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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Krankenhaus

Tonne (8)

11 Samstag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Depression, Freundschaft, Krankenhaus, Leben, Polizei, Polizist, Tod

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Im Krankenhaus
Freitag, 20.30 Uhr

„Melanie?“
Fragend blickte Frau Ascher in das ernste Gesicht des Polizisten, der neben ihrem Bett stand. Er zog sich erst einen Stuhl ans Bett, ehe er den Kopf schüttelte.
„Nein, wir konnten noch nichts Näheres über sie herausfinden. Kann es sein, dass das Mädchen einen bestimmten Grund hatte, plötzlich zu verschwinden? Wissen Sie, wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder verschwinden, weil sie Angst haben, daheim Ärger zu bekommen, wegen schlechter Noten zum Beispiel oder aus für uns geringfügig erscheinenden Anlässen die von den Kindern als schwerwiegend und furchteinflößend empfunden werden. Kann es sein, dass sie Angst vor Strafen hatte, aus welchem Grund auch immer?“
Stumm schüttelte die Frau den Kopf. Sie schien nachzudenken.
Angst? Wovor könnte Melanie Angst haben? Vor Strafen gewiss nicht. Sie selbst war oft eher zu apathisch als dass sie sich ernsthaft mit dem Kind auseinandergesetzt hätte. Sie ließ sie zu sehr gewähren. Eine strenge Mutter war sie nicht, wohl eher eine gleichgültige, aber das – so dachte sie jetzt – war wohl noch schlimmer.
Melanie. Sie versuchte sich vorzustellen, Melanie würde nicht zurückkommen. Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein, der Brief, der daran schuld war, dass sie gestern Abend getrunken hatte. Der Brief! Mein Gott, wo hatte sie ihn bloß versteckt? Melanie durfte auf keinen Fall davon erfahren. Ja, jetzt wusste sie es, wovor ihre Tochter sich am meisten fürchtete, vor einem Leben ohne ihre Mutter. Wie oft hatte sie schon nach ihrem Vater gefragt … Sie hätte es ihr längst schon sagen müssen … Melanie befürchtete, ihre Mutter zu verlieren. Sie wollte nicht allein sein. Nicht allein bei fremden Menschen, die sie aufzogen oder allein in einem Heim. Der Brief! Sie musste es der Polizei sagen.

„Der Brief“ begann sie zögernd, „der Brief könnte ein Grund gewesen sein.“
„Von welchem Brief sprechen Sie denn?“
„Der Brief vom Jugendamt.“
„Bitte, Frau Ascher, wenn Sie uns helfen wollen, Melanie zu finden, dann erzählen Sie uns alles, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint.“
Der Polizist sah sie aufmunternd an.
„Am Donnerstagmorgen kam der Brief. Ein Einschreiben. Das Jugendamt fordert mich auf zu einem Gespräch zu kommen. Sie haben erfahren, dass ich … manchmal etwas trinke. Sie meinen, dass ich mich zu wenig um Melanie kümmere, sie befürchten, dass das Kind darunter zu leiden hat. Vernachlässigung und … ich weiß das nicht mehr so genau. Sie wollen mir das Kind wegnehmen.“ Schluchzend drehte Frau Ascher den Kopf auf die Seite, verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.
„Das dürfen Sie nicht. Niemals. Nein.“ Stammelt sie unter Tränen.
„Hören Sie, helfen Sie mir, bitte. Ich trinke nicht mehr, ich tue alles, aber die dürfen mir mein Kind nicht wegnehmen. Bitte tun Sie etwas …“
Ratlos saß der Polizist neben ihr, fühlte sich unbehaglich, wusste nichts Tröstendes zu sagen. Allmählich begann er zu ahnen, warum Melanie verschwunden war.
„Wusste Melanie von dem Brief?“
“Nein, ich habe ihn vor ihr versteckt, bevor … aber ich weiß nicht mehr genau wo.“
„Bevor was?“
Frau Ascher schwieg.
„Bevor Sie getrunken haben?“
„Nein“, sie wehrte ab. Er sah sie aufmerksam an.
„Doch, Sie haben Recht. Ich war so erschrocken, dass ich etwas brauchte zur Beruhigung, da sah ich die offene Flasche, da trank ich sie leer, es war nur ein kleiner Rest. Melanie war auf einer Geburtstagsfeier, kam erst am Abend zurück. Ich versteckte den Brief, da fiel mir wieder ein, dass ich zur Arbeit musste, es war schon spät, der Bus fuhr in wenigen Minuten, ich musste ihn noch erreichen, um nicht zu spät zu kommen, das würde sonst Ärger geben, aber ich musste doch immer an diesen schrecklichen Brief denken, in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, Gedanken flogen wie aufgewirbelte Blätter herum, waren nicht zu fassen, blieben nicht ruhig, nicht fassbar, immer wieder, dieser Brief, den durfte Melanie auf keinen Fall sehen, das durfte sie nicht erfahren. Ich durfte aber meine Arbeit nicht verlieren, das wäre doch ein weiterer Grund für das Jugendamt. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich hatte die neue Arbeitsstelle noch nicht lange. Da klingelte auch noch das Telefon, mein Chef war dran, schon wütend, weil ich wieder zu spät kommen würde.“ „Melanie kam nach Ihnen von der Schule heim. Vielleicht hatte sie den Brief entdeckt?“
„Vielleicht … Dann hat sie jetzt schreckliche Angst, denkt ich mag sie nicht mehr, lasse sie allein.“
„Sie ist weggelaufen. In Panik. Das machen Kinder oft, sie laufen davon, meinen, vor dem Problem weglaufen zu können. Eine Art Verdrängung. Fluchtreflex. Könnte das so gewesen sein?“
Frau Ascher nickte. „Ich will Sie nicht belügen, aber ich habe mehr als den Rest in der Flasche getrunken …“
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Melanie finden. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns bei Ihnen. Gute Nacht.“

