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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Lehrer

Wish you were here – Kapitel 5

12 Dienstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Burnout, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gefühle, Lehrer, Schüler, Schule, Unterricht

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 5 – Burnout

Täglich wünschte ich mir ein Ende des Schuljahres herbei. Nur noch ein Schuljahr, dann würde ich in den Genuss eines Sabbatjahres kommen. Täglich stellte ich mir die Frage: „Willst du wirklich Lehrerin sein bzw. bleiben?“ Täglich die Suche nach einer Alternative.

Ausgebrannt. Leben auf Sparflamme. Ohne Energie für den Alltag. Heimkommen nach dem Unterricht, leer und doch gedanken- übervoll, ruhelos und doch erschöpft, müde und doch schlaflos, erleichtert, die Zeit heute überstanden zu haben und doch frustriert, deprimiert beim Gedanken an morgen. Es dauerte oft Stunden, ehe ich mich aufraffen konnte, das Nötigste zu erledigen. Burnout. Ausgesaugt. Eine leere Hülle, eine kranke Hülle, so würde es enden. So durfte es nicht enden.

Burn-out Ursache liegt nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Lehrern. Der Psychologe Uwe Schaarschmidt spricht vom „Perfektionsstreben“ und „Überengagement“ sowie von der fehlenden „Fähigkeit, sich vom Job zu distanzieren“. Potsdamer Studie 

Burnout-Syndrom. Dieses Ausgebranntsein ist demnach häufig bei Lehrern anzutreffen, die ihre Sache besonders gut machen wollten. War ich zu ehrgeizig oder einfach unfähig?

Die Schüler oder ich? Ich musste mich entscheiden, jetzt, sofort, wollte ich wieder leben können, ohne mich täglich verstellen zu müssen, wollte ich wieder leben und Ich sein dürfen, ohne seelische Verrenkungen, wollte ich nicht ersticken hinter einer übergestülpten Lehrer-Maske, die mich anwiderte: Das war nicht ich.

So entschied ich mich für mich, versuchte Grenzen zu ziehen zwischen dem Schulalltag, und meinem Privatleben, das brach lag, unbestellt wie ein dürrer Acker: Ständig kreisten meine Gedanken um die Schule, sogar aus meinen Träumen konnte ich sie nicht verbannen.

Da begann ich zu lesen, um meinen Gedanken an Schule keinen Raum zu lassen, füllte ich mich mit fremden Gedanken: Kriminalromane, früher nie gelesen, wurden jetzt zu meinem bevorzugten Lesestoff. Obwohl ich Gewalt tief verabscheute, las ich nun – mir selbst unerklärlich – die grausamsten Krimis. Mankells Kommissar Wallander faszinierte mich, nicht wegen der Fälle, sondern wegen seiner Versuche, die Täter zu verstehen bzw. aufzuzeigen, was sie zu Tätern gemacht hatte. Immer noch hoffte ich, eine Lösung für meine Probleme in der Schule zu finden. Irgendwie. Eine Erklärung wenigstens.

Kreativität, das Schaffen von schönen Dingen, das mir in der Schule versagt blieb, wollte ich nun für mich haben. Bleibendes wollte ich erzeugen nach all den fehlgeschlagenen Versuchen, Wissen und Freude am Lernen zu vermitteln. So entdeckte ich die Malerei neu für mich, besuchte Kurse. Malte ich zu Hause, konzentrierte ich mich auf ein Motiv, fanden Gedanken an die Schule keinen Einlass. Ich schaffte mir nach und nach wieder Freiräume, frische Luft und einen Sicherheits-Abstand zur Schule.

Kompromisse waren angesagt: Schütze die Lernwilligen und ermögliche ihnen eine störungsfreie Atmosphäre. Zum Glück stand mir noch ein kleiner selten genutzter Raum zur Verfügung, der sich im selben Stockwerk wie das Klassenzimmer befand. Immer wieder schickte ich die Lernwilligen in dieses Zimmer und ließ sie dort Aufgaben bearbeiten, während ich die Chaoten beaufsichtigte. Dabei vertraute ich auf mein Glück und hoffte, dass nichts passieren würde, wohlwissend, dass ich meine Aufsichtspflicht dabei verletzte. Den teilbaren Lehrer gibt es aber noch nicht, also handelte ich auf Risiko. Ich hoffte, die Gruppe der Lernwilligen auf diese Weise so stärken zu können, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln würde, das hilfreich wäre bei der Auseinandersetzung mit den Gewalttätigen. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass der innere Zusammenhalt der Schüler diese vor Angriffen der anderen schützen könnte.

Die Klasse wurde so in zwei Gruppen getrennt, was sicher ein Nachteil war und pädagogisch eher fragwürdig, das war mir auch klar. Nach all den Fehlversuchen stieß ich jetzt an eine Grenze, und die, das fühlte ich, durfte ich auf keinen Fall überschreiten. Ich musste die Kinder schützen und auch mich.

Die Fähigkeit, mich vom Job zu distanzieren, erprobte ich nach und nach, hatte ich doch einsehen müssen, dass ich allein gegenüber den mannigfaltigen Störungen vieler Schüler wenig ausrichten konnte.

„Haben Sie es schon gehört? Frau Krenz hat vor ihrer Klasse geweint, sie hat echt geheult und ist aus dem Zimmer gerannt.“ Klaus triumphiert während dem Unterricht, mich erwartungsvoll anschauend.

Ich spürte die versteckte Drohung: ‚Wart nur, wir bringen dich auch noch zum Heulen.’

„Ist ihre Klasse nun zufrieden? Sind sie jetzt stolz darauf, den Lehrer zum Weinen gebracht zu haben?“, fragte ich kühl zurück und schwor mir gleichzeitig dabei, vor dieser Klasse nicht zu heulen. Nie. Niemals.

Die Schüler oder ich? Ich musste mich entscheiden, jetzt, sofort, wollte ich wieder leben können, ohne mich täglich verstellen zu müssen, wollte ich wieder leben und Ich sein dürfen, ohne seelische Verrenkungen, wollte ich nicht ersticken hinter einer übergestülpten Lehrer-Maske, die mich anwiderte: Das war nicht ich.

