben bearbeiten, während ich die Chaoten beaufsichtigte. Dabei vertraute ich auf mein Glück und hoffte, dass nichts passieren würde, wohlwissend, dass ich meine Aufsichtspflicht dabei verletzte. Den teilbaren Lehrer gibt es aber noch nicht, also handelte ich auf Risiko. Ich hoffte, die Gruppe der Lernwilligen auf diese Weise so stärken zu können, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln würde, das hilfreich wäre bei der Auseinandersetzung mit den Gewalttätigen. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass der innere Zusammenhalt der Schüler diese vor Angriffen der anderen schützen könnte.

Die Klasse wurde so in zwei Gruppen getrennt, was sicher ein Nachteil war und pädagogisch eher fragwürdig, das war mir auch klar. Nach all den Fehlversuchen stieß ich jetzt an eine Grenze, und die, das fühlte ich, durfte ich auf keinen Fall überschreiten. Ich musste die Kinder schützen und auch mich.

Die Fähigkeit, mich vom Job zu distanzieren, erprobte ich nach und nach, hatte ich doch einsehen müssen, dass ich allein gegenüber den mannigfaltigen Störungen vieler Schüler wenig ausrichten konnte.

„Haben Sie es schon gehört? Frau Krenz hat vor ihrer Klasse geweint, sie hat echt geheult und ist aus dem Zimmer gerannt.“ Klaus triumphiert während dem Unterricht, mich erwartungsvoll anschauend.

Ich spürte die versteckte Drohung: ‚Wart nur, wir bringen dich auch noch zum Heulen.’

„Ist ihre Klasse nun zufrieden? Sind sie jetzt stolz darauf, den Lehrer zum Weinen gebracht zu haben?“, fragte ich kühl zurück und schwor mir gleichzeitig dabei, vor dieser Klasse nicht zu heulen. Nie. Niemals.

Die Schüler oder ich? Ich musste mich entscheiden, jetzt, sofort, wollte ich wieder leben können, ohne mich täglich verstellen zu müssen, wollte ich wieder leben und Ich sein dürfen, ohne seelische Verrenkungen, wollte ich nicht ersticken hinter einer übergestülpten Lehrer-Maske, die mich anwiderte: Das war nicht ich.

So entschied ich mich für mich, versuchte Grenzen zu ziehen zwischen dem Schulalltag, und meinem Privatleben, das brach lag, unbestellt wie ein dürrer Acker: Ständig kreisten meine Gedanken um die Schule, sogar aus meinen Träumen konnte ich sie nicht verbannen.

Da begann ich zu lesen, um meinen Gedanken an Schule keinen Raum zu lassen, füllte ich mich mit fremden Gedanken: Kriminalromane, früher nie gelesen, wurden jetzt zu meinem bevorzugten Lesestoff. Obwohl ich Gewalt tief verabscheute, las ich nun – mir selbst unerklärlich – die grausamsten Krimis. Mankells Kommissar Wallander faszinierte mich, nicht wegen der Fälle, sondern wegen seiner Versuche, die Täter zu verstehen bzw. aufzuzeigen, was sie zu Tätern gemacht hatte. Immer noch hoffte ich, eine Lösung für meine Probleme in der Schule zu finden. Irgendwie. Eine Erklärung wenigstens.

Kreativität, das Schaffen von schönen Dingen, das mir in der Schule versagt blieb, wollte ich nun für mich haben. Bleibendes wollte ich erzeugen nach all den fehlgeschlagenen Versuchen, Wissen und Freude am Lernen zu vermitteln. So entdeckte ich die Malerei neu für mich, besuchte Kurse. Malte ich zu Hause, konzentrierte ich mich auf ein Motiv, fanden Gedanken an die Schule keinen Einlass. Ich schaffte mir nach und nach wieder Freiräume, frische Luft und einen Sicherheits-Abstand zur Schule.