Freitag, 23.50 Uhr

Schwester Hannelore warf einen prüfenden Blick in das dämmrige Zimmer. Sie konnte im schwachen Licht der Nachtlampe nur Umrisse erkennen. Alles schien ruhig. Keine fremden Geräusche drangen an ihr Ohr. Behutsam schloss sie die Tür, um die Kranke nicht zu wecken. Ihre Schicht war in wenigen Minuten zu Ende und sie begann sich schon auf ihr Zuhause zu freuen, sehnte sich nach ihrem Bett, nach Schlaf, nach Abschalten. Gewissenhaft setzte sie ihren Rundgang fort. Da stutzte sie plötzlich, blieb abrupt stehen und lauschte. Sie hatte ein Geräusch vernommen, das vorher nicht da war. Entschlossen näherte sie sich wieder der Zimmertür mit der Nummer 17. Zögerte einen Moment, ehe sie sachte die Tür öffnete und auf das Bett am Fenster blickte. Sie nahm die Bewegung zuckender Schultern wahr und ein unterdrücktes Schluchzen. „Kann ich helfen?“, fragte sie freundlich und näherte sich dem Bett. Ein leises „Nein“, war die Antwort, die sie nicht überzeugen konnte. „Ich habe in wenigen Minuten Schichtwechsel, dann habe ich für Sie Zeit. Bis gleich.“ Beruhigend legte sie ihre Hand kurz auf die fremde Schulter, ehe sie das Zimmer erneut verließ, mit der festen Absicht, gleich wiederzukommen.
Auf der Station blieb alles ruhig. Noch drei Minuten, dann würde sie abgelöst werden. Sie blätterte interessiert in dem Krankenbericht von Frau Ascher, die allein auf Zimmer 17 lag.
… Eingeliefert am Donnerstag 20.35, Unfall, Sturz auf der Treppe, alkoholisierter Zustand, offener Schienbeinbruch, alleinerziehend, Tochter neun Jahre alt, war nicht anwesend …. Dann las sie die handschriftliche Notiz nicht auffindbar. Sie stockte. „Nicht auffindbar“. Ein Kind mit neun Jahren, nicht auffindbar. Sie begann zu ahnen, warum Frau Ascher in Tränen ausgebrochen war. Angst. Sorge. Sie konnte das gut nachfühlen, waren ihre Kinder auch schon älter, aber als Mutter fühlte man sich sofort verantwortlich, zuständig für alle kindlichen Probleme. Wo konnte das Mädchen bloß sein? Sie las weiter.
… Suchaktion von der Polizei bereits eingeleitet …
Schwester Anna, ihre Ablösung, erschien im Schwesternzimmer. „Guten Morgen. Alles in Ordnung?“ Die übliche Frage bei Schichtwechsel. Automatisch nickte sie. „Du schaust aber nicht danach aus“, bemerkte Schwester Anna aufmerksam. „Was ist los?“ Besorgt blickte sie auf ihre Kollegin. Schwester Hannelore hielt den Bericht hoch.
„Zimmer 17, der Neuzugang, Frau Ascher, ein schwieriger Fall.“
„Inwiefern?“
„Komplizierter Beinbruch, Alkoholprobleme und vor allem eine Tochter, die nicht aufzufinden ist, schlechter psychischer Zustand. Ich habe ihr versprochen, noch einmal zu ihr zu kommen.“
Verständnisvoll nickte Schwester Anna. Es war immer dasselbe. Die andere machte sich zu viele Gedanken. Man sollte sich nicht zu sehr mit den Problemen der Patienten belasten, denn sie verließen das Krankenhaus in den meisten Fällen geheilt, aber ohne ihre Probleme gelöst zu haben. Sie hatte diese Erfahrung in ihrer langjährigen Tätigkeit gemacht. Sie erhob längst keinen Anspruch mehr, die Probleme fremder Leute lösen zu wollen. Sie behandelte alle freundlich, hörte auch aufmerksam zu. Mehr nicht. Keine Kommentare, keine Hilfsangebote, keine Lösungsversuche. Das genügte meist auch. Ja, darin hatte sie Erfahrung. Aber diese Schwester Hannelore, die gab nicht auf, war davon überzeugt, mehr tun zu müssen und wohl auch davon, mehr tun zu können. Bitte. Sie hatte jetzt anderes zu erledigen.
„Also, ich geh dann, mach’s gut, bis morgen!“
Schwester Hannelore hatte sich inzwischen umgezogen und verließ das Schwesternzimmer.
Frau Ascher stellte sich schlafend, aber der angehaltene Atem verriet, dass sie wach war.
„Jetzt habe ich viel Zeit.“
Schwester Hannelore zog sich einen Stuhl ans Bett und wartete. Beide Frauen verharrten im Schweigen. Wie eine Ewigkeit erschien es der Schwester, aber es waren nur wenige Minuten.
„Was wollen Sie?“
Endlich.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Vielleicht haben Sie ein Bild von ihr?“
Erschrocken starrte Frau Ascher der Schwester, die jetzt ohne Schwesterntracht so anders aussah, ins Gesicht.
„Meine Tochter … Ich habe schon alles gesagt.“
„Ich habe auch eine Tochter. Sie sorgen sich um Melanie, so heißt sie doch, oder?“
„Sie ist verschwunden. Einfach weg …“, stöhnte Frau Ascher.
„Sie kann bei einer guten Freundin sein“, beruhigte sie Schwester Hannelore.
„Nein, sie hat keine gute Freundin. Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Keine gute Freundin, keine gute Mutter, keinen Vater. Sie hat … nichts. Nicht einmal einen Hund, den sie sich schon lange wünscht.“
„Ist sie zum ersten Mal so lange verschwunden?“
„Ja, sie hat immer Bescheid gesagt, wann sie wieder zurück ist, oder einen Zettel hinterlegt. Aber dieses Mal – nichts. Einfach weg. War auch nicht in der Schule.“
Frau Ascher drehte sich stumm auf die andere Seite. Geduldig blieb Hannelore sitzen.
„Was wollen Sie von mir?“ Wieder die leise Stimme.
„Gehen Sie doch, lassen Sie mich allein, ich bin das gewohnt.“
„Sie sind oft allein?“
„Allein, schon lange …“

Melanies Mutter erinnert sich

Der Wecker klingelte. Schlaftrunken stellte sie ihn ab, murmelte „aufstehen, halb sechs“ und schlief augenblicklich wieder ein. Aber etwas war anders. Plötzlich war sie wieder wach, tastete mit der Hand prüfend über die Bettdecke neben ihr, spürte eine Schulter, rüttelte sie energisch „Aufstehen, du kommst zu spät.“ Keine Reaktion. Alarmiert setzte sie sich im Bett auf. Er lag noch immer schlafend, ohne auf ihre Aufforderung zu reagieren. Kein Seufzen. Kein Gähnen. Kein Laut. Nichts war zu hören. Kein Geräusch. Sie zog ihm die Bettdecke weg, was normalerweise einen empörten Schrei zur Folge hatte. Er blieb stumm. Er blieb regungslos. Er sah sie nicht mal an. Augen geschlossen. Sie legte ihm die Hand auf die Brust. Keine Bewegung. Kein Heben und Senken. Kein Atmen. Die Haut fühlte sich warm an, aber kein Atmen. Plötzlich wusste sie, was das bedeutete: Kein Atmen, kein Leben. Er war tot.
Sie wagte es nicht zu denken, aber der Gedanke bohrte sich wie ein Messer in ihr Gehirn. Er blieb darin, weigerte sich zu verschwinden. Sie warf sich über ihren Freund, rüttelte ihn, boxte ihn, schrie ihn an, bettelte, flehte, verfluchte ihn, schwor ihm ihre Liebe. Immer wieder. Nichts rührte ihn mehr. Sie begann ihn zu streicheln. Stellte ihrem Gedanken ein Nein entgegen. Nein, das war nicht möglich. So jung noch, so gesund, das durfte nicht sein. Sie schmiegte sich an ihn, klammerte sich an ihm fest, wollte ihn nicht gehen lassen, obwohl er schon gegangen war. Versuchte in den Schlaf zu entfliehen. Vom Alptraum des Lebens zurück in den Schutz der Träume. Sie dämmerte weg, spürte seinen warmen Körper neben ihr, beruhigte sich allmählich, er war ja da, alles war gut, floh minutenlang in den Schlaf, in das Vergessen.
Das Telefon. Sie sprang erschrocken aus dem Bett. Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. Verschlafen. Sie hatten beide verschlafen. Ihr Chef. Sie hörte seine Stimme. Nicht unfreundlich, eher besorgt.
Nein, sie war nicht krank, aber sie konnte nicht in die Arbeit kommen, unmöglich. Ihr Freund. Sie durfte ihn nicht allein lassen, nicht jetzt, auf keinen Fall. Ob er einen Arzt kommen lassen sollte? Sie klänge so merkwürdig. Gehe es ihr auch wirklich gut? Was ist mit ihrem Freund?
Er brauche sie ganz dringend. Die letzte Wärme. Sie musste sie ihm geben. Er könnte kalt werden.
Sie warf das Telefon auf die Couch, antwortete nicht mehr, wusste später nicht mehr, dass sie ihrem Chef die Tür geöffnet hatte, als dieser Sturm geklingelt hatte. Ihrem Chef und einem Arzt, den sie nicht kannte. Wusste nicht mehr, dass sie betrunken gewesen war, betrunken von zu viel Alkohol und zu viel Schmerz. Erwachte erst allmählich in einem Krankenhausbett, allein, kein vertrauter Körper neben ihr, gepackt von Panik. Ein Würgereiz schüttelte sie. Eine Brechschale wurde ihr unter das Kinn gehalten. Sie war doch nicht allein. Aber er war nicht mehr da. Wohin hatten sie ihn gebracht?
Eine beruhigende Stimme erklärt ihr vorsichtig, was passiert war, aber sie wusste es doch schon längst, nun wurde sie erneut daran erinnert. Er war tot. Sekundentod. Plötzlich. Unerklärlich. Im nächsten Monat hätten sie geheiratet, hätten eine Hochzeitsreise unternommen. Alles war schon geplant, die Gäste bereits eingeladen.
Sie wurde am Tag der Beerdigung entlassen. Daran wollte sie nicht erinnert werden. Diesen Tag, der alles so endgültig machte, hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen, daran weigerte sie sich zu denken.
Sie schaffte es irgendwie, nach qualvollen Wochen, weiter zu leben ohne ihn. Andere halfen ihr dabei, Eltern, Freunde. Nach wenigen Wochen wusste sie, dass sie ein Kind erwartete. Sein Kind. Ihr gemeinsames Kind. Er würde es nie mehr erfahren, das Kind würde nie seinen Vater kennen lernen. Ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwankte zwischen Freude und Angst. Allein mit einem Kind. Wie sollte sie das bewältigen?
Die Schwangerschaft verlief problemlos. Nach einer anstrengenden Geburt legte die Hebamme ihr Melanie in den Arm. Erschöpft blicke sie auf ein gesundes Mädchen. So winzig. So unschuldig. Sie konnte sich nicht satt sehen. Freude und Trauer überwältigten sie. Ihr Mädchen, das ohne Vater war, von Anfang an. Alle Verantwortung lag nun auf ihr. Und er, der Vater, wird sich nie an seinem Kind freuen können. Nie. Drei Buchstaben, die eine Ewigkeit ausdrücken, eine Unendlichkeit. Nie.
Die Verantwortung gab ihr Kraft. Das Leben ihrer Tochter musste geschützt werden. Sie war gefordert. Ihre Aufgabe war das. Das Stillen verband Mutter und Tochter. Sie war stolz auf ihr Mädchen, das sich gesund entwickelte. Sie suchte nach seinen Augen in dem kleinen Gesicht, forschte nach Ähnlichkeiten, war glücklich in ihrem Lachen seines wieder zu entdecken. Aber sie hatte auch Angst. Sekundentod. Es konnte jeden treffen. Auch Kinder. Kindstod. Das Grauen verfolgte sie noch immer.
Sie war jung. Sie war gebunden. Sie war einsam. Ihre Freunde kamen immer seltener. Sie wurde kaum noch eingeladen. In der ersten Zeit bemerkte sie das nicht, war zu erschöpft, zu müde, zu sehr beschäftigt.
Als Melanie schon in den Kindergarten ging, wurde ihr bewusst, wie jung sie noch war. Die meisten der Mütter waren schon älter und hatten wenig Interesse an ihr. Da sehnte sie sich wieder nach ihren Freunden, die abends weggingen, sorglos schlafen konnten, nicht auf Atemzüge lauschen mussten, verfolgt von der Angst, diese nicht mehr zu hören. Sie war gebunden. Ihre Eltern hätten ihr das Kind schon abgenommen. Ab und zu. Aber sie spürte, dass die anderen sie mieden, sie die junge Witwe und Mutter störte ihr Vergnügen, weckte unangenehme Erinnerungen. Man blieb unter sich. Übertönte das schlechte Gewissen, das sich manchmal meldete durch den Lärm der Musik, zu der man tanzte.
Sie war einsam. Sobald ihre Tochter schlief suchte sie Entspannung, Erleichterung, sobald ihre Tochter schlief, griff sie zur Flasche. Der Vorrat stammte noch von ihm. Sie trank und dachte dabei an ihre gemeinsame Zeit. Sie konnte nicht weg, sie blieb und entfernte sich in ihren Gedanken. Der Alkohol half ihr dabei. Wenig am Anfang. Das Wenige reichte bald nicht mehr, um ihr schlechtes Gewissen zu ertränken, um für ausreichende Entspannung zu sorgen.