So entschied ich mich für mich, versuchte Grenzen zu ziehen zwischen dem Schulalltag, und meinem Privatleben, das brach lag, unbestellt wie ein dürrer Acker: Ständig kreisten meine Gedanken um die Schule, sogar aus meinen Träumen konnte ich sie nicht verbannen.

Da begann ich zu lesen, um meinen Gedanken an Schule keinen Raum zu lassen, füllte ich mich mit fremden Gedanken: Kriminalromane, früher nie gelesen, wurden jetzt zu meinem bevorzugten Lesestoff. Obwohl ich Gewalt tief verabscheute, las ich nun – mir selbst unerklärlich – die grausamsten Krimis. Mankells Kommissar Wallander faszinierte mich, nicht wegen der Fälle, sondern wegen seiner Versuche, die Täter zu verstehen bzw. aufzuzeigen, was sie zu Tätern gemacht hatte. Immer noch hoffte ich, eine Lösung für meine Probleme in der Schule zu finden. Irgendwie. Eine Erklärung wenigstens.

Kreativität, das Schaffen von schönen Dingen, das mir in der Schule versagt blieb, wollte ich nun für mich haben. Bleibendes wollte ich erzeugen nach all den fehlgeschlagenen Versuchen, Wissen und Freude am Lernen zu vermitteln. So entdeckte ich die Malerei neu für mich, besuchte Kurse. Malte ich zu Hause, konzentrierte ich mich auf ein Motiv, fanden Gedanken an die Schule keinen Einlass. Ich schaffte mir nach und nach wieder Freiräume, frische Luft und einen Sicherheits-Abstand zur Schule.

Kompromisse waren angesagt: Schütze die Lernwilligen und ermögliche ihnen eine störungsfreie Atmosphäre. Zum Glück stand mir noch ein kleiner selten genutzter Raum zur Verfügung, der sich im selben Stockwerk wie das Klassenzimmer befand. Immer wieder schickte ich die Lernwilligen in dieses Zimmer und ließ sie dort Aufgaben bearbeiten, während ich die Chaoten beaufsichtigte. Dabei vertraute ich auf mein Glück und hoffte, dass nichts passieren würde, wohlwissend, dass ich meine Aufsichtspflicht dabei verletzte. Den teilbaren Lehrer gibt es aber noch nicht, also handelte ich auf Risiko. Ich hoffte, die Gruppe der Lernwilligen auf diese Weise so stärken zu können, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln würde, das hilfreich wäre bei der Auseinandersetzung mit den Gewalttätigen. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass der innere Zusammenhalt der Schüler diese vor Angriffen der anderen schützen könnte.

Die Klasse wurde so in zwei Gruppen getrennt, was sicher ein Nachteil war und pädagogisch eher fragwürdig, das war mir auch klar. Nach all den Fehlversuchen stieß ich jetzt an eine Grenze, und die, das fühlte ich, durfte ich auf keinen Fall überschreiten. Ich musste die Kinder schützen und auch mich.

Die Fähigkeit, mich vom Job zu distanzieren, erprobte ich nach und nach, hatte ich doch einsehen müssen, dass ich allein gegenüber den mannigfaltigen Störungen vieler Schüler wenig ausrichten konnte.

„Haben Sie es schon gehört? Frau Krenz hat vor ihrer Klasse geweint, sie hat echt geheult und ist aus dem Zimmer gerannt.“ Klaus triumphiert während dem Unterricht, mich erwartungsvoll anschauend.

Ich spürte die versteckte Drohung: ‚Wart nur, wir bringen dich auch noch zum Heulen.’

„Ist ihre Klasse nun zufrieden? Sind sie jetzt stolz darauf, den Lehrer zum Weinen gebracht zu haben?“, fragte ich kühl zurück und schwor mir gleichzeitig dabei, vor dieser Klasse nicht zu heulen. Nie. Niemals.

Selbst-Schutz

Morgens

Fertig zum Geh’n

Vor dem Spiegel steh’n

Und täglich prüfen,

ob die Angst auch wirklich tief verborgen bleibt,

der Blick auch kalt und abweisend genug ist

und der Mund so fest geschlossen, dass kein Schrei entweicht.

Wish you were here – Kapitel 4

11 Montag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Lehrer, Lehrerin, Mütter, Mobbing, Opfer, Schule, Täter

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 4 – Opfer und Täter

Opfer und Täter

Ein Film

 KillerBoots

Inhalt: jugendliche Gewalt. Form: eine Produktionsbeschreibung von Stiefeln und Schädeln. Was ist das Gute an Stiefeln mit Stahlkappen? Was ist das Gute an Menschenköpfen? Was passiert, wenn beide auf der Straße aufeinandertreffen? Der Film zeigt Folgen von Gewalt. Gebrauchsgegenstände werden zu Symbolen der Gewalt und schließlich zu Waffen. Der Film ist eine Collage, ein Statement, eine Frage und eine ungewöhnliche Auseinandersetzung mit der Gewalt.

KillerBoots, ein Film, der viele Fragen offen lässt. Du hattest ihn mitgebracht in eine deiner Stunden, die zu deinem Projekt Toleranz gehörten. KillerBoots, ein Film der zeigt, wie ein Schuh mit Stahlkappe, der eigentlich als Arbeitsschuh gemacht war, zu einer gnadenlosen und tödlichen Waffe werden kann, ganz ohne Waffenschein. KillerBoots, die Stiefel zum Töten. Die Klasse war wie immer geteilt in Willige und Unwillige. Schockiert und betroffen waren die Willigen vom Inhalt des Filmes: Ein junger Mann wurde von einem Stiefelträger getreten und erlitt lebensgefährliche Schädelverletzungen. Es dauerte einige Jahre bis er wieder sprechen konnte. In winzigen Schritten gewann er mit Hilfe seiner Therapeuten nach und nach einen Teil seiner motorischen Fähigkeiten, wie gehen und schreiben, erneut zurück. Was mit dem Träger der KillerBoots passierte, blieb allerdings im Unklaren.

Das anschließende Gespräch über den Film ließ mich befürchten, dass die Unwilligen den Umgang mit KillerBoots eher als Gebrauchsanweisung auffassten, als weitere Möglichkeit Gewalt anzuwenden, anstatt aufgrund der gefährlichen Folgen davon abgeschreckt zu werden.