Kompromisse waren angesagt: Schütze die Lernwilligen und ermögliche ihnen eine störungsfreie Atmosphäre. Zum Glück stand mir noch ein kleiner selten genutzter Raum zur Verfügung, der sich im selben Stockwerk wie das Klassenzimmer befand. Immer wieder schickte ich die Lernwilligen in dieses Zimmer und ließ sie dort Aufgaben bearbeiten, während ich die Chaoten beaufsichtigte. Dabei vertraute ich auf mein Glück und hoffte, dass nichts passieren würde, wohlwissend, dass ich meine Aufsichtspflicht dabei verletzte. Den teilbaren Lehrer gibt es aber noch nicht, also handelte ich auf Risiko. Ich hoffte, die Gruppe der Lernwilligen auf diese Weise so stärken zu können, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln würde, das hilfreich wäre bei der Auseinandersetzung mit den Gewalttätigen. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass der innere Zusammenhalt der Schüler diese vor Angriffen der anderen schützen könnte.

Die Klasse wurde so in zwei Gruppen getrennt, was sicher ein Nachteil war und pädagogisch eher fragwürdig, das war mir auch klar. Nach all den Fehlversuchen stieß ich jetzt an eine Grenze, und die, das fühlte ich, durfte ich auf keinen Fall überschreiten. Ich musste die Kinder schützen und auch mich.

Die Fähigkeit, mich vom Job zu distanzieren, erprobte ich nach und nach, hatte ich doch einsehen müssen, dass ich allein gegenüber den mannigfaltigen Störungen vieler Schüler wenig ausrichten konnte.

„Haben Sie es schon gehört? Frau Krenz hat vor ihrer Klasse geweint, sie hat echt geheult und ist aus dem Zimmer gerannt.“ Klaus triumphiert während dem Unterricht, mich erwartungsvoll anschauend.

Ich spürte die versteckte Drohung: ‚Wart nur, wir bringen dich auch noch zum Heulen.’

„Ist ihre Klasse nun zufrieden? Sind sie jetzt stolz darauf, den Lehrer zum Weinen gebracht zu haben?“, fragte ich kühl zurück und schwor mir gleichzeitig dabei, vor dieser Klasse nicht zu heulen. Nie. Niemals.

Selbst-Schutz

Morgens

Fertig zum Geh’n

Vor dem Spiegel steh’n

Und täglich prüfen,

ob die Angst auch wirklich tief verborgen bleibt,

der Blick auch kalt und abweisend genug ist

und der Mund so fest geschlossen, dass kein Schrei entweicht.

Wish you were here – Kapitel 3

10 Sonntag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Mobbing, Schüler, Schule

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 3 – Die Schüler

Ich stehe vor der Klasse. Die Schüler ignorieren mich. Hüpfen kreischend über die Bänke, werfen mit lautem Getöse Stühle um, überhören auch den Gong. Ein Höllenlärm bricht aus. Da schreie ich „Ruhe“, laut und schrill, kann nicht mehr aufhören, schreie gellend ununterbrochen, rase aus dem Klassenzimmer, den düsteren Gang entlang, stolpere die Treppe hinunter, stürze ins Lehrerzimmer, immer noch schreiend. 

Eine Hand legte sich tröstend auf meine Schulter. Ich wachte auf, fühlte die Wärme der Bettdecke und schloss die Augen, erleichtert. Alles ein Traum.

*

„Schüler spüren sofort, wo Ihre Schwachstelle ist. Sie stoßen gnadenlos zu.“ Eine Kollegin  

Lehrerjob. Täglich, stündlich viele Aufgaben gleichzeitig erledigen, Entscheidungen in Sekundenschnelle treffen müssen:

Schüler beobachten, Wissen vermitteln, Lernerfolge überprüfen, Störungen unterbinden, Einhaltung von Regeln beachten, Ruhe herstellen und auf jeden Schüler individuell reagieren und dies in jeder Sekunde, dabei von vielen Augen kritisch beobachtet, gnadenlos bewertet und immer wieder von einigen Schülern an der Durchführung eines akzeptablen Unterrichts gehindert zu werden.

Lehrerjob: Vor einer Masse zu stehen, deren Mehrheit oft keine Lust hat, sich anzustrengen, die nahezu alles langweilt und nur macht, wozu sie Lust hat.

Natürlich waren nicht alle Schüler so. Die Klasse setzte sich aus 19 Schülern zusammen. Nur drei davon waren Mädchen. Kurzfristig kam Anna, ein neue Schülerin, zu uns.