Noch konnte sie ihren Alkoholkonsum vor anderen verbergen. Sie hatte sogar wieder Arbeit gefunden, stundenweise. Melanies erster Schultag lag hinter ihr. Ihre Freiräume wurden größer, ihre Einsamkeit auch. Melanie erzählte nicht viel von der Schule, selten von ihren Mitschülern. Vielleicht zeigte sie als Mutter auch zu wenig Interesse daran, war froh, wenn Melanie draußen spielte oder bei anderen Kindern, wie sie manchmal sagte, aber nie brachte sie ein anderes Kind mit in ihre Wohnung. Ihr war das recht. Sie hatte sich kaum Gedanken über Melanies Einsamkeit gemacht. Ab und zu unternahmen sie gemeinsam etwas. Ein Kinobesuch, ein Tag im Tierpark oder im Schwimmbad, das machte ihre Tochter schon glücklich. An manchen Tagen war sie auch stolz auf ihr hübsches Mädchen, an anderen empfand sie das Kind als Belastung, als Hemmschuh, der sie davon abhielt, ihr Leben nach ihrem Geschmack zu gestalten. Sie fühlte sich noch zu jung, um so viel Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie vermisste ihn noch zu sehr, wollte sich in ihre Trauer fallen lassen wie in einen tiefen See, wollte nachdenken, sich erinnern, in der vergangenen Zeit leben, alles Schöne noch einmal erleben dürfen oder wenigstens mit jemand darüber können, mit jemandem, der ihn auch gekannt hatte.
Seine Eltern wohnten zu weit weg. Sie waren auch schon recht alt. Am Anfang war das Kind zu klein für sie, wie sie sagten, als Entschuldigung für die wenigen Kontakte, später war das Mädchen zu anstrengend, zu lebhaft in ihrem Alter wie sie betonten, sie seien überfordert. An Weihnachten und an Melanies Geburtstag schickten sie regelmäßig ein Päckchen und einen Brief, den Melanie seit sie schreiben gelernt hatte, selbst beantwortete, mit ihrer Hilfe. Ihr fiel das schwer, diese beiden Großeltern waren zu weit entfernt, zu unbekannt. Es blieb bei wenigen Sätzen, Floskeln. Allmählich wurden aus den Briefen Karten, die weniger Text erforderten. Ihre Eltern unterstützten sie von Anfang an, wohnten nicht allzu entfernt, übernahmen das Kind, um ihr Erholungspausen zu gönnen, vor allem nach anstrengenden Phasen, in denen Melanie krank war und sie sich nur nach Schlaf sehnte.
Zu Beginn des ersten Schuljahres erkrankte ihr Vater und ihre Mutter war mit seiner Pflege beschäftigt.

Nach Minuten des Schweigens beugte sich Schwester Hannelore über die Frau, die erschöpft im Bett lag und nicht mit ihr sprechen wollte.
„Ich komme morgen wieder. Auf Wiedersehen.“
Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.

Tonne (6)

03 Freitag Nov 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Überfall, Bücherei, Freundschaft, Hund, Krankenhaus, Krankenwagen, Polizei, Rettung, Schläger

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Freitag, 22 Uhr
Herr Kenter auf der Polizeiwache

Am Donnerstag kam Melanie so gegen 14 Uhr in die Bücherei. Sie wirkte irgendwie verstört, anders als sonst. Suchend blickte sie sich um. Ich kam ihr entgegen, hatte hinter einem Bücherregal neue Bücher eingeordnet. Sie schien erleichtert, als sie mich entdeckte und kam eilig auf mich zu. Ich fragte nach ihrem Fahrrad, denn ich hatte versprochen, es zu reparieren.
„Mein Fahrrad steht vor der Tür, aber ich kann nicht bleiben, muss gleich wieder weg. Da wartet jemand auf mich.“ Ehe ich nachfragen konnte, war sie schon wieder verschwunden. Verwundert sah ich, wie sie rasch zu einem jungen Mann lief, der mit einem kleinen Hund neben sich auf der Bank vor der Bücherei saß. Der Hund wedelte begeistert und sprang ungestüm an Melanie hoch, hüpfte wie ein weißbraun-gefleckter Ball um sie herum. Die kennen sich, dachte ich nur und machte mich wieder an meine Arbeit.
Seltsam, durchfuhr es mich da. Noch nie hatte mir Melanie von dem Hund erzählt und auch nicht von dem jungen Mann. Ein seltsames Kind, diese Melanie, aber sehr nett, doch, immer höflich und freundlich.