In einer Diskussion nannten die Schüler Situationen, in denen sie geschlagen und getreten hatten, meist aus nichtigen Anlässen. Ein Schimpfwort hatte genügt, ein unrechter Blick, ein Lachen zum falschen Zeitpunkt, ein Äußeres, das nicht gefiel, die Tatsache ein Ausländer zu sein und schon wurde zugeschlagen, ein Opfer war gefunden. Viele blieben nach wie vor davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben.

„Ich lasse mir nicht alles gefallen.“ 

Szene aus dem Unterricht: Deine Stunde. Die Schüler sitzen im Stuhlkreis, Korbinian stößt Matthias im Vorbeirennen den Ellbogen absichtlich an die Nase, Gökhan springt von seinem Stuhl auf, saust auf Matthias zu und dreht ihm grob mit einem heftigen Ruck die Nase zur Seite mit der Begründung: „Jetzt ist es wieder gut.“ Das Opfer sitzt mit Tränen in den Augen da und nichts passiert. Sollte hier nicht jemand eingreifen? Ich wurde sehr unruhig auf meinem Stuhl, aber ich hatte dir die Klasse überlassen, es war deine Stunde.

Immer wieder reden über Gewalt, Formen, Folgen und Bestrafungsmöglichkeiten, die Wortkarten häuften sich an der Wandtafel. Keine Zeit, darüber zu sprechen wie Gewalt verhindert werden kann. Wie gehe ich mit mir um, wenn ich Wut verspüre? Wie verhalte ich mich, wenn ich Gewalt anderer ausgesetzt bin? Diese Fragen konnten leider nicht ausreichend geklärt werden. Keine Zeit, du musstest wieder gehen. Immer stärker vermisste ich eine Möglichkeit, mit der das Verhalten von Opfern und Tätern durch gezieltes Training verändert werden könnte.

Du gingst mit dem Gongschlag, die Schüler aber blieben und mit ihnen ihre ungeklärten Probleme. Wish you were here.

*

„Vor ungefähr drei Wochen, da fuhr ich mit dem Bus von der Schule nach Hause, da begegnete ich ihnen zum ersten Mal. Sie waren zu dritt, drei Jungs, und sie stiegen an der gleichen Haltestelle aus wie ich. Ich kannte sie noch von der Grundschule her, vom Sehen. Nein, in der gleichen Klasse waren wir nie gewesen, aber sie wussten, dass ich auf die Realschule ging und auf dem Heimweg war.

Beim Aussteigen stieß einer mich an und alle brüllten: ‚Los, entschuldige dich. Was soll das, uns einfach anzurempeln? Kommst dir wohl als ’was Besseres vor mit deiner Realschule, oder?’ Ich war ganz verwirrt und stotterte: ‚Tut mit Leid, kommt nicht wieder vor.’ ‚Das wollen wir hoffen, sonst schaust du alt aus, du Wichser, du!’, grölten sie laut und schubsten mich aus dem Weg. Allmählich schlug meine Angst in grenzenlose Wut um. ‚Was bildeten die sich eigentlich ein?’ Zu Hause allerdings machte sich wieder die Angst breit, unbarmherzig: ‚Was sollte ich bloß tun, wenn ich ihnen wieder begegnete?’

Nach einer Woche sah ich sie wieder an der Haltestelle stehen, an der ich ausstieg. Dieses Mal waren sie zu fünft. Ich kannte aber nur die drei vom ersten Mal. Sie rauchten gelangweilt, einer trank aus einer Dose Bier, rülpste lautstark und alle taten so, als ob sie mich nicht erkannt hätten, aber ich spürte es ganz deutlich, sie hatten es auf mich abgesehen. Ganz langsam drehten sie sich um und versperrten mir den Weg, so einen Kreis bildeten sie um mich. Ganz langsam. Mit ihren Fäusten schlugen sie plötzlich wie auf ein geheimes Kommando auf meine Schultern und brüllten dabei kumpelhaft: ‚So ein Zufall, lange nicht gesehen, so eine Freude!’ Immer enger drängten sie sich an mich heran, ganz nah, ich konnte sie schon riechen, hatte den Geruch von saurem Bier und bitterem Schweiß schon in der Nase. Mit einem Ruck riss mir einer plötzlich meine Brille aus dem Gesicht und schwenkte sie wie eine Beute am Bügel durch die Luft. ‚Was haben wir denn da? Was ist denn das?’, grölte er und ließ die Brille lässig auf den Boden fallen, trat mit seinem Fuß drauf, alles ganz langsam und ich hörte es eklig knirschen, sah den ledernen Schnürstiefel, die Schuhsenkel hingen auf den Boden wie kleine Fühler, sah die Schmutzflecken auf dem ausgeblichenen Leder, sah alles wie durch ein Vergrößerungsglas, riesengroß, nahm jede Einzelheit wahr und konnte es doch nicht glauben: ‚Der Kerl da hatte einfach meine Brille zertreten, völlig grundlos. Was hatte ich ihm bloß getan?’ Ungewollt stiegen mir Tränen der Wut in die Augen. ‚Nur ja nicht heulen, nicht vor denen’, schoss es mir durch den Kopf. Verzweifelt durchstieß ich mit einem Aufschrei der Wut den Kreis und rannte davon.

Meine Eltern wollten natürlich wissen, was mit meiner Brille passiert sei, aber ich sagte nicht die Wahrheit, es war mir einfach zu peinlich. ‚Ich habe sie in der Schule vergessen,’ erklärte ich meinen Eltern. Zum Glück hatte ich noch eine alte Ersatzbrille, mit der ich zur Not meine Hausaufgaben machen konnte.

Die Brille tauchte natürlich nicht wieder auf, – konnte sie ja auch nicht, – ich war gezwungen mir eine neue zu beschaffen, sehr zum Ärger meiner Eltern, denn die Brille war sehr teuer gewesen.

Einige Wochen lang traf ich keinen aus dieser Gruppe, glaubte schon die Sache überstanden zu haben, aber eines Tages, als ich wie gewohnt an der Haltstelle ausstieg, warteten sie schon spöttisch grinsend auf mich. Wieder waren sie zu fünft, Zigaretten in der Hand. Kaum war ich draußen, rückten sie näher und bliesen mir den Zigarettenqualm voll ins Gesicht, so dass ich husten musste. Wie zur Beruhigung klopften sie mir kräftig, scheinbar freundschaftlich auf den Rücken, da näherten sich einige Erwachsene. Ich grüßte die einfach, ohne sie zu kennen. Verwundert grüßten sie zurück und im gleichen Moment traten die fünf verunsichert zur Seite. Ich nutzte die Gelegenheit und stürmte davon.