Allein ihr äußeres Erscheinungsbild machte sie zur Zielscheibe hämischer Bemerkungen.

„Ist die fett.“ Klaus

„Neben der dicken Kuh will ich nicht sitzen.“ Michaela

Von Anfang an wurde sie wenig freundlich aufgenommen, entpuppte sich als ein Kind mit schwerwiegenden Problemen, das auch selbst Probleme bereitete. Fehlende Hausaufgaben, aufsässiges Verhalten, aggressive Handlungen anderen gegenüber machte sie weder bei Lehrern noch bei Schülern beliebt. 

„Anna spuckte mir in der Pause ins Gesicht.“ Mitschülerin

„Anna sagte zu Ina: `Hure, schwarze Schlampe, Negerweib, hau ab’.“ Andrea, Inas Freundin, 7. Klasse

„Schauen Sie, Anna hat mich am Hals gekratzt.“ Helga, Schülerin aus der Parallelklasse

*

Trotzdem, in dieser Klasse neu zu sein war für mich Grund genug, ihr den Einstieg zu erleichtern. Zunächst schien eine zarte Freundschaft zwischen ihr und Barbara, deren Bruder Klaus die gleiche Klasse besuchte, zu entstehen. Zwischen den Geschwistern gab es bald heftige Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass Klaus mit zunehmender Gehässigkeit die neue Freundin seiner Schwester beschimpfte, sich über ihr Aussehen lustig machte, dies auch im Unterricht hemmungslos fortsetzte, was ihm von mir einen Verweis einbrachte, worauf seine Mutter mit heftiger Ablehnung reagierte und die Zusammenarbeit mit mir verweigerte.

 „Du kriegst eine in die Fotze.“ Klaus 

Später erfuhr ich noch, dass Klaus auch Annas Mutter übelst beschimpft hatte, worauf sich die Mütter handfest in die Haare geraten waren. Annas Mutter zeigte keinerlei Bereitschaft, auf das schulische Leben der Tochter positiven Einfluss zu nehmen. Schließlich meldete sie ihr Kind in einer anderen Schule an.

Zurück blieben drei Mädchen, die sich kurzfristig, stark beeinflusst von Klaus, gegen mich wandten. Auch sie grüßten nicht mehr, verhielten sich mir gegenüber feindselig. Eine Liste war im Umlauf, Klaus suchte Gleichgesinnte:

„Wer ist gegen Frau Marau? Hier unterschreiben.“

Die Unterschriften auf der Liste wurden stündlich mehr.

*

„Schule? Das ist schlimmer als zu Hause. Meine Schwester, die ewig Brave schleimt sich bei der Lehrerin ein, ein bisschen grüßen, ein bisschen freundlich sein und schon ist sie eine brave Schülerin, die gelobt wird für ihr Verhalten. Sollte diese Lehrerin doch einmal sehen, wie sich meine Schwester daheim benimmt. Ich bin es nämlich, der bei uns das Essen aufwärmt und den Tisch abräumt, während diese Schleimscheißerin ihre Hausaufgaben macht. Hausaufgaben? Nee, dazu habe ich wirklich keine Lust, das ist Zeitverschwendung. Soll sie doch die besseren Noten haben.

Ich werde alle in der Klasse aufwiegeln gegen diese Frau, die gar nichts machen kann außer rumbrüllen oder mich in eine andere Klasse stecken. Ist mir doch egal, ist viel lustiger dort als bei ihr, wo ich eh nichts kapier. Die kann doch nicht erklären die Frau! Meine Mutter meint das auch. Eine gute Lehrerin könnte sich auch besser durchsetzen, sagt meine Mutter, sie müsste nicht immer anderen Müttern vorjammern, wie gewalttätig die Schüler in dieser Klasse sind.

Die Frau hat ja gar keine Ahnung, was da schon alles passiert ist. Keiner traut sich mit ihr zu reden, die wissen schon warum. An der nächsten Ecke wären sie dran, aber sie sagen nichts, diese Schlappschwänze, selber schuld, wenn sie verprügelt werden und sich nicht wehren.