Samstag, 1 Uhr
Aussage Frau Wiegers auf der Polizeiwache in F.

Kurz vor Mitternacht wartete ich an der Haltestelle auf den Bus, der wie so oft einige Minuten Verspätung hatte, da sah ich das Mädchen die schwach beleuchtete Straße entlanglaufen. Sie blickte immer wieder suchend umher, bis sie mich an der Haltestelle erblickte. Da rannte sie plötzlich schneller, geradewegs auf mich zu.
„Hilfe!“, schluchzte sie erschöpft, „bitte helfen Sie mir!“
Erschrocken sah ich sie an, nahm bei ihrem Näherkommen auf ihrer Kleidung undeutlich dunkle Flecken wahr, ihre langen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und an ihren Händen klebte Erde.
„Hast du dich verletzt?“’, fragte ich sie.
„Nein, nein, nicht ich, … Karl. Sie haben ihn geschlagen. Helfen Sie, bitte. Kommen Sie mit.“
Sie packte mich verzweifelt an der Hand und wandte sich wieder um, zog mich in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Es musste etwas Schreckliches geschehen sein. Ich spürte das. Es war Ernst. Ohne nachzudenken ließ ich mich ziehen, aber in meinem Alter ging das nicht so schnell, ich konnte kaum mit ihr Schritt halten.
„Langsam, ich komme ja kaum mit. Erzähl mir, was passiert ist.“
Allmählich beruhigte sie sich ein wenig und sprach von einem Karl, einer Tonne, einer Mutter, die sie wieder gesundmachen wollten, die in einer Klinik lag und nicht mehr sprach. Ehrlich, ich verstand nur Bruchstücke, aber ich ließ sie reden, weil es sie anscheinend beruhigte.
Sie führte mich in den Stadtpark, verlangsamte ihre Schritte und schien sich nicht mehr sicher zu sein, wohin sie gehen musste, um diesen Karl zu finden. Da rief sie laut: „Tonne, komm.“ Ehe ich begriff, was sie damit meinte, sprang plötzlich ein kleiner Hund an ihr hoch, scheinbar aufgetaucht aus dem dunklen Nichts, bellte, jaulte vor Freude über das Wiedersehen. „Tonne, wo ist Karl?“
Der Hund schien tatsächlich zu begreifen. Er drehte sich blitzschnell um, raste los in eine bestimmte Richtung und wir folgten ihm bzw. seinem lauten Bellen, als er bei Karl angekommen war. Endlich. Die Angst ließ  sogar mich laufen, als ich zu begreifen begann, dass da ein Verletzter lag.
„Karl, rief das Mädchen. Karl, ich bin wieder da.“
Sie rüttelte leicht die Gestalt, die zusammengekauert auf dem Boden neben der Bank lag und leise stöhnte. Ich beugte mich rasch über den dunklen Körper, berührte vorsichtig das fremde Gesicht, spürte Feuchtigkeit an meinen Fingern. Blut.
„Was fehlt Ihnen?“, fragte ich ihn. Keine Antwort. Das Mädchen erklärte: „Er spricht nicht richtig, nur mit mir, manchmal.“
Ein Arzt. Wir brauchten unbedingt einen Arzt. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und rief den Notarzt, schilderte die Lage. „Alles wird gut“, beruhigte ich den jungen Mann. „Karl, Karl“, jammerte das Mädchen. Der Hund sprang in heller Aufregung um Karl herum. Wir warteten. Sekunden, Minuten, eine Ewigkeit. Endlich. Blaulicht blitzte auf. „Sie kommen“, sagte ich. „Hörst du das Martinshorn? Fremde Stimmen. Dunkle Schatten näherten sich. Ich ging ihnen entgegen.
„Hierher.“
Ein Arzt beugte sich über den jungen Mann, drehte ihn um, untersuchte ihn und versorgte die Wunde notdürftig mit einem Verband. „Das muss genäht werden.“ Zwei Sanitäter hoben den Verletzten vorsichtig auf eine Trage, wollten ihn rasch zum Rettungswagen bringen.
„Karl“’, schrie das Mädchen verzweifelt, „ich will mit und Tonne auch.“
Die Männer sahen sich fragend nach uns um.
Da erschienen zwei Polizisten.
„Sie können nicht mit. Er wird ins Krankenhaus gebracht. Sie müssen mit uns kommen.“
„Nein, nein“, schrie das Mädchen entsetzt und klammerte sich an der Trage fest. „Er braucht mich.“
„Kind, wir fahren doch gleich hinterher“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Oder?“, fragte ich die beiden Polizisten.
Sie sahen sich kurz an und nickten.  „Wir fahren mit dem Auto hinterher.“ Da erst ließ die Kleine die Trage los und nahm Tonne, der ebenfalls Karl hinterher wollte auf den Arm.

Samstag, 1.20 Uhr
Melanie auf der Polizeiwache in F.

Auf der Wache kümmerte sich eine junge Polizeibeamtin um Melanie, gab ihr zu trinken, wusch ihr das Gesicht und begann, sie freundlich zu befragen. Die Schläger. Der Vorfall. Die Reise. Die Zugfahrt. Das Ziel. Der Grund. Melanie sagte nur einen Satz: „Ich muss zu Karl.“ Ansonsten schwieg sie hartnäckig, während Tonne abwartend zu ihren Füßen lag.

Samstag, 4 Uhr
Im Krankenhaus von F.

Das helle Licht, der lange Gang, der so verlassen da lag, die roten und grünen Lämpchen über den Türen, hinter denen fremde Menschen krank in Betten lagen, die weißgekleideten Schwestern, die stumm vorbei huschten, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, der lautlos auftauchende Arzt, das alles beunruhigten Melanie.
Sie wollte zu Karl, wollte wissen, wie es ihm ging. Sofort. Aber es dauerte. Sie musste mit der fremden Frau auf einer Bank vor einem Zimmer sitzen und warten. Minute um Minute verstrich. Melanie fühlte bleierne Müdigkeit aufsteigen. Immer wieder fielen ihr kurz die Augen zu, die sie erschrocken wieder aufriss. Die Frau neben ihr legte den Arm um ihre Schultern. Irgendwann gab sie ihren Widerstand auf, ihr Kopf schmiegte sich erschöpft an die fremde Schulter, deren Wärme so tröstlich war. Melanie erlebte ihre gemeinsame Reise in Gedanken noch einmal. Wie in einem Film sah sie die vergangenen Stunden vorübergleiten, war gleichzeitig Zuschauerin und Schauspielerin.

Tonne (5)

29 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Arzt, Depression, Freundschaft, Hund, Kind, Krankenhaus, Leben, Lehrerin, Schule

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Karls Plan zu verreisen

Er hatte Hunger und suchte in der Küche nach Essbarem. Seit seine Mutter in der Klinik war, fühlte er sich ständig hungrig. Sein Vater versorgte sie beide so gut es ging. Er brachte aus dem Krankenhaus abgepackte Portionen mit, die ihnen beiden aber nicht so recht schmecken wollten. Irgendetwas fehlte, vermissten sie beide. Es lagen nun oft Kekspackungen herum, die ihren Heißhunger auf Süßes kurzfristig stillten.
So eine Packung suchte Karl. Während er ungeduldig Schranktüren öffnete, Geschirr verschob, in Schubladen wühlte, hielt er plötzlich Fahrkarten in der Hand. Zugfahrkarten. Er kannte sie inzwischen, war mehrmals mit seinem Vater und Tonne zu seiner Mutter gefahren, mit dem Zug. Von innerer Unruhe und Aufregung gepackt, schwenkte er die Karten hin und her. Auf einmal steckte er sie in seine Hosentasche, streichelte Tonne, der sich neugierig an ihm hochstemmte über den Schädel und sagte: „Wir fahren. Tonne, wir fahren zu Mama.“
Tonne, der nur das Wort „Mama“ verstanden hatte, wedelte aufgeregt und begeistert mit dem Schwanz und bellte kurz laut auf, als wolle er Karls Entschluss bekräftigen.