‚Morgen bist du dran, morgen zünden wir deine Klamotten an, vergiss das nicht, du feiges Arsch.’ Ihre Rufe verfolgten mich auf dem ganzen Heimweg. Ganz ehrlich, ich hatte furchtbare Angst und eine Wahnsinnswut auf diese Typen. Wie sollte ich ihnen aus dem Weg gehen? Sie hatten es auf mich abgesehen, da war ich mir ganz sicher. Sie würden mir überall auflauern, also, was sollte ich bloß tun?

Beim Abendessen beschuldigte mich meine Mutter auch noch, geraucht zu haben, da meine Kleidung auffällig nach Zigarettenqualm rieche. Ihr sei schon lange aufgefallen, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sei. Entrüstet stritt ich natürlich ab, geraucht zu haben.

‚Herr Hertau, unser Nachbar, hat dich aber an der Bushaltestelle rauchen gesehen,’ behauptete meine Mutter verärgert.

Morgen zünden wir deine Klamotten an, morgen zünden wir deine Klamotten an, immer wieder quälte mich der Gedanke an morgen. Ich hatte Angst und meine Mutter glaubte, dass ich rauchte. ‚Was sind das eigentlich für Kerle, die sich da an der Haltestelle herumtreiben und die Leute belästigen?,’ fragte sie argwöhnisch nach. ‚Das sind doch nicht etwa Freunde von dir?’ ‚Freunde? Arschlöcher sind das, ganz verdammte feige, blöde, doofe Arschlöcher, die morgen meine Klamotten anzünden wollen!’, schrie ich unbeherrscht. Erschrocken schwieg ich. Zu spät, jetzt wussten es meine Eltern, dass ich mich nicht wehren konnte, dass ich ein Feigling war.

Es dauerte eine Zeit, bis meine Eltern begriffen, dass die Sache mit den Typen wirklich Ernst zu nehmen war. ‚Das melde ich der Polizei’, beschloss mein Vater. Zunächst wehrte ich mich dagegen. Welche Schande, ein Schüler braucht die Polizei, um sich gegen andere Schüler zu wehren. Sie würden mich auslachen, verspotten, an anderer Stelle auflauern, alles würde noch schlimmer werden. Übelkeit stieg in mir hoch, Verzweiflung: Meine  Lage erschien mir aussichtslos.

Mein Vater klärte inzwischen mit einem Polizeibeamten die Situation. Zwei Beamte in Zivil würden in der Nähe der Haltestelle warten und die Szene beobachten. Ein Einschreiten wäre erst möglich, wenn die Typen ihre Drohung tatsächlich wahrmachen würden, woran ich nicht im Geringsten zweifelte. Mein Vater sollte auch wie zufällig in der Nähe sein.

Ich hatte wirklich keine Ahnung davon, dass er auch an der nahe gelegenen Hauptschule angerufen hatte. Er wollte herausfinden, ob es sich bei den Typen um Schüler dieser Schule handelte.

Den ganzen Tag über fühlte ich mich beschissen, das können Sie glauben, mir graute schon den ganzen Vormittag vor der Busfahrt.

Endlich tauchte meine Haltestelle auf, ich stand langsam auf, blickte aus dem Fenster und schon sah ich sie, alle fünf.

Zigaretten rauchend standen sie abwartend da und winkten mir schadenfroh zu. Widerwillig stieg ich aus dem Bus, halb schlecht vor Angst war mir, da schlenderten sie lässig auf mich zu, die Zigaretten mit zwei Fingern haltend, immer näher rückten sie, während ich stehen blieb, unfähig mich zu rühren oder auszuweichen. Gebannt starrte ich auf die rötlich glimmende Spitze, roch den Rauch, war wie fest genagelt. Als die erste Zigarettenspitze meinen Anorak berührte, atmete ich auf: Zwei dunkel gekleidete Männer hielten den Kerl in Sekundenschnelle fest, auch mein Vater war zur Stelle und plötzlich stand da auch ein Mann, der sich als Lehrer der Hauptschule zu erkennen gab und die Typen mit Namen kannte.

Damit hatten sie nicht gerechnet. Völlig überrumpelt blieben sie stehn, keiner wehrte sich, keiner haute ab. Alle gaben ihre Namen und Adressen an, keiner leugnete den Plan, aber niemand konnte die Frage der Beamten beantworten: ‚Warum habt ihr seine Klamotten anzünden wollen?’ Schweigend zuckten sie mit den Schultern.

Ich schämte mich schon, das gebe ich zu, wäre am liebsten im Boden versunken. Aber die Beamten meinten, es wäre richtig gewesen und wichtig, um weitere Vorfälle zu verhindern. Davon bin ich nicht überzeugt. Nach wie vor fürchte ich mich davor, ihnen unerwartet zu begegnen.

Bis jetzt traf ich zwei von den Typen zufällig beim Einkaufen, sie starrten einfach an mir vorbei, ich spürte sofort, wie mich wieder die Angst packte. Wie eine grobe Faust drückte sie auf meinen Magen, so dass mir die Luft wegblieb. Gott sei Dank ließen sie mich in Ruhe, aber was ist beim nächsten Mal?“ Lorenz, Realschüler

*

Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Jungen, die Lorenz bedroht hatten um Schüler unserer Schule handelte, bunt zusammengewürfelt aus verschiedenen Klassen. Im Kollegium waren alle unangenehm überrascht, denn hinter all den von der Polizei genannten Namen verbargen sich Schüler, die uns bis dahin nicht sonderlich aufgefallen waren. Aus meiner Klasse war auch ein Schüler dabei, Clemens. Ich verstand die Welt nicht mehr: Was bewog diesen ruhigen Jungen, den ich nie in Raufereien verwickelt sah dazu, einen fremden Jungen zu bedrohen und zu ängstigen?

Mein Gespräch mit Clemens blieb erfolglos. Gleichgültiges Schulterzucken. Was ging in seinem Inneren vor? Große Augen starrten mich trotzig an. Stumm. Herausfordernd. Bekam er zu wenig Zuwendung von seiner Mutter, die immer arbeiten musste, wenn ich mit ihr reden wollte? Mitläufertum aus Einsamkeit?

Die Polizei benachrichtigte die Eltern der Täter und wollte in die Klassen zu Gesprächen kommen, die beteiligten Schüler leisteten einige Stunden Sozialarbeit. Der Vorfall geriet bald in Vergessenheit, kein Polizist erschien jemals im Unterricht. Personalmangel. 

Schulszene: Kurz vor Beginn der Pause stellen sich die Kinder vor der Tür auf. Korbinian zieht plötzlich mit einem schnellen Ruck das Knie hoch und stößt es Lukas, der neben ihm steht, zwischen die Beine. Ich beobachte wie der vor Schmerzen zusammenzuckt, mich hilflos anschaut. Wütend  stürze ich zu den beiden hin, packe Korbinian an den Schultern und stelle ihn zur Rede: „Du weißt doch selbst, wie weh das tut. Das geht jetzt aber entschieden zu weit, völlig grundlos Lukas weh zu tun. Du kannst ab sofort in einer anderen Klasse darüber nachdenken.“

Nach der Pause entschuldigte sich Korbinian bei mir, aber ich blieb hart, diese Entschuldigung war nur ein Versuch, meine Entscheidung rückgängig zu machen. Klaus hatte ihm dazu geraten.

Klassenausschluss. Ich informierte meinen Chef. Genervt erklärte er mir, ich hätte nicht eingreifen müssen, Lukas trage selbst eine gewisse Schuld. Empört starrte ich ihm ins Gesicht, sah sein kühles, herablassendes Lächeln, glaubte schon, mich verhört zu haben, fühlte mich nicht Ernst genommen. Im ersten Moment suchte ich sprachlos vor Wut nach den richtigen Worten, um ihm zu widersprechen, da erklärte er ungerührt: „Sie brauchen erst einzuschreiten, wenn das Opfer Sie darum bittet.“

„Wie bitte? Herr Gruff, Sie fordern von uns Lehrern, dass wir keine aggressiven Handlungen unter den Schülern dulden sollen. Mit Ihrer Meinung verwirren Sie mich nun total. Ich kann doch nicht immer warten, bis sich die sogenannten Opfer bei mir Hilfe holen. Das ist doch gerade das Problem, die Schwächeren gehen nicht zum Lehrer, sie trauen sich das gar nicht, weil sie nicht als Petzer dastehen wollen. Denken Sie doch an die Pausen. Wie soll ich mich denn da als Pausenaufsicht verhalten? Bei Prügeleien einfach wegschauen,  sie ignorieren? Meinen Sie das wirklich?“

Pause. Zwei Jungen schlagen sich, einer ist sichtlich unterlegen, aber sobald ich mich nähere, wird gebrüllt: „Es ist nur Spaß.“ In den Augen des Schwächeren sehe ich die Angst und den Schmerz aufflackern, während der Angreifer hämisch grinst und mich herausfordernd anschaut. Ich trenne die beiden und frage den Unterlegenen: „Ist das auch für dich Spaß?“ Zögernd wird dann meist der Kopf geschüttelt und ich weiß, der Täter wird warten, später, irgendwo auf dem Schulweg oder an einer Stelle, an der er sich unbeobachtet fühlt. Nur kurze Zeit kann ich Schutz bieten, Gewalt verhindern. Aber ist das ein Grund, eine Prügelei zu übersehen?

Wieder einmal wurde das Gespräch abrupt beendet, wie so oft, der Gong ertönte, die Antwort blieb mein Chef mir schuldig.

Manuel boxt seinen Nachbarn in den Rücken, mehrmals. „Ich habe ihm nichts getan, er heult ja nicht.“

*

Kann es sein, dass Täter in der Schule grundsätzlich mehr Zuwendung erhalten als ihre Opfer? Pädagogische Maßnahmen für beide Gruppen halte ich deshalb unbedingt für erforderlich. Den Tätern wird Zuwendung in Form von Zeit gewährt, auch wenn diese im Ableisten von Sozialstunden besteht, mit den Tätern wird immer wieder geredet, ihnen wird zugehört, für sie werden Personen freigestellt, die sich nur mit ihnen, den Tätern befassen. Täter stehen im Mittelpunkt.

Wer aber spricht mit den Opfern? Allzu schnell werden diese abgestempelt als Weicheier oder Schlappschwänze. Die Ängste der Opfer werden nicht Ernst genommen. Sie äußern sich in Kopfschmerzen, Bauchweh und häufigen Erkrankungen. Ich beobachtete Robert, einen Schüler meiner Klasse, der immer als letzter das Klassenzimmer betrat und in der Pause nicht in den Pausenhof wollte, stattdessen lieber heimlich im Gang herumschlich, um nicht gesehen zu werden. Ich wusste auch warum: Robert wurde ständig angemacht und verspottet. Ein höfliches Kind, das Therapiestunden erhielt, mit dessen Therapeuten ich bereits geredet hatte und der meine Meinung bestätigte: Robert litt unter Schulangst. Er fiel allerdings kaum auf im Klassenverband. Wen also interessierte sein Gefühlsleben? Ich versuchte sein Selbstbewusstsein zu stärken, und musste mir ausgerechnet von den schlimmsten Störern sagen lassen, dass ich ihn bevorzuge. Meine Gegenfrage: „Wundert euch das?“

*

„Natürlich ist mir  aufgefallen, dass mein Sohn Robert nun immer Streichwurstbrote für die Pause haben wollte. Er lehnte jede angebotene  Abwechslung ab. Ich wunderte mich allmählich, bis ich zufällig von seinem Freund erfuhr, dass Korbinian, ein Mitschüler, ihm  immer in der Pause seine Brote wegnahm. Eine Zeit lang funktionierte das auch, mein Sohn ließ sich Brote schmieren für einen anderen, der ihm Prügel androhte, falls er seine Brotzeit nicht abgeben würde oder petzen sollte. Als Robert zufällig feststellte, dass der andere Streichwurst nicht leiden konnte, entschloss er sich zu dieser Wurstart, um sein Pausebrot zu retten und vor allem, nehme ich an, damit er in keine Schlägerei geriet.

Mein Sohn ist ein ruhiger Kerl, kein Rabauke. Leider wird er immer sofort ausgelacht, weil er ein bisschen langsam ist im Sprechen und auch so, aber er ist sehr verträglich, höflich und freundlich, nur in dieser Klasse wird das nicht respektiert, im Gegenteil. Natürlich leidet er unter dem Spott der anderen, wehren kann er sich schlecht, er versucht es eben auf seine Art: Von der Lehrerin erfuhr ich, dass er fast immer knapp vor Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer betritt und er verlässt das Schulhaus als letzter der Klasse. Oft klagt er schon zu Hause über Übelkeit und Kopfschmerzen.  Er will auf keinen Fall, dass ich mit der Lehrerin über seine Probleme spreche. Er befürchtet, andere könnten davon erfahren und es ihm heimzahlen.

 Sein Selbstwertgefühl muss gestärkt werden, meint sein Therapeut, aber das ist leicht gesagt, erklären Sie das mal einem  Kind, das jeden Tag Angst hat vor bestimmten Mitschülern, die schon grinsend auf ihn warten, um sich einen Spaß mit ihm zu machen. Die Lehrerin? Mit der kommt er gut klar, sie scheint ihn auch zu verstehen und zu unterstützen, aber genau darüber lästern schon wieder einige ganz harte Typen. Er kann sich schon gar nicht mehr über ein Lob freuen, weil ihm die Freude gleich wieder vermiest wird. Schwierig ist das, auch für die Lehrerin, die sich wirklich Mühe gibt und selbst schon ganz verzweifelt wirkt.

Sogar ein Elternabend war einberufen worden, um über das schlechte Klassenklima zu reden, gemeinsam mit den Fachlehrern und Eltern. Nicht nur die Klassenlehrerin sorgt sich um fehlende Klassengemeinschaft, auch die Fachlehrer haben die gleichen Probleme.

Kaum zu glauben, sagen viele Eltern, aber mich wundert es nicht. Ich kenne viele der Kinder schon aus dem Kindergarten, auch ihre Eltern, damals traten schon die ersten Schwierigkeiten im Umgang miteinander auf. Jetzt in der Pubertät wird es wohl besonders heftig, die Eltern sind auch immer machtloser und werden mit ihren Kindern nicht fertig. Alle Schuld wird dann auf die Lehrer abgewälzt. Wohin soll das noch führen?

Sie sehen es ja selbst, was die Kinder heute mit den Lehrern anstellen. Die schrecken doch vor nichts mehr zurück. Denken Sie nur an Erfurt und an all die anderen Versuche von Schülern, die eigenen Lehrer aus dem Weg zu schaffen, ja sie sogar umzubringen. Die denken wohl: ‚Weg mit den Lehrern, dann geht es uns besser.’ Aber damit sind die Probleme doch nicht gelöst, oder?

  1. Juli? Was ich von dem Unfall halte? Da hatte Roberts Lehrerin ja noch Glück gehabt, es hätte Schlimmeres passieren können, in dieser Klasse, meine ich.

Wo Robert an diesem Tag war, nachmittags? Genau weiß ich es nicht, aber Sie können ihn ja fragen.“ Roberts Mutter

*

Aber reden auch Opfer und Täter miteinander? Was wird getan, um eine positive Beziehung zwischen beiden aufzubauen? Wie kann das Verhalten von Opfern und Tätern sinnvoll geändert werden? Wer spricht von Wiedergutmachung? Nicht umsonst gibt es zunehmend Kurse für Schüler, die ihnen helfen sollen, sich erfolgreich zu wehren, ohne gewalttätig zu werden. Es gibt mir zu denken, dass diese Kurse immer häufiger angeboten werden. Im Umgang mit Erwachsenen sind sie sicher hilfreich, um Missbrauch vorzubeugen, aber auch der Umgang von Kindern untereinander wird zunehmend problematischer. Im  Lehrplan müsste mindestens eine Stunde für Verhaltenstraining und zwar von der ersten Klasse an vorgesehen sein.

Aus einem VHS-Programmangebot: „Lass das – ich hass das!“ Selbstbehauptung für Mädchen (gibt es auch für Jungen)

…Die Mädchen lernen ihren „komischen Gefühlen“ zu vertrauen und entsprechende Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. In Rollenspielen, die von Alltagssituationen (Pausenhof, Spielplatz, Schwimmbad usw.) der Mädchen ausgehen, üben sie Grenzen zu setzen, „Nein“ zu sagen, Selbstsicherheit auszustrahlen, Hilfe zu holen. Sie erproben ihre individuellen, ihrem Alter entsprechende, Verhaltens- und Verteidigungsmöglichkeiten. 

Erfahrungen aus anderen Ländern: In Norwegen hatte man festgestellt, dass Kinder, die häufig positive Körperkontakte pflegen freundlicher miteinander umgehen. Als Beispiele wurden u. a. genannt: das tägliche Grüßen mit Handschlag, das Hände fassen bei einem Stehkreis.

Auch das probierte ich aus, zugegeben, vielleicht nicht oft genug, nicht lange genug, denn meist drückte einer den anderen zu fest, schlug ihn zu kräftig und der Kontakt wurde zu einer schmerzhaften Berührung, das Ganze endete in einem haltlosen Geschrei, in einem chaotischen Durcheinander.

Können die Schüler lernen, Nähe auszuhalten, ohne auszurasten? Ich wollte es wissen.

Musik wird abgespielt, die Schüler bewegen sich im Raum, dürfen sich dabei nicht anrempeln, bei einem Anhalten der Musik müssen vorher festgelegte Aufgaben erfüllt werden z. B. dem Vordermann die Hand auf die Schulter legen oder ihm die Hand zu geben.

Immer wieder brechen einige aus, schon nach wenigen Sekunden toben sie schreiend durch den Raum, ohne Rücksicht aufeinander zu nehmen. Viele ertragen keine gegenseitige körperliche Nähe, rasten sofort aus. Erlaubte Berührung wird nicht verkraftet. Aber ist körperliche Gewalt nicht auch eine Sonder-Form von Berührung? Einseitiger Körperkontakt zwar, der Überlegenheit vermittelt. Einer muss sich wohl immer als der Stärkere fühlen, einer muss bestimmen, wann er den anderen berühren will und auch wie: Schlagen, boxen, treten, spucken. Nähe, bei der man sich nicht zu nahe kommt, denn dann könnten unerwartet Gefühle geweckt werden, unerwünschte, wie Mitleid vielleicht oder auch Verständnis.

Ich schaue schweigend auf meine Klasse, beobachte den ausgebrochenen Tumult und frage mich immer wieder:

Hatten diese Kinder jemals positive Körperkontakte erlebt? Wurden jemals zärtlich berührt, gestreichelt, liebevoll umarmt von ihren Eltern?

Bis alle wieder sitzen vergehen kostbare Minuten.

Die tägliche Frage: Wie schaffe ich es, den wichtigsten Stoff verständlich zu übermitteln und gleichzeitig versäumte Erziehungsarbeit zu leisten? Die Antwort: Ich schaffe es nicht. Diese Erkenntnis wird immer klarer. Mir war es nicht möglich.

Ich verfluchte meinen Ehrgeiz, diese Klasse verändern zu wollen, zum Positiven natürlich, wünschte ich wäre gleichgültiger, gelassener, es waren ja nicht meine Kinder. Was mühte ich mich täglich ab mit ihnen, warum hoffte ich immer noch auf die Bewahrheitung von so schönen  Sprichwörtern, die da hießen: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.“ Oder „Wie du mir, so ich dir.“ War ich tatsächlich eine naive Närrin, eine Träumerin, die an der Realität vorbeilebte?

Mein Körper warnte mich bereits seit langem mit qualvollen Kopfschmerzen, die vor allem an den Wochenenden auftraten und mich lahm legten. Was zerbrach ich mir also den Kopf über Probleme fremder Kinder und Eltern? Mein Gehalt erhielt ich doch auch ohne diese Mühe …

Es gab ja auch Lehrer, die alles lockerer nahmen, die sich nicht so in ihre Arbeit hineinsteigerten, die mehr von ihrer Freizeit hatten und die zu allem noch von den Schülern bewundert wurden.

Warum gelang mir das nicht? Ich fühlte mich immer wieder verantwortlich für diese Kinder.

 

 

 

 

 

Wish you were here – Kapitel 2

09 Samstag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kunst, Kurzgeschichte, Literatur

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Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Lehrer, Lehrerin, Mobbing, Schüler, Schule, Sozialpädagoge

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 2 – Die Situation

Ich haste den dunklen Gang entlang und spüre wieder dieses bleierne Gefühl des Ausgeliefertseins, das mich beinahe zwei Jahre lang lähmte und an meiner Arbeit verzweifeln ließ.

Heute ist vieles anders. Ich kann endlich wieder gehen ohne zu humpeln, Schmerzen im Bein spüre ich nur noch selten, die

flammend rote Narbe unter dem linken Auge beginnt zögernd zu verblassen und wird mit der Zeit ganz verschwinden, so sagen die Ärzte tröstend. Ja, ich hatte wirklich Glück gehabt, das stimmt. Aber ich reagiere immer noch in gewissen Situationen wie damals, muss mir jedes Mal bewusst machen, „das“ ist vorbei, aber ich weiß auch, „das“ kann jederzeit wieder kommen. „Das“, damit ist die Situation eines Lehrers gemeint, der hilflos wie ich vor seiner Klasse steht und nicht fähig ist, seine Funktion auszuüben.

Wish you were here. Wie oft habe ich gewünscht von anderen verstanden zu werden, mit Kollegen darüber sprechen zu können ohne gleich als Versagerin abgestempelt zu werden.

Du, der Sozialpädagoge, wurdest mir als Hilfe angeboten, wohl in erster Linie darum, weil es sich gut machte an einer Schule ein Projekt mit dem Thema „Toleranz“ durchzuführen. Ich nahm das Angebot an, weil ich wollte, dass andere, die nicht in der Lehrerolle steckten, dieses Empfinden mit mir teilen sollten und vielleicht konnte ich ja von ihnen lernen, es besser zu machen. Du sagtest selbst, dein Vorteil mir gegenüber sei, nicht Lehrer zu sein und wieder gehen zu können. Wie oft hatte ich mir das gewünscht: einfach gehen zu können, das Klassenzimmer zu verlassen.

Ich genoss es, wenn du und deine Kollegin mit der Klasse arbeiteten und ich zusehen und beobachten konnte, ohne handeln zu müssen, obwohl es mir manchmal sehr schwer fiel, nicht einzugreifen, das musste ich zugeben.

Zu wenig Zeit hattest leider auch du. Nur kurz konnten wir über die Kinder sprechen, immer in Eile blieb nicht viel Zeit zu ausführlichen Gesprächen. Allerdings wurde mir bald klar, auch du hattest zu kämpfen mit dieser Klasse, aber wie gesagt, du gingst wieder.

Zurück blieb ich mit meiner Wut, meiner aufkeimenden Aggression einzelnen Schülern gegenüber und meiner Hilflosigkeit. Ich war unfähig, diese Kinder irgendwo in der Seele berühren zu können, ihre eiskalte Fassade zu durchbrechen.

Manche hätte ich gerne festgehalten, kräftig geschüttelt bis ihre harte Schale zu bröckeln begann und andere dagegen am liebsten getröstet und im Arm gehalten. „Fassen Sie mich nicht an.“ Dieser Befehl aus Kindermund verfolgte mich.

Eine Mathematikstunde. Klaus streikt. Höhnisch grinsend verweigert er seine Mitarbeit. „Ich brauche gar nichts tun. Meine Mutter kann mir das besser erklären.“ Provokativ schneidet er mir Grimassen, die Lacher sind auf seiner Seite. Ich spüre langsam die Wut in mir aufsteigen, die Ohnmacht sich ausbreiten und einen grenzenlosen Hass auf dieses Kind, das all meine Pläne zunichte macht. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe. Wen sieht es in mir? Ich kann Klaus nicht länger ertragen. „Geh vor die Tür.“ Er bleibt sitzen, spöttisch lächelnd. In wenigen Schritten bin ich bei ihm, schleudere ihn vom Stuhl – „Fassen Sie mich nicht an.“ – und schlage ihm meine Hand klatschend ins Gesicht, links, rechts, links, rechts, rasend vor Wut. „Nun geh und beschwer dich.“  Bedrohliches Schweigen breitet sich im Klassenzimmer aus. Schrill  zerreißt der Gong plötzlich die jähe Stille.  

Ich wachte auf, stellte den Wecker ab und fürchtete mich vor meiner eigenen in mir schwelenden Aggression. Ein rumorender Vulkan vor dem Ausbruch. Von nun an begleitete mich die Angst auszurasten, wirklich einmal die Beherrschung zu verlieren und in eines dieser Gesichter, die mich so höhnisch und provozierend angrinsten in dem Wissen, die schlägt nicht, die wagt es nicht, die darf das nicht,  brutal hineinzuschlagen.

*

Von meinem Chef, unserem neuen Schulleiter erhielt ich ein weiteres Hilfsangebot: In der Lehrerkonferenz wurde beschlossen, dass ich die schwierigsten  Schüler aus dem Unterricht in der Klasse ausschließen durfte, d.h. sie mussten eine bestimmte  Zeit lang in eine andere Klasse gehen. Die Entscheidung musste ich treffen. Was als Erleichterung beabsichtigt war, entpuppte sich als Bumerang: Die ausgeschlossenen Schüler steigerten ihre Aggressionen mir gegenüber, denn ihrer Ansicht nach trug nur ich die Schuld an ihrem Verhalten, sie waren auch der falschen Meinung, sie könnten nur einmal ausgeschlossen werden und nach ihrer Rückkehr in die Klasse benahmen sie sich entsprechend aufsässig.

Boris schaukelt auf dem Stuhl, steckt sich Stifte in die Nase.

Gökhan rennt im Klassenzimmer umher, reißt die Fenster auf, spuckt hinaus, spielt mit dem Lichtschalter, knipst das Licht an und aus, immer wieder, möchte mehrmals hintereinander auf die Toilette, beschwert sich lautstark, weil ich ihn nicht gehen lasse.

*

Einzig wohltuend waren die Stunden, in denen ich unterrichten konnte, während einige Störenfriede ausgeschlossen blieben. Ein Aufatmen ging dann durch die Klasse. So sollte es immer sein, was natürlich eine Illusion war. So blieb es natürlich nicht. Der Ausschluss aus der Klasse führte bei keinem der Betroffenen zu der erwünschten Einsicht über sein Verhalten.

„Fehlendes Unrechtbewusstsein? Seelisch verhungert? Mangelerscheinungen an Gefühlen? Unfähigkeit zu sozialem Verhalten? Spielball ihrer Lust? Unfähigkeit Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren?“ Immer wieder vergebliche Versuche das unfassbare Verhalten vieler Schüler meiner Klasse in Worte zu fassen, Erklärungen zu finden.

Nicht nur ich als Klassenlehrerin, sondern auch andere Fachkollegen standen fassungslos vor diesen Kindern, die nichts schreckte oder überzeugte: stichhaltige Argumente, vernünftige Erklärungen über das Warum und Wieso von gewissen Regeln verpufften, prasselten bei vielen ab. Vom Lehrer erteilte Anordnungen wurden einfach nicht ausgeführt, wurden verweigert mit unvorstellbarer Selbstverständlichkeit. 

„Das mache ich nicht. Sie können mich mal. Halten Sie die Fresse.“ Manuel 

*

„Kommen Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Ein Angebot meines neuen Chefs, von dem ich mich in der ersten Zeit verstanden fühlte. Hieß es am Anfang noch „Es liegt nicht an Ihnen.“, klang es später doch ganz anders. Zu spät wurde mir bewusst, dass mein Chef nicht wirklich an meiner persönlichen Lage Interesse zeigte, sondern vor allem an der Darstellung seiner schulleiterlichen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit. Zu tief steckte ich da schon im Sumpf der täglichen Gehässigkeiten, die mir wie faule Luft entgegenschlugen, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Zu spät erkannte ich die wahren Absichten.

 

Wish you were here – Kapitel 1

08 Freitag Jan 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein

≈ Ein Kommentar

Schlagwörter

Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Lehrer, Lehrerin, Mobbing, Schüler, Schule, Trauer

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch „Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin„.

2q1[1]

Zum Inhalt:

An der neuen Schule sieht sich die engagierte Lehrerin Frau Marau einer überaus schwierigen Klasse gegenüber. Gewalt und Disziplinlosigkeit bestimmen den täglichen Umgang der Schüler untereinander. Alle ihre Bemühungen um ein gewaltfreies Miteinander bleiben erfolglos. Aggressive Störungen und der Widerstand ihr gegenüber nehmen von Tag zu Tag zu. Sie holt sich Hilfe bei einem Sozialpädagogen und beteiligt sich mit ihrer Klasse an seinem Projekt. Die Situation droht zu eskalieren, als das Projekt von einem tragischen Unfall überschattet wird …

___________________________________________________

Kapitel 1 – Vorspann

“Ich habe ihr lange zureden müssen. Immer wieder habe ich gesagt: ’Du musst unbedingt zu Frau Klinter gehen und ihr sagen, dass du die Jungen an dem Tag gesehen hast. Du weißt aus welcher Klasse die sind. Das ist wichtig.’

Aber sie wollte nicht. Sie ist sehr schüchtern, wissen Sie, sie traute sich einfach nicht. Ja, mit mir redet sie schon, ich bin doch ihre Freundin. Ich habe ihr versprochen, mit zu unserer Lehrerin zu gehen.“

*

Der Vorhang fällt, vorbei dein letzter Auftritt, verklungen die letzten Töne der Musik.

Die Anwesenden verlassen langsam, mit zögernden Schritten den Saal, treten heraus aus dem Dämmerlicht, hinein in den blendenden Sonnenschein, ratlos und bestürzt die Gesichter. Mit endgültiger Gewissheit formt sich allmählich ein einziger übermächtiger Gedanke in den Gehirnen, der sich nicht mehr zurückdrängen lässt, der allen schmerzlich bewusst macht: du bist nicht mehr, du bist Erinnerung.

Die letzte Tasse Kaffee, zu der du mich einladen wolltest, wurde nie getrunken, unser letztes Gespräch konnte nicht mehr stattfinden.

How I wish, how I wish you were here.

 

 

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