Nur, vor ein paar Tagen in der Stadt, da war es krass, als ich vor zwei so komischen Typen mit glatt rasierten Köpfen auf den Boden gespuckt hatte. Die wollten doch glatt auf mich losgehen. ‚Wir lassen uns von dir nicht anspucken, du kleiner Wichser!’, brüllten sie und rannten auf mich zu, das war knapp, sehr knapp, aber zum Glück kamen gerade Erwachsene vorbei, die sie aufhielten, diese Scheißkerle,  und ich konnte mich unauffällig verdrücken.

 Da hatte ich schon Schiss gehabt, das stimmt, aber aus unserer Klasse, da traut sich keiner an mich ran. Nur der Manuel, der Neue, der schwarze Stinker, der wäre gefährlich, aber mit dem lege ich mich nicht an. Nicht mehr, okay, ich habe es schon probiert, aber der ist einfach zu stark. Besser, wir geraten nicht aneinander.“ Klaus

*

Die „Willigen“ wie ich sie für mich nannte waren Kinder, die stets schwiegen, mir und den „Unwilligen“ gegenüber. Es waren jene, die sich hüteten mir gegenüber etwas verlauten zu lassen über das Verhalten derer, die sie immer wieder quälten. Die Gründe lagen bald auf der Hand: Schlägereien wurden im Voraus geplant und gezielt außerhalb der Schule durchgeführt, auf dem Schulweg oder in einem nahen Wald. Ein vorübergehender Passant, der zufällig Zeuge einer Schlägerei geworden war, informierte aufgebracht die Schulleitung. Der Verlierer des Kampfes musste ärztlich versorgt werden. Nachmittags riss mich ein Telefonanruf unerwartet aus der hoffnungsvollen Stimmung, in der ich mich gerade an diesem Tag befand: Es war einer jener seltenen Tage gewesen, an denen im Unterricht alles planmäßig gelaufen war.

Mein Chef rief an und teilte mir mit knappen Worten den Vorfall mit.

Am anderen Tag im Unterricht: Frostige Ablehnung auf Seiten der Schüler, kühle Reaktion meines Chefs. Über die Prügelei erfuhr ich nichts Näheres. Ein betroffener Vater tauchte im Unterricht auf, um seinen tags zuvor verprügelten Sohn zum Arztbesuch abzuholen. Auch er feindselig gestimmt. Ich war wohl die Einzige, die kaum Ahnung hatte von dem Vorfall. Die Klasse stand mir als schweigende Mauer gegenüber. Ich sah keine Lücke, um irgendwie tiefer vorzudringen in diese abweisenden Fassadengesichter. Wo versteckten diese Kinder ihre Gefühle? Welche Gedanken bewegten diese jungen Menschen, die anderen gegenüber so versteinert wirkten? Wie entstand diese (scheinbare) Gleichgültigkeit?

Korbinian zündelt unter der Bank.

Boris hat „keinen Bock“ mehr, legt den Kopf auf die Bank.

Manuel malt unentwegt Comicfiguren auf ein Blatt.

Michaela liest in der „Bravo“.

Klaus kaut Kaugummi und schießt winzige mit Spucke befeuchtete Papierkügelchen auf die Bank seines Nachbarn.

*

Alles prallte an ihnen ab: freundliche Worte, drohende Worte. Alle Versuche von Erklärungen über den richtigen Umgang im Miteinander scheiterten, nur wenige zeigten Einsicht, zu wenige. Ständig waren Störer am Werk, die einen effektiven Unterricht verhinderten.

Mir geisterte immer wieder ein Satz der Schulräte und Seminarleiter aus endlos lang zurückliegenden Ausbildungsjahren durch den Kopf: „Wer guten Unterricht macht, hat keine Disziplinprobleme.“ Sollten diese Herren doch einmal hier antreten und versuchen, guten Unterricht zu machen, um diesen Satz zu beweisen.