Fünfte Begegnung: Melanie mit Karl und Tonne auf dem Spielplatz

Am Nachmittag traf Karl Melanie auf dem Spielplatz. Er hatte sie schon ungeduldig erwartet und ging ihr rasch entgegen, als er sie kommen sah. Verwundert nahm Melanie Karls Unruhe wahr. Er, der sonst immer so unbeteiligt, so abwesend wirkte, erschien ihr heute aufgewühlt. Da war etwas passiert. Gespannt blickte sie ihm ins Gesicht, das plötzlich so lebendig wirkte, und dachte: „Es kann nichts Schlimmes sein.“
Karl wühlte in seiner Hosentasche und zog zwei Zugfahrkarten hervor, die er ihr freudestrahlend hinhielt. „Wir fahren nach N. Wir fahren zu Mama.“ Verwirrt nahm Melanie die Fahrkarten in die Hand und betrachtete sie genauer. Sie schienen echt zu sein, obwohl sie keine Ahnung davon hatte, war noch nie mit einem richtigen Zug gereist, außer mit der SBahn in die nächste Großstadt. „Wer fährt?“, wollte sie wissen. Karl sah sie überrascht an. „Karl und Melanie und Tonne“, sagte er entschlossen. „Aber wohin, Karl?“, bohrte sie nach, „und wann, und warum?“ Wieder wunderte sich Karl. Wusste Melanie denn nicht, dass sie zu seiner Mutter fahren würden? Endlich. Er würde sie mitnehmen. Seine Bettina, seinen Engel, der Mutter helfen würde, davon war er zutiefst in seinem Inneren überzeugt. Wenn seine Mutter ihren Engel wieder hätte, könnte sie Karl wieder lieben und käme bald zu ihm und seinem Vater zurück und Melanie würde bei ihnen bleiben. Aus Bettina war nun Melanie geworden. „Freitag. Wir fahren zu meiner Mama.“

Melanie war überrumpelt. Heute war Donnerstag. Sie sollte mit Karl im Zug wegfahren. Morgen schon war Freitag. Aber das war doch unmöglich. Sie musste in die Schule gehen. Auch am Freitag. Und ihre Mutter, was würde die wohl sagen, wenn sie nicht pünktlich nach Hause käme?
Ihre erste Freude war, kaum empfunden, schon verflogen.
„Nein, das geht nicht“, widersprach sie Karl. Entsetzt starrte Karl sie an. „Doch. Du musst“, behauptete er bestimmt. Melanie schüttelte traurig den Kopf.
„Mama braucht Engel“, schrie Karl verzweifelt. „Engel macht Mama gesund.“
Da war es wieder: Karl und seine Engelgeschichten, aus denen sie immer noch nicht richtig schlau geworden war.
„Du bist ja total verrückt.“
Karl zuckte zusammen, starrte sie mit einem Blick an, der durch sie hindurchging und doch tief in ihrem Inneren ankam. Ein Blick, der ihr unheimlich war. War er vielleicht wirklich verrückt, wie manche Leute behaupteten?
Plötzlich spürte sie seine kräftigen Hände schmerzhaft auf ihren Schultern, wurde heftig durchgerüttelt, hörte Tonne aufjaulen.
„Karl, hör auf. Du tust mir weh.“
Panik ergriff sie, als sie erkannte, dass in Karls Augen Entsetzen und Angst zu lesen waren. Wie wild begann sie verzweifelt um sich zu schlagen, wehrte Karl ab, aber der war stärker und schien sie nicht mehr zu kennen. Er befand sich plötzlich in einer anderen Welt, zu der sie keinen Zugang hatte.
„Karl, bitte, lass mich doch los“, schluchzte sie mit tränenüberströmtem Gesicht.
Karls Hände, die Melanies Hals packten, drückten langsam auf ihren Kehlkopf. „Karl“, flüsterte Melanie mit heiserer Stimme, neben sich hörte sie Tonne knurren.

Frau Linder
Freitag, 8 Uhr

Frau Linder blickte prüfend in ihre Klasse. Jemand fehlte doch. Melanies Platz war leer. „Wer weiß, was mit Melanie los ist?“, fragte sie.
Niemand meldete sich. Sie sah in ratlose, gleichgültige Gesichter. Frau Linder wurde bewusst, dass Melanie keine Freunde in der Klasse hatte. Sie war eine Einzelgängerin. Sehr zurückhaltend. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Melanie hatte noch nie unentschuldigt gefehlt.
„Petra, frag doch bitte im Büro nach, ob Melanie entschuldigt ist“, bat sie das Mädchen, das in der ersten Bank saß.
Kurz darauf wussten sie es: Melanie fehlte unentschuldigt.
Frau Linder gab den Kindern Stillarbeit und ging ins Büro, um Frau Ascher, Melanies Mutter anzurufen. Es könnte ja auch unterwegs etwas passiert sein, auf dem Schulweg. Das musste geklärt werden und zwar gleich. Frau Linder ließ das Telefon lange läuten, aber niemand nahm ab. Sie bat die Sekretärin Frau S. bei Frau Aschers Arbeitsstelle anrufen, erfuhr aber, dass Frau Ascher nicht mehr dort arbeiten würde, schon seit mehreren Monaten nicht. Frau Linder vereinbarte mit der Sekretärin, in kurzen Abständen bei Frau Ascher zuhause anzurufen und ihr dann Bescheid zu geben, falls sie sie erreicht hatte. Frau S. nickte und Frau Linder kehrte noch stärker beunruhigt als zuvor zurück in ihr Klassenzimmer, aus dem sie schon von weitem lautes Geschrei vernehmen konnte. Abrupt öffnete sie die Tür. Das Schreien verstummte. Schweigen herrschte im Raum. Erwartungsvoll starrten die Kinder ihre Lehrerin an. Auch sie begannen zu spüren, dass etwas am Fehlen Melanies ungewöhnlich war.
In der kleinen Pause, um 9:30 Uhr, fragte Frau Linder besorgt im Büro nach. Frau Ascher war immer noch nicht erreichbar. Niemand hatte eine Ahnung, wo Melanie war. Spurlos verschwunden, Mutter und Tochter. Waren sie beim Arzt oder waren beide gemeinsam verschwunden? Frau Linder fand das eher unwahrscheinlich, aber durchaus möglich.
Als bis 13:00 Uhr Frau Ascher immer noch nicht erreicht werden konnte, besprach sich Frau Linder mit ihrem Schulleiter. Sie schlug vor, bei Melanie daheim vorbeizufahren, um der Sache auf den Grund zu kommen. Ihr Chef war damit einverstanden.

Freitag, 15 Uhr

Frau Linder klingelte an der Tür auf der, schon etwas verblasst, der Name Ascher zu lesen war. Neugierig blickte sie sich um, während sie gespannt wartete. Ein ganz gewöhnliches Mietshaus mit vier Parteien. Wenig gepflegt die Fassade. Nur einzelne Balkone waren liebevoll mit Blumen bepflanzt. Nichts rührte sich. Sie klingelte noch einmal, ließ diesmal den Finger länger auf dem Klingelknopf, hoffte inständig, es möge jemand öffnen. Wieder blieb die Tür verschlossen. Nichts regte sich im Treppenhaus. Erneut wurde sie von ahnungsvoller Unruhe gepackt. Da stimmte doch etwas nicht.
„Hausieren ist bei uns verboten.“
Frau Linder drehte sich der unfreundlichen Stimme entgegen und stand plötzlich einer älteren Frau gegenüber, die soeben die Eingangstür aufsperren wollte und sie misstrauisch anblickte.
„Ich möchte zu Frau Ascher, aber es scheint niemand da zu sein.“
„Da können Sie lange klingeln, die macht oft nicht auf.“
„Ich bin Frau Linder, Melanies Lehrerin. Wissen Sie, wo Melanie ist?“, erwiderte Frau Linder
„Keine Ahnung. Die treibt sich doch überall herum.“ Die Frau griff mürrisch nach ihrer Tasche und schob sich an ihr vorbei ins Treppenhaus, aus dem ihr schale, abgestandene Luft entgegenschlug.
Frau Linder wurde erneut ergriffen von quälender Unruhe. Wo war Frau Ascher?
Sie griff nach ihrem Handy, wählte rasch die Nummer ihres Schulleiters Herrn Boger.

Karls Vater
Freitag, 9 Uhr

Er kam am Freitagmorgen gut gelaunt nach Hause. Während der Nachtschicht im Krankenhaus, die er einmal im Monat übernahm, war es ruhig geblieben. Er hatte schlafen können. Jetzt freute er sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Karl. Außerdem war er neugierig, wie Karl eine Nacht ohne ihn verbracht hatte. Er hatte ihm ausführlich erklärt, dass er am Donnerstag allein sein würde, ihm sicherheitshalber jedoch eine Telefonnummer notiert, unter der er ihn erreichen konnte.
Als erstes fiel ihm die ungewohnte Stille auf, als er das Gartentor aufstieß. Normalerweise begann Tonne spätestens in dem Moment freudig sein Begrüßungsgebell anzustimmen, erwartete ihn bereits aufgeregt hinter der Haustür, um begeistert an ihm hochzuspringen.
Erwartungsvoll schloss er die Tür auf. Stille empfing ihn auch im Haus.
„Karl! Tonne! Guten Morgen!“
Sein Gruß verhallte ungehört. Sofort spürte er: Er war ganz allein. Das Haus war leer. Karl und Tonne waren nicht da. Nervöse Unruhe packte ihn, er riss die Küchentür auf, sah sich aufmerksam in der Küche um. Nichts war verändert seit Mittwochabend. Konzentriert wanderte er mit seinen Blicken noch einmal durch die Küche, verweilte auf der Sitzgruppe, dem Tisch mit der blauen Tischdecke, der Spüle, den Schränken und blieb schließlich hängen an der kleinen Anrichte deren Oberfläche ihm so nackt erschien. Da fehlte doch etwas. Die Fahrkarten. Die Zugtickets. Er hatte sie dort abgelegt.  Heute, am Freitag, wollte er seine Frau besuchen, mit Karl und Tonne natürlich. Die Fahrkarten waren verschwunden.
Sollte Karl sie genommen haben? Aber wozu? Beunruhigt lief er durch alle Zimmer, hoffte eine Spur zu finden, einen Hinweis auf Karls Abwesenheit.
Er versuchte sich zu beruhigen, als er alle Zimmer leer vorfand. Karl war oft alleine mit Tonne unterwegs. Vielleicht hatte er heute früh auf seiner Tour etwas Interessantes entdeckt, womit er sich längere Zeit beschäftigt hatte. Keine Panik, ermahnte er sich selbst. Enttäuscht legte er die Tüte mit den frischen Semmeln auf den Tisch und begann mechanisch den Tisch zu decken für zwei. Vielleicht kommt er ja gleich. Karl liebte Pfefferminztee. Er stellte eine Kanne mit Wasser auf den Herd, legte schon mal zwei Teebeutel bereit, blickte dabei immer wieder aus dem Fenster, horchte angestrengt auf Geräusche von draußen. Das Wasser sprudelte, automatisch schaltete er die Kochplatte ab, zog den Topf zur Seite und gab die Teebeutel ins heiße Wasser, blickte auf die Uhr, fünf Minuten ziehen lassen. Der Duft ofenfrischer Semmeln stieg ihm in die Nase, verstärkte sein Hungergefühl. Er zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor, fühlte sich auf einmal hungrig und müde, erschöpft. Wo blieb bloß Karl?
Nach fünf Minuten frühstückte er allein, ohne besonderen Appetit, einzig um seinen Hunger zu stillen und Zeit zu gewinnen, um darüber nachzudenken, wo Karl sich wohl befinden mochte.

Freitag, 10 Uhr
Er ging noch einmal in Karls Zimmer. Das Bett war unberührt. Vorher war ihm das gar nicht aufgefallen. Er schlug die Bettdecke zurück und entdeckte Hefte, Bücher und ein Federmäppchen. Da lagen ja Schulsachen. Aber sie gehörten Karl nicht, das erkannte er auf einen Blick. Verwundert nahm er ein Heft in die Hand, blickte auf das Namenschild. Melanie. Klasse 3 b. Deutsch. Erstaunt sah er sich die anderen Hefte und Bücher durch. Sie gehörten alle einem Mädchen namens Melanie. Melanie? Er kannte kein Mädchen, das so hieß. Und der Nachname? Er konnte ihn nirgends entdecken.
Wie kam Karl zu diesen Schulsachen? Hatte er sie etwa einem fremden Mädchen abgenommen? War Karl inzwischen gewalttätig geworden und hatte er das als Vater, beschäftigt mit seinen eigenen Problemen, nicht bemerkt?
Junger Behinderter überfällt Mädchen auf dem Schulweg
Ohne es zu wollen, entstand sie vor seinem geistigen Auge, diese Schlagzeile, geeignet, um die schonungslose Aufmerksamkeit der Leute auf seine Familie zu lenken, auf Karl, auf ihn, dem Vater und seiner Verantwortung dem behinderten Sohn gegenüber.
So einer darf nicht frei herumlaufen
Die Leute würden Karl nicht mehr unter sich dulden, seinen harmlosen Sohn, der mit dem Müllsack unterwegs war, der sich so kindlich freuen konnte über das, was andere wegwarfen.
Nein. So durfte er nicht denken. Karl konnte jeden Augenblick zurückkehren. Er horchte angestrengt. Da war nichts zu hören. Keine menschliche Stimme. Vogelgezwitscher und entfernter Motorenlärm.
Bis Mittag beschloss er zu warten, dann würde er sich mit dem Fahrrad auf die Suche nach seinem Sohn machen, alle Spielplätze ansteuern, würde ihn sicher finden, dachte er.
Bis dahin wollte er schlafen, sich beruhigen. Aber er konnte nicht schlafen. Innerlich aufgewühlt lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, aus dem er aufzuwachen hoffte, Karl und Tonne neben sich. Er lag und lauschte, versuchte sich abzulenken, sich zu entspannen, dachte an die Patienten im Krankenhaus, erinnerte sich an den neuen Fall, der gestern Abend eingeliefert worden war, eine Betrunkene, die sich beim Sturz auf der Treppe das Bein gebrochen hatte. Wenigstens trank Karl nicht, war kein Alkoholiker, war nur behindert. Kein Entzug konnte ihn von seiner Behinderung befreien. Er dachte an seine Frau, die weit von ihm entfernt in einer Klinik darum kämpfte, sich aus ihren Depressionen zu befreien.

Freitag, 11 Uhr 10
Ein Klingeln an der Tür riss ihn vom Sofa. Endlich. Schnell öffnete er die Tür. Der Postbote bat ihn, für seine Nachbarn ein Paket anzunehmen. Eine Unterschrift bitte. Mechanisch setzte er seinen Namen an die angewiesene Stelle, trug automatisch das fremde Paket in den Gang. Er musste Karl finden. Jetzt. Gleich. Entschlossen holte er sein Fahrrad aus der Garage.
Karl blieb verschwunden. Alle bekannten Spielplätze hatte er abgeklappert, war nur einzelnen Jugendlichen begegnet, einigen Obdachlosen, die ihre Nächte auf den Spielplätzen verbrachten. Alle hatte er gefragt. Niemand konnte sich erinnern an einen jungen Mann mit einem kleinen Hund, der auf den seltsamen Namen Tonne hörte. Enttäuscht war er zurück gefahren, beschloss, noch einmal im Haus zu suchen, ehe er wohl die Polizei einschalten musste. Und heute Nachmittag, da wollte er seine Frau besuchen, sie erwartete ihn und auch Karl und Tonne. Was sollte er ihr bloß sagen, ohne sie in Unruhe zu versetzen? Suchen, er musste irgendeinen Hinweis finden, er musste.

Freitag, 13 Uhr 20
In Karls Zimmer öffnete er jede einzelne Schachtel, registrierte deren Inhalt, ohne einen Hinweis auf Karls Verschwinden zu entdecken. Seine Verwunderung wuchs mit jeder weiteren Schachtel, die er öffnete. Wie wenig kannte er doch seinen Sohn. Hatte keine Ahnung, was ihm diese Schätze bedeuteten, die er so sorgsam hütete und hortete. Was ging in ihm vor, seinem Sohn, dem Sprachlosen, dem Unnahbaren?
Er öffnete seinen Schrank, wühlte zwischen den Kleidungsstücken, warf in verzweifelter Wut Pullis und T-Shirts auf den Boden, tastete suchend alle Winkel des Schrankes ab und erschrak, als er tatsächlich etwas in der Hand hielt, etwas, das nicht Karl gehörte. Ungläubig starrte er an, was er in der Hand hielt, ein Kleid von Bettina, zusammengerollt, zerknittert, er breitete es aus, wehmütig, Bettinas Bild vor seinen Augen. Bettina, sein Sonnenschein. Das Kleid wippte um ihre schmutzigen Knie, wenn sie auf ihn zulief, der Saum des Kleides stand ab wie eine Glocke, wenn sie sich drehte im Kreis, solange bis sie vor Lachen nach Luft japsend ins Gras fiel. Er drückte sein Gesicht in dieses Stück Stoff, glaubte noch eine Spur ihres Duftes, ihres Geruches wahrzunehmen, glaubte sie noch einmal in seinen Armen zu halten. Jäh riss er sich los von diesen unerwarteten Gefühlen. Was tat Karl mit diesem Kleid? Und was tat er mit Bettina? Plötzlich fühlte er sich schwach, überwältigt von der ungeheuren Vorstellung, dass Karl nicht nur Bettinas Spielkamerad gewesen war, sondern … Nein, das konnte, das durfte er nicht einmal denken. Aber sein Misstrauen, seine Furcht waren geweckt, entwickelten sich blitzschnell weiter, nahmen ungeheure Ausmaße an. Sein Sohn Karl, ein Kinderschänder? Verzweifelt wehrte er diese Gedanken ab, die ihn überrannten, ihn kaum atmen ließen,  immer neue, schrecklichere Ahnungen entstehen ließen.
Er suchte weiter, immer hektischer, suchte nach Beweisen und hoffte inständig, keine zu finden, griff in die Taschen der Hosen, der Jacken, die im Schrank hingen, atmete schon erleichtert auf, als ihm ein leises metallisches Klicken verriet, dass er etwas übersehen hatte. Er starrte auf den Boden, erkannte einen winzigen Ring, Bettinas Ring.
Fünf brennende Kerzen auf eine kleine Torte gesteckt leuchteten auf, fünf Flammen, die sich in Bettinas Augen widerspiegelten, unzählige Päckchen liebevoll auf dem Tisch hindrapiert, leuchtend bunte Luftballons und Bettina, die ihre Backen aufplusterte, um die Kerzen auszublasen unter dem Beifall ihrer großen und kleinen Gäste und Karl, der verzückt dabeistand, schweigend und stumm wie meist. Und Bettina, die stolz ihren Finger herzeigte, jedem, der ihn sehen wollte, den Finger mit dem winzigen Ring, der ihre Augen stolz strahlen ließen. Wie kam Karl an diesen Ring?
Und dann die Sache mit den Schulheften. Melanie. Angestrengt dachte er nach, aber er kannte wirklich keine Melanie. Dritte Klasse. Bettina wäre jetzt auch in der dritten Klasse. Plötzlich begann er zu begreifen. Der Tag, an dem Karl so verwirrt am Mittagstisch saß, der Tag an dem er behauptete, Bettina sei wieder da. Er spürte, dass es da einen Zusammenhang gab, den er entdecken musste. Melanie und Bettina. Zwei Mädchen, die Karl viel bedeuteten. Aber woher kannte Karl diese Melanie? Und was hatte dieses Mädchen mit Bettina zu tun?
Seine Unruhe wuchs sich in Angst aus, der er nicht ausweichen konnte. Er musste wohl die Polizei einschalten, fragte sich, wie lange er noch warten durfte, wie lange er noch hoffen konnte, dass Karl wieder auftauchen würde. Konnte es sein, dass Karl allein zu seiner Mutter unterwegs war? Die fehlenden Zugkarten, eindeutiger Beweis: Karl wollte weg. War er in der Lage, allein zu der Klinik zu finden? Oder war er vielleicht gar nicht allein unterwegs? Die Polizei würde ihm viele Fragen stellen, die verschwundenen Fahrkarten erleichterten sicher die Suche, gaben klare Anhaltspunkte. Und die Frage nach Melanie, darüber weigerte er sich nachzudenken.

Freitag, 15 Uhr
Bis sieben Uhr wollte er noch warten, setzte sich noch eine letzte Frist, ehe er zur Polizei gehen wollte. In vier Stunden konnte noch viel geschehen, konnte Karl wieder heimkehren und alles wäre in Ordnung, beinahe, bis auf die Sache mit Melanie. Er stellte sich den Wecker auf 19 Uhr und legte sich erschöpft auf das Sofa. Er musste vorher noch in der Klinik Bescheid geben, dass er verhindert war, dringender Fall im Krankenhaus.

Frau Linder begegnet Herrn Kenter in der Bücherei
Freitag, 17 Uhr
Frau Linder hatte sich Bücher zurücklegen lassen. Sie brauchte sie am Wochenende. Melanies Fehlen beschäftigte sie immer noch. Herr Kenter, der Büchereimitarbeiter, suchte ihr die zurückgelegten Bücher heraus. Er wusste, dass sie Lehrerin war, deshalb sprach er sie wohl an. „Sie unterrichten doch hier an der Grundschule, nicht wahr?“, begann er freundlich. „Ja, Ja, in der dritten Klasse.“ Frau Linder wunderte sich etwas, da Herr Kenter sonst immer sehr zurückhaltend war.
„Ich habe einem Mädchen versprochen, die Bremsen an ihrem Fahrrad zu reparieren. Sie brachte das Rad gestern Nachmittag vorbei, wirkte etwas durcheinander und hatte keine Zeit zu bleiben. Ich sah, wie sie sich vor der Bücherei mit einem seltsamen jungen Mann traf, der einen kleinen Hund dabei hatte.“
„Melanie Ascher?“, platzte Frau Linder überrascht hervor.
„Genau, Melanie Ascher. Aber seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Mutter ist gestern unerwartet ins Krankenhaus gekommen.“
„Wissen Sie mehr darüber? Ich bin Melanies Lehrerin und heute fehlte sie unentschuldigt, ihre Mutter war auch nicht zu erreichen. Ich mache mir schon große Sorgen.“
„Ich tratsche sonst gewiss nicht, aber in diesem Fall sollten Sie wissen, dass Frau Ascher sich im Krankenhaus befindet, seit gestern Abend.“ (Donnerstagabend) Fragend schaute er die Frau an, die auf eine Erklärung wartete. „Sie haben keine Ahnung, oder?“, wollte er wissen. Verwirrt schüttelte Frau Linder den Kopf.
„Wovon sollte ich eine Ahnung haben? Ich verstehe nicht …“
Herrn Kenter war es sichtlich unangenehm darüber zur reden, aber auch er machte sich große Sorgen um Melanie. Zögernd begann er.
„Also, es ist so, dass Frau Ascher alleinstehend ist und dass sie gerne Alkohol trinkt, meistens Bier. Melanie versucht das immer zu vertuschen, entsorgt die Flaschen heimlich, aber ich habe sie zufällig dabei gesehen und auch die anderen im Haus wissen Bescheid. Wenn Melanie in der Schule ist, trinkt Frau Ascher eben auch und zwar auf dem Balkon, wo viele sie sehen können. Gestern aber, als Melanie nicht von der Schule nach Hause kam, dachte sie, ihre Tochter sei bei einer Geburtstagsfeier eingeladen. Melanie hätte ihr das so gesagt. Sie würde also später heimkommen. Frau Ascher nutzte die freie Zeit, um unbekümmert trinken zu können. Vergaß dann, dass sie Spätschicht hatte, wurde von ihrem Chef angerufen und stolperte, als sie – wohl schwer betrunken – das Haus verlassen wollte, um in die Arbeit zu gehen. Sie stürzte die Treppe hinunter, blieb dort liegen. Ich hatte Lärm gehört, ein lautes Poltern gefolgt von schmerzvollem Stöhnen, daraufhin rannte ich gleich hinaus, um helfen zu können. Frau Ascher lag seltsam verkrümmt im Treppenhaus, stöhnte immer wieder vor Schmerzen und lallte , dass sie in die Arbeit müsse, ihr neuer Chef käme sie sonst holen, er hätte schon angerufen. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Da rief ich den Notarzt, der einen offenen Beinbruch feststellte. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, musste allerdings erst wieder nüchtern werden, ehe sie operiert werden konnte.“ Nachdenklich machte Herr Kenter eine Pause.
„Aber Melanie, von ihr weiß ich nichts. Ich hatte ihr einen Zettel an die Wohnungstür geklebt und sie gebeten, sich bei mir zu melden, es wäre sehr wichtig. Der Zettel hing heute Morgen noch dort.“ Er zuckte ratlos mit den schmächtigen Schultern. Frau Linder wurde erneut gepackt von ihrer quälenden Unruhe.
„Melanie fehlte heute unentschuldigt in der Schule. Ich habe vor ein paar Stunden schon versucht mit ihrer Mutter in ihrer Wohnung zu reden. Leider öffnete dort niemand. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie im Krankenhaus liegt.“ „Sollen wir die Polizei anrufen?“, schlug Herr Kenter vor.
„Nein, ich rufe erst meinen Chef an, vielleicht weiß er inzwischen etwas über Melanie.“
Aufgeregt griff Frau Linder zum Handy. Ihr Chef war nicht erreichbar.
Sie hinterließ folgende Nachricht: Frau Ascher liegt seit gestern Abend im Krankenhaus. Keine Spur von Melanie. Polizei informieren?

Melanie
Karl ist doch verrückt. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über ihren Hals. Gott sei Dank, alles schien in Ordnung. Sie hatte schon gedacht, jetzt müsse sie sterben, sterben wie Bettina. Hatte Karl Bettina vielleicht doch umgebracht? Es schien ihr jetzt durchaus möglich. Sie meinte noch seine kräftigen Hände auf ihrem Hals zu spüren. Ohne Tonne wäre sie tot. Tonne hatte sie gerettet. Im letzten Moment musste er Karl angegriffen haben, der plötzlich aufschrie und sie so heftig wegstieß, dass sie erst auf die Knie fiel, ehe sie sich aufrappelte, immer noch entsetzt und davon stolperte, von dem einzigen Gedanken besessen: weg, weit weg.
Sie war gerannt, wollte nur heim, sich einschließen in ihrem Zimmer, wollte nur Sicherheit hinter verschlossenen Türen. Endlich, schweißgebadet, schloss sie die Wohnungstür auf, drehte gleich den Schlüssel wieder um, nachdem sie im Gang war. Ihre Mutter hatte Nachmittagsschicht, zum Glück, sie konnte jetzt nicht reden, unmöglich, ohne in Tränen auszubrechen, die sie nicht erklären wollte.
Es roch schon wieder nach abgestandenem Bier. Wie sie diesen Geruch hasste. Widerlich. Eilig riss sie ein Fenster auf, dabei entdeckte sie den Brief, der auf dem Fensterbrett lag. „Jugendamt“. Erschrocken griff sie danach. „Jugendamt“. Das Wort jagte ihr erneut Angst ein. Sie begann zu lesen, verstand wenige Sätze. „Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Tochter Melanie vorübergehend von einer Pflegefamilie betreut werden wird, sofern Sie nicht bereit sind, Ihren Alkoholkonsum einzuschränken. Das Sorgerecht für Ihre Tochter muss Ihnen dann entzogen werden …“
Aufgewühlt faltete Melanie den Brief zu einem winzigen Viereck und versteckte ihn in ihrem Geldbeutel. Das Briefkuvert zerriss sie in winzige Flocken, die sie ganz unten im Abfalleimer verbarg. Weinend warf sie sich auf ihr Bett, drückte ihr Gesicht in das weiche Fell ihres Stoffhundes, der sie schon oft getröstet hatte. Erschöpft schlief sie ein.

Melanies Mutter im Krankenhaus
Freitag, 17 Uhr
„Sie wissen also wirklich nicht, wo Ihre Tochter sich aufhält?“
Der Arzt sah Frau Ascher aufmerksam an. Sie war wieder nüchtern, hatte die Operation gut überstanden und war wieder ansprechbar.
„Melanie?“, flüsterte die Frau besorgt. „Was ist mit Melanie?“ Der Arzt griff nach ihrer Hand, ertastete unauffällig den Puls. „Sie ist nicht in der Wohnung. Seit gestern Abend hat sie niemand mehr gesehen.“
„Aber …“ Mühsam dachte die Frau nach. Der Arzt konnte an ihrem blassen Gesicht förmlich erkennen, wie sie klare Gedanken zu fassen versuchte.
„Sie war bei einer Geburtstagsfeier eingeladen, am Donnerstag.“
„Wissen Sie bei wem?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe den Namen vergessen.“
„Ihr Schulleiter wollte schon mit Ihnen sprechen. Ihre Tochter Melanie geht in die dritte Klasse, 3 b, nicht wahr?“
Frau Ascher nickte.
„Die Lehrerin hatte bei allen Kindern angerufen. Leider konnte sie nichts über Melanie erfahren.“
„Was machen wir jetzt?“,  fragte die Frau zaghaft.
„Wenn wir nichts erfahren, müssen wir die Polizei informieren. Aber Melanie taucht sicher bald wieder auf.“
Ihm war der Schreck nicht entgangen, der Frau Aschers Gesicht durchzuckte, als er das Wort „Polizei“ erwähnte. Sekunden später schlief sie ein. Das Beruhigungsmittel zeigte seine Wirkung. Im Schlaf entspannte sich ihr Gesicht. Grübelnd blickte der Arzt sie an.

Frau Linder – Arzt
Freitag, 20 Uhr
Telefonat

„Hier Linder.“
„Dr. Hauser. Haben Sie noch etwas erreichen können?“
„Nein. Nachdem ich alle Kinder der Klasse angerufen habe, weiß ich nur, dass niemand  am Donnerstag eine Geburtstagparty feierte. Merkwürdig. Einige Kinder haben auch seltsame Bemerkungen gemacht über Melanie und ihren komischen Freund, mit dem sie sich auf dem Spielplatz oft trifft. Genaueres wollten sie aber nicht rausrücken. Irgendetwas stimmt da nicht, ich habe so ein seltsames Gefühl. Was meinen Sie dazu?“
„Ich werde die Polizei benachrichtigen. Ich denke wir haben lange genug gewartet.“
„Ja, bitte, tun Sie das.“

Versuch einer Erklärung

12 Dienstag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Droge, Drogen, Erinnerung, Erklärung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gedicht, Gefühle, Krankenhaus, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Psychologie, Rauschgift, Rauschmittel, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Tod, Vorstellungen

VersucheinerErklärung_sm

Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich hier auf den Stuhl. Ich kann nur leise sprechen, das hat man Ihnen sicher schon gesagt. Sind Sie erstaunt über mein Aussehen? Doch, ich merke es Ihnen deutlich an, nein, versuchen Sie nicht dagegen zu reden. Wahrscheinlich habe ich Sie durch mein Äußeres erschreckt, aber ich habe keinen Spiegel und es interessiert mich auch nicht wie ich aussehe. Wozu auch, mir ist alles so gleichgültig. Am liebsten würde ich schlafen, schlafen, Tag und Nacht und irgendwann möchte ich erwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.

Aber Sie wollen mit mir reden, keine Angst, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Fangen Sie also an, ehe ich zu müde werde.

Sie wollen wissen, ob es Absicht war, was sich an jenem Abend ