Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.
Kapitel 3 – Die Schüler
Ich stehe vor der Klasse. Die Schüler ignorieren mich. Hüpfen kreischend über die Bänke, werfen mit lautem Getöse Stühle um, überhören auch den Gong. Ein Höllenlärm bricht aus. Da schreie ich „Ruhe“, laut und schrill, kann nicht mehr aufhören, schreie gellend ununterbrochen, rase aus dem Klassenzimmer, den düsteren Gang entlang, stolpere die Treppe hinunter, stürze ins Lehrerzimmer, immer noch schreiend.
Eine Hand legte sich tröstend auf meine Schulter. Ich wachte auf, fühlte die Wärme der Bettdecke und schloss die Augen, erleichtert. Alles ein Traum.
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„Schüler spüren sofort, wo Ihre Schwachstelle ist. Sie stoßen gnadenlos zu.“ Eine Kollegin
Lehrerjob. Täglich, stündlich viele Aufgaben gleichzeitig erledigen, Entscheidungen in Sekundenschnelle treffen müssen:
Schüler beobachten, Wissen vermitteln, Lernerfolge überprüfen, Störungen unterbinden, Einhaltung von Regeln beachten, Ruhe herstellen und auf jeden Schüler individuell reagieren und dies in jeder Sekunde, dabei von vielen Augen kritisch beobachtet, gnadenlos bewertet und immer wieder von einigen Schülern an der Durchführung eines akzeptablen Unterrichts gehindert zu werden.
Lehrerjob: Vor einer Masse zu stehen, deren Mehrheit oft keine Lust hat, sich anzustrengen, die nahezu alles langweilt und nur macht, wozu sie Lust hat.
Natürlich waren nicht alle Schüler so. Die Klasse setzte sich aus 19 Schülern zusammen. Nur drei davon waren Mädchen. Kurzfristig kam Anna, ein neue Schülerin, zu uns.
Allein ihr äußeres Erscheinungsbild machte sie zur Zielscheibe hämischer Bemerkungen.
„Ist die fett.“ Klaus
„Neben der dicken Kuh will ich nicht sitzen.“ Michaela
Von Anfang an wurde sie wenig freundlich aufgenommen, entpuppte sich als ein Kind mit schwerwiegenden Problemen, das auch selbst Probleme bereitete. Fehlende Hausaufgaben, aufsässiges Verhalten, aggressive Handlungen anderen gegenüber machte sie weder bei Lehrern noch bei Schülern beliebt.
„Anna spuckte mir in der Pause ins Gesicht.“ Mitschülerin
„Anna sagte zu Ina: `Hure, schwarze Schlampe, Negerweib, hau ab’.“ Andrea, Inas Freundin, 7. Klasse
„Schauen Sie, Anna hat mich am Hals gekratzt.“ Helga, Schülerin aus der Parallelklasse
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Trotzdem, in dieser Klasse neu zu sein war für mich Grund genug, ihr den Einstieg zu erleichtern. Zunächst schien eine zarte Freundschaft zwischen ihr und Barbara, deren Bruder Klaus die gleiche Klasse besuchte, zu entstehen. Zwischen den Geschwistern gab es bald heftige Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass Klaus mit zunehmender Gehässigkeit die neue Freundin seiner Schwester beschimpfte, sich über ihr Aussehen lustig machte, dies auch im Unterricht hemmungslos fortsetzte, was ihm von mir einen Verweis einbrachte, worauf seine Mutter mit heftiger Ablehnung reagierte und die Zusammenarbeit mit mir verweigerte.
„Du kriegst eine in die Fotze.“ Klaus
Später erfuhr ich noch, dass Klaus auch Annas Mutter übelst beschimpft hatte, worauf sich die Mütter handfest in die Haare geraten waren. Annas Mutter zeigte keinerlei Bereitschaft, auf das schulische Leben der Tochter positiven Einfluss zu nehmen. Schließlich meldete sie ihr Kind in einer anderen Schule an.
Zurück blieben drei Mädchen, die sich kurzfristig, stark beeinflusst von Klaus, gegen mich wandten. Auch sie grüßten nicht mehr, verhielten sich mir gegenüber feindselig. Eine Liste war im Umlauf, Klaus suchte Gleichgesinnte:
„Wer ist gegen Frau Marau? Hier unterschreiben.“
Die Unterschriften auf der Liste wurden stündlich mehr.
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„Schule? Das ist schlimmer als zu Hause. Meine Schwester, die ewig Brave schleimt sich bei der Lehrerin ein, ein bisschen grüßen, ein bisschen freundlich sein und schon ist sie eine brave Schülerin, die gelobt wird für ihr Verhalten. Sollte diese Lehrerin doch einmal sehen, wie sich meine Schwester daheim benimmt. Ich bin es nämlich, der bei uns das Essen aufwärmt und den Tisch abräumt, während diese Schleimscheißerin ihre Hausaufgaben macht. Hausaufgaben? Nee, dazu habe ich wirklich keine Lust, das ist Zeitverschwendung. Soll sie doch die besseren Noten haben.
Ich werde alle in der Klasse aufwiegeln gegen diese Frau, die gar nichts machen kann außer rumbrüllen oder mich in eine andere Klasse stecken. Ist mir doch egal, ist viel lustiger dort als bei ihr, wo ich eh nichts kapier. Die kann doch nicht erklären die Frau! Meine Mutter meint das auch. Eine gute Lehrerin könnte sich auch besser durchsetzen, sagt meine Mutter, sie müsste nicht immer anderen Müttern vorjammern, wie gewalttätig die Schüler in dieser Klasse sind.
Die Frau hat ja gar keine Ahnung, was da schon alles passiert ist. Keiner traut sich mit ihr zu reden, die wissen schon warum. An der nächsten Ecke wären sie dran, aber sie sagen nichts, diese Schlappschwänze, selber schuld, wenn sie verprügelt werden und sich nicht wehren.
Nur, vor ein paar Tagen in der Stadt, da war es krass, als ich vor zwei so komischen Typen mit glatt rasierten Köpfen auf den Boden gespuckt hatte. Die wollten doch glatt auf mich losgehen. ‚Wir lassen uns von dir nicht anspucken, du kleiner Wichser!’, brüllten sie und rannten auf mich zu, das war knapp, sehr knapp, aber zum Glück kamen gerade Erwachsene vorbei, die sie aufhielten, diese Scheißkerle, und ich konnte mich unauffällig verdrücken.
Da hatte ich schon Schiss gehabt, das stimmt, aber aus unserer Klasse, da traut sich keiner an mich ran. Nur der Manuel, der Neue, der schwarze Stinker, der wäre gefährlich, aber mit dem lege ich mich nicht an. Nicht mehr, okay, ich habe es schon probiert, aber der ist einfach zu stark. Besser, wir geraten nicht aneinander.“ Klaus
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Die „Willigen“ wie ich sie für mich nannte waren Kinder, die stets schwiegen, mir und den „Unwilligen“ gegenüber. Es waren jene, die sich hüteten mir gegenüber etwas verlauten zu lassen über das Verhalten derer, die sie immer wieder quälten. Die Gründe lagen bald auf der Hand: Schlägereien wurden im Voraus geplant und gezielt außerhalb der Schule durchgeführt, auf dem Schulweg oder in einem nahen Wald. Ein vorübergehender Passant, der zufällig Zeuge einer Schlägerei geworden war, informierte aufgebracht die Schulleitung. Der Verlierer des Kampfes musste ärztlich versorgt werden. Nachmittags riss mich ein Telefonanruf unerwartet aus der hoffnungsvollen Stimmung, in der ich mich gerade an diesem Tag befand: Es war einer jener seltenen Tage gewesen, an denen im Unterricht alles planmäßig gelaufen war.
Mein Chef rief an und teilte mir mit knappen Worten den Vorfall mit.
Am anderen Tag im Unterricht: Frostige Ablehnung auf Seiten der Schüler, kühle Reaktion meines Chefs. Über die Prügelei erfuhr ich nichts Näheres. Ein betroffener Vater tauchte im Unterricht auf, um seinen tags zuvor verprügelten Sohn zum Arztbesuch abzuholen. Auch er feindselig gestimmt. Ich war wohl die Einzige, die kaum Ahnung hatte von dem Vorfall. Die Klasse stand mir als schweigende Mauer gegenüber. Ich sah keine Lücke, um irgendwie tiefer vorzudringen in diese abweisenden Fassadengesichter. Wo versteckten diese Kinder ihre Gefühle? Welche Gedanken bewegten diese jungen Menschen, die anderen gegenüber so versteinert wirkten? Wie entstand diese (scheinbare) Gleichgültigkeit?
Korbinian zündelt unter der Bank.
Boris hat „keinen Bock“ mehr, legt den Kopf auf die Bank.
Manuel malt unentwegt Comicfiguren auf ein Blatt.
Michaela liest in der „Bravo“.
Klaus kaut Kaugummi und schießt winzige mit Spucke befeuchtete Papierkügelchen auf die Bank seines Nachbarn.
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Alles prallte an ihnen ab: freundliche Worte, drohende Worte. Alle Versuche von Erklärungen über den richtigen Umgang im Miteinander scheiterten, nur wenige zeigten Einsicht, zu wenige. Ständig waren Störer am Werk, die einen effektiven Unterricht verhinderten.
Mir geisterte immer wieder ein Satz der Schulräte und Seminarleiter aus endlos lang zurückliegenden Ausbildungsjahren durch den Kopf: „Wer guten Unterricht macht, hat keine Disziplinprobleme.“ Sollten diese Herren doch einmal hier antreten und versuchen, guten Unterricht zu machen, um diesen Satz zu beweisen.
Trotz ausführlicher Unterrichtsvorbereitung gelang es mir nicht immer, den Unterricht auch so zu durchzuführen wie ich ihn geplant hatte. Jeder Tag ließ offen, wie es laufen würde, welche Schwierigkeiten auftreten würden. Nie wusste ich vorher, wie die Klasse heute drauf sein würde. Oft ging es überraschend gut, für ein oder zwei Stunden, wofür ich schon dankbar war. Es blieb mir stets ein Rätsel, wovon Erfolg oder Misserfolg abhingen.
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„In keinem Job befindet man sich so auf dem Präsentierteller wie in dem des Lehrers“. Weber, Erlanger Arbeitsmediziner
Und immer wieder ungeschützt vor diesen Kindern stehen, von denen die „Willigen“ erwarteten, dass ich durchgreifen könne und sie vor den Störern beschütze. Ich schämte mich meiner Machtlosigkeit: Ich hatte kein wirksames Mittel in der Hand, positiven Einfluss auf störende Kinder zu nehmen. Die Eltern sperrten sich bis auf wenige, aber auch diese waren nicht in der Lage ihren Kindern gegenüber konsequent zu handeln.
Einzige Maßnahme an manchen Tagen: Die Störer in andere Klassen zu schicken, um uns allen Ruhe zu verschaffen. Der Preis war hoch: Mit geballten Aggressionen kamen sie zurück, neue Feindseligkeit und eine weitere Welle des Hasses schlug mir entgegen. Schüler, die sich ablehnend gegenüber Lehrern verhielten, damit musste ich als Lehrer leben können. Als besonders gefährlich empfand ich es dagegen, wie die Schüler miteinander umgingen. Der Hass einiger Kinder war nicht nur auf die Schule gerichtet, sondern traf auch Mitschüler, vor allem jene, die Schwächen zeigten. Klassengemeinschaft blieb ein Fremdwort.
Es herrschte ein totales Gegeneinander, ich aber träumte von einem Füreinander, sehnte mich nach einer Atmosphäre zum Wohlfühlen.
Seine ungezügelte Wut mir gegenüber ließ Klaus an einer wehrlosen Topfpflanze aus, die ich in die Schule mitgebracht hatte. Geknickte Blätter als Zeichen seiner Wut. Geknickte Hoffnung.
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„Die Zunahme schwerer Verhaltensstörungen entsteht durch rapide Abnahme elterlicher Zuwendung. Die Erziehungsverantwortung zu Hause tendiert gegen Null.“ Joachim Bauer, Psychotherapeut
Ich fragte mich oft, wie waren diese Schüler als Kleinkinder? Was hatte diese Entwicklung hervorgerufen? Seelische Verwahrlosung, seelische Unterernährung, Gefühllosigkeit und mangelndes Einfühlungsvermögen anderen gegenüber, seelische Grausamkeit, Grenzenlosigkeit im Handeln – Zeichen einer Fehlentwicklung?
Was machte diese Kinder noch froh? Was machte ihnen Angst? Wie verhielten sie sich zu Hause?
Wenige Eltern führten Gespräche mit mir und es war offensichtlich: Auch diese Eltern litten unter dem Verhalten ihrer Kinder. Waren diese Kinder jemals erwünscht gewesen?
Sobald ich Probleme im Elternhaus erkannte, wurde mir klar, warum dieser oder jener sich so verhielt, ich verstand es, teilweise jedenfalls, aber was konnte ich tun? Verstehen hieß in meinen Augen jedoch nicht, auch einverstanden zu sein. Viele hatten es schwer daheim, kein erreichbarer Vater, die Mutter in der Arbeit, ständig abgehetzt, überfordert. Aber reichte das wirklich aus, um andere, die schwächer waren, zu treten und seelisch und körperlich zu verletzen? Immer wieder war ich hin- und hergerissen zwischen Verständnis und aufkeimenden Hassgefühlen.
Hass gegenüber meiner Machtlosigkeit: Ich konnte die Eltern kaum zwingen, in die Schule zu kommen, konnte die Eltern nicht zur Zusammenarbeit mit mir bewegen. Was zu üben war, was fehlte, ich schrieb es unermüdlich in die Hefte, in der Hoffnung auf eine Rückmeldung. Aber nur in seltenen Fällen gaben die Eltern durch ihre Unterschrift zu erkennen, dass sie meine Informationen auch gelesen hatten, was allerdings noch lange nicht hieß, dass fehlende Hausaufgaben nachgearbeitet wurden.
Was blieb zu tun? Mitteilungen zu schreiben, Stunden für Nacharbeit zu organisieren oder selbst Zeit aufzubringen in meiner Freizeit. Hinweise auf die Pflichten von Eltern und Schülern in Sachen Hausaufgaben blieben unbeachtet. Ergebnis: hoher Zeittaufwand, ohne bleibende Verbesserung, Frustration, Resignation.
Ich kapitulierte nach einer Teilnahme an einer Fallbesprechungsgruppe, in der ich mein Problem mit den fehlenden Hausaufgaben angesprochen hatte. Eine Teilnehmerin riet mir, doch die Hausaufgaben ganz weg zu lassen, da sie pädagogisch fragwürdig seien. Nach wie vor bin ich von der positiven Seite der Hausaufgaben überzeugt, falls sie gemacht würden und dies regelmäßig, natürlich vorausgesetzt. Trotzdem sah ich eine Erleichterung für mich, denn ich hatte es endgültig satt, ständig hinterherlaufen zu müssen, um konsequent das zu fordern, was ich verlangt hatte, was Pflicht war. Von einem Tag auf den anderen verkündete ich den Schülern, dass Hausaufgaben in Zukunft nur noch freiwillig zu machen wären. Großes Erstaunen unter den Schülern. Die ewig Faulen waren so entmachtet, es war ab sofort nichts Besonderes mehr, keine Hausaufgaben zu machen. Manche erledigten sie erstaunlicherweise trotzdem weiterhin. Nach wie vor korrigierte ich alle Arbeiten und hatte mich gleichzeitig von der lästigen Kontrolle befreit, stets und ständig Listen führen zu müssen.
Boris kommt ohne benötigtes Schulmaterial, hat kein Geodreieck, keine Lektüre, kann nicht mitarbeiten, weigert sich aus einem Buch zu lesen, das ich ihm anbiete. Brüllt in der Klasse herum: „Von Ihnen nehme ich nichts. Wer leiht mir was?“