Trotz ausführlicher Unterrichtsvorbereitung gelang es mir nicht immer, den Unterricht auch so zu durchzuführen wie ich ihn geplant hatte. Jeder Tag ließ offen, wie es laufen würde, welche Schwierigkeiten auftreten würden. Nie wusste ich vorher, wie die Klasse heute drauf sein würde. Oft ging es überraschend gut, für ein oder zwei Stunden, wofür ich schon dankbar war. Es blieb mir stets ein Rätsel, wovon Erfolg oder Misserfolg abhingen.

*

„In keinem Job befindet man sich so auf dem Präsentierteller wie in dem des Lehrers“. Weber, Erlanger Arbeitsmediziner 

Und immer wieder ungeschützt vor diesen Kindern stehen, von denen die „Willigen“ erwarteten, dass ich durchgreifen könne und sie vor den Störern beschütze. Ich schämte mich meiner Machtlosigkeit: Ich hatte kein wirksames Mittel in der Hand, positiven Einfluss auf störende Kinder zu nehmen. Die Eltern sperrten sich bis auf wenige, aber auch diese waren nicht in der Lage ihren Kindern gegenüber konsequent zu handeln.

Einzige Maßnahme an manchen Tagen: Die Störer in andere Klassen zu schicken, um uns allen Ruhe zu verschaffen. Der Preis war hoch: Mit geballten Aggressionen kamen sie zurück, neue Feindseligkeit und eine weitere Welle des Hasses schlug mir entgegen. Schüler, die sich ablehnend gegenüber Lehrern verhielten, damit musste ich als Lehrer leben können. Als besonders gefährlich empfand ich es dagegen, wie die Schüler miteinander umgingen. Der Hass einiger Kinder war nicht nur auf die Schule gerichtet, sondern traf auch Mitschüler, vor allem jene, die Schwächen zeigten. Klassengemeinschaft blieb ein Fremdwort.

Es herrschte ein totales Gegeneinander, ich aber träumte von einem Füreinander, sehnte mich nach einer Atmosphäre zum Wohlfühlen.

Seine ungezügelte Wut mir gegenüber ließ Klaus an einer wehrlosen Topfpflanze aus, die ich in die Schule mitgebracht hatte. Geknickte Blätter als Zeichen seiner Wut. Geknickte Hoffnung.

*

„Die Zunahme schwerer Verhaltensstörungen entsteht durch rapide Abnahme elterlicher Zuwendung. Die Erziehungsverantwortung zu Hause tendiert gegen Null.“ Joachim Bauer, Psychotherapeut

Ich fragte mich oft, wie waren diese Schüler als Kleinkinder? Was hatte diese Entwicklung hervorgerufen? Seelische Verwahrlosung, seelische Unterernährung, Gefühllosigkeit und mangelndes Einfühlungsvermögen anderen gegenüber, seelische Grausamkeit, Grenzenlosigkeit im Handeln – Zeichen einer Fehlentwicklung?

Was machte diese Kinder noch froh? Was machte ihnen Angst? Wie verhielten sie sich zu Hause?

Wenige Eltern führten Gespräche mit mir und es war offensichtlich: Auch diese Eltern litten unter dem Verhalten ihrer Kinder. Waren diese Kinder jemals erwünscht gewesen?

Sobald ich Probleme im Elternhaus erkannte, wurde mir klar, warum dieser oder jener sich so verhielt, ich verstand es, teilweise jedenfalls, aber was konnte ich tun? Verstehen hieß in meinen Augen jedoch nicht, auch einverstanden zu sein. Viele hatten es schwer daheim, kein erreichbarer Vater, die Mutter in der Arbeit, ständig abgehetzt, überfordert. Aber reichte das wirklich aus, um andere, die schwächer waren, zu treten und seelisch und körperlich zu verletzen? Immer wieder war ich hin- und hergerissen zwischen Verständnis und aufkeimenden Hassgefühlen.

Hass gegenüber meiner Machtlosigkeit: Ich konnte die Eltern kaum zwingen, in die Schule zu kommen, konnte die Eltern nicht zur Zusammenarbeit mit mir bewegen. Was zu üben war, was fehlte, ich schrieb es unermüdlich in die Hefte, in der Hoffnung auf eine Rückmeldung. Aber nur in seltenen Fällen gaben die Eltern durch ihre Unterschrift zu erkennen, dass sie meine Informationen auch gelesen hatten, was allerdings noch lange nicht hieß, dass fehlende Hausaufgaben nachgearbeitet wurden.

Was blieb zu tun? Mitteilungen zu schreiben, Stunden für Nacharbeit zu organisieren oder selbst Zeit aufzubringen in meiner Freizeit. Hinweise auf die Pflichten von Eltern und Schülern in Sachen Hausaufgaben blieben unbeachtet. Ergebnis: hoher Zeittaufwand, ohne bleibende Verbesserung, Frustration, Resignation.

Ich kapitulierte nach einer Teilnahme an einer Fallbesprechungsgruppe, in der ich mein Problem mit den fehlenden Hausaufgaben angesprochen hatte. Eine Teilnehmerin riet mir, doch die Hausaufgaben ganz weg zu lassen, da sie pädagogisch fragwürdig seien. Nach wie vor bin ich von der positiven Seite der Hausaufgaben überzeugt, falls sie gemacht würden und dies regelmäßig, natürlich vorausgesetzt. Trotzdem sah ich eine Erleichterung für mich, denn ich hatte es endgültig satt, ständig hinterherlaufen zu müssen, um konsequent das zu fordern, was ich verlangt hatte, was Pflicht war. Von einem Tag auf den anderen verkündete ich den Schülern, dass Hausaufgaben in Zukunft nur noch freiwillig zu machen wären. Großes Erstaunen unter den Schülern. Die ewig Faulen waren so entmachtet, es war ab sofort nichts Besonderes mehr, keine Hausaufgaben zu machen. Manche erledigten sie erstaunlicherweise trotzdem weiterhin. Nach wie vor korrigierte ich alle Arbeiten und hatte mich gleichzeitig von der lästigen Kontrolle befreit, stets und ständig Listen führen zu müssen.

Boris kommt ohne benötigtes Schulmaterial, hat kein Geodreieck, keine Lektüre, kann nicht mitarbeiten, weigert sich aus einem Buch zu lesen, das ich ihm anbiete. Brüllt in der Klasse herum: „Von Ihnen nehme ich nichts.  Wer leiht mir was?“

Wish you were here – Kapitel 2

09 Samstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kunst, Kurzgeschichte, Literatur

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Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Lehrer, Lehrerin, Mobbing, Schüler, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 2 – Die Situation

Ich haste den dunklen Gang entlang und spüre wieder dieses bleierne Gefühl des Ausgeliefertseins, das mich beinahe zwei Jahre lang lähmte und an meiner Arbeit verzweifeln ließ.

Heute ist vieles anders. Ich kann endlich wieder gehen ohne zu humpeln, Schmerzen im Bein spüre ich nur noch selten, die

flammend rote Narbe unter dem linken Auge beginnt zögernd zu verblassen und wird mit der Zeit ganz verschwinden, so sagen die Ärzte tröstend. Ja, ich hatte wirklich Glück gehabt, das stimmt. Aber ich reagiere immer noch in gewissen Situationen wie damals, muss mir jedes Mal bewusst machen, „das“ ist vorbei, aber ich weiß auch, „das“ kann jederzeit wieder kommen. „Das“, damit ist die Situation eines Lehrers gemeint, der hilflos wie ich vor seiner Klasse steht und nicht fähig ist, seine Funktion auszuüben.

Wish you were here. Wie oft habe ich gewünscht von anderen verstanden zu werden, mit Kollegen darüber sprechen zu können ohne gleich als Versagerin abgestempelt zu werden.

Du, der Sozialpädagoge, wurdest mir als Hilfe angeboten, wohl in erster Linie darum, weil es sich gut machte an einer Schule ein Projekt mit dem Thema „Toleranz“ durchzuführen. Ich nahm das Angebot an, weil ich wollte, dass andere, die nicht in der Lehrerolle steckten, dieses Empfinden mit mir teilen sollten und vielleicht konnte ich ja von ihnen lernen, es besser zu machen. Du sagtest selbst, dein Vorteil mir gegenüber sei, nicht Lehrer zu sein und wieder gehen zu können. Wie oft hatte ich mir das gewünscht: einfach gehen zu können, das Klassenzimmer zu verlassen.

Ich genoss es, wenn du und deine Kollegin mit der Klasse arbeiteten und ich zusehen und beobachten konnte, ohne handeln zu müssen, obwohl es mir manchmal sehr schwer fiel, nicht einzugreifen, das musste ich zugeben.

Zu wenig Zeit hattest leider auch du. Nur kurz konnten wir über die Kinder sprechen, immer in Eile blieb nicht viel Zeit zu ausführlichen Gesprächen. Allerdings wurde mir bald klar, auch du hattest zu kämpfen mit dieser Klasse, aber wie gesagt, du gingst wieder.

Zurück blieb ich mit meiner Wut, meiner aufkeimenden Aggression einzelnen Schülern gegenüber und meiner Hilflosigkeit. Ich war unfähig, diese Kinder irgendwo in der Seele berühren zu können, ihre eiskalte Fassade zu durchbrechen.

Manche hätte ich gerne festgehalten, kräftig geschüttelt bis ihre harte Schale zu bröckeln begann und andere dagegen am liebsten getröstet und im Arm gehalten. „Fassen Sie mich nicht an.“ Dieser Befehl aus Kindermund verfolgte mich.

Eine Mathematikstunde. Klaus streikt. Höhnisch grinsend verweigert er seine Mitarbeit. „Ich brauche gar nichts tun. Meine Mutter kann mir das besser erklären.“ Provokativ schneidet er mir Grimassen, die Lacher sind auf seiner Seite. Ich spüre langsam die Wut in mir aufsteigen, die Ohnmacht sich ausbreiten und einen grenzenlosen Hass auf dieses Kind, das all meine Pläne zunichte macht. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe. Wen sieht es in mir? Ich kann Klaus nicht länger ertragen. „Geh vor die Tür.“ Er bleibt sitzen, spöttisch lächelnd. In wenigen Schritten bin ich bei ihm, schleudere ihn vom Stuhl – „Fassen Sie mich nicht an.“ – und schlage ihm meine Hand klatschend ins Gesicht, links, rechts, links, rechts, rasend vor Wut. „Nun geh und beschwer dich.“  Bedrohliches Schweigen breitet sich im Klassenzimmer aus. Schrill  zerreißt der Gong plötzlich die jähe Stille.  

Ich wachte auf, stellte den Wecker ab und fürchtete mich vor meiner eigenen in mir schwelenden Aggression. Ein rumorender Vulkan vor dem Ausbruch. Von nun an begleitete mich die Angst auszurasten, wirklich einmal die Beherrschung zu verlieren und in eines dieser Gesichter, die mich so höhnisch und provozierend angrinsten in dem Wissen, die schlägt nicht, die wagt es nicht, die darf das nicht,  brutal hineinzuschlagen.

*

Von meinem Chef, unserem neuen Schulleiter erhielt ich ein weiteres Hilfsangebot: In der Lehrerkonferenz wurde beschlossen, dass ich die schwierigsten  Schüler aus dem Unterricht in der Klasse ausschließen durfte, d.h. sie mussten eine bestimmte  Zeit lang in eine andere Klasse gehen. Die Entscheidung musste ich treffen. Was als Erleichterung beabsichtigt war, entpuppte sich als Bumerang: Die ausgeschlossenen Schüler steigerten ihre Aggressionen mir gegenüber, denn ihrer Ansicht nach trug nur ich die Schuld an ihrem Verhalten, sie waren auch der falschen Meinung, sie könnten nur einmal ausgeschlossen werden und nach ihrer Rückkehr in die Klasse benahmen sie sich entsprechend aufsässig.

Boris schaukelt auf dem Stuhl, steckt sich Stifte in die Nase.

Gökhan rennt im Klassenzimmer umher, reißt die Fenster auf, spuckt hinaus, spielt mit dem Lichtschalter, knipst das Licht an und aus, immer wieder, möchte mehrmals hintereinander auf die Toilette, beschwert sich lautstark, weil ich ihn nicht gehen lasse.

*

Einzig wohltuend waren die Stunden, in denen ich unterrichten konnte, während einige Störenfriede ausgeschlossen blieben. Ein Aufatmen ging dann durch die Klasse. So sollte es immer sein, was natürlich eine Illusion war. So blieb es natürlich nicht. Der Ausschluss aus der Klasse führte bei keinem der Betroffenen zu der erwünschten Einsicht über sein Verhalten.

„Fehlendes Unrechtbewusstsein? Seelisch verhungert? Mangelerscheinungen an Gefühlen? Unfähigkeit zu sozialem Verhalten? Spielball ihrer Lust? Unfähigkeit Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren?“ Immer wieder vergebliche Versuche das unfassbare Verhalten vieler Schüler meiner Klasse in Worte zu fassen, Erklärungen zu finden.

Nicht nur ich als Klassenlehrerin, sondern auch andere Fachkollegen standen fassungslos vor diesen Kindern, die nichts schreckte oder überzeugte: stichhaltige Argumente, vernünftige Erklärungen über das Warum und Wieso von gewissen Regeln verpufften, prasselten bei vielen ab. Vom Lehrer erteilte Anordnungen wurden einfach nicht ausgeführt, wurden verweigert mit unvorstellbarer Selbstverständlichkeit. 

„Das mache ich nicht. Sie können mich mal. Halten Sie die Fresse.“ Manuel 

*

„Kommen Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Ein Angebot meines neuen Chefs, von dem ich mich in der ersten Zeit verstanden fühlte. Hieß es am Anfang noch „Es liegt nicht an Ihnen.“, klang es später doch ganz anders. Zu spät wurde mir bewusst, dass mein Chef nicht wirklich an meiner persönlichen Lage Interesse zeigte, sondern vor allem an der Darstellung seiner schulleiterlichen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit. Zu tief steckte ich da schon im Sumpf der täglichen Gehässigkeiten, die mir wie faule Luft entgegenschlugen, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Zu spät erkannte ich die wahren Absichten.

 

Wish you were here – Kapitel 1

08 Freitag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein

≈ Ein Kommentar

Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Lehrer, Lehrerin, Mobbing, Schüler, Schule, Trauer

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch „Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin„.

2q1[1]

Zum Inhalt:

An der neuen Schule sieht sich die engagierte Lehrerin Frau Marau einer überaus schwierigen Klasse gegenüber. Gewalt und Disziplinlosigkeit bestimmen den täglichen Umgang der Schüler untereinander. Alle ihre Bemühungen um ein gewaltfreies Miteinander bleiben erfolglos. Aggressive Störungen und der Widerstand ihr gegenüber nehmen von Tag zu Tag zu. Sie holt sich Hilfe bei einem Sozialpädagogen und beteiligt sich mit ihrer Klasse an seinem Projekt. Die Situation droht zu eskalieren, als das Projekt von einem tragischen Unfall überschattet wird …

___________________________________________________

Kapitel 1 – Vorspann

“Ich habe ihr lange zureden müssen. Immer wieder habe ich gesagt: ’Du musst unbedingt zu Frau Klinter gehen und ihr sagen, dass du die Jungen an dem Tag gesehen hast. Du weißt aus welcher Klasse die sind. Das ist wichtig.’

Aber sie wollte nicht. Sie ist sehr schüchtern, wissen Sie, sie traute sich einfach nicht. Ja, mit mir redet sie schon, ich bin doch ihre Freundin. Ich habe ihr versprochen, mit zu unserer Lehrerin zu gehen.“

*

Der Vorhang fällt, vorbei dein letzter Auftritt, verklungen die letzten Töne der Musik.

Die Anwesenden verlassen langsam, mit zögernden Schritten den Saal, treten heraus aus dem Dämmerlicht, hinein in den blendenden Sonnenschein, ratlos und bestürzt die Gesichter. Mit endgültiger Gewissheit formt sich allmählich ein einziger übermächtiger Gedanke in den Gehirnen, der sich nicht mehr zurückdrängen lässt, der allen schmerzlich bewusst macht: du bist nicht mehr, du bist Erinnerung.

Die letzte Tasse Kaffee, zu der du mich einladen wolltest, wurde nie getrunken, unser letztes Gespräch konnte nicht mehr stattfinden.

How I wish, how I wish you were here.

 

 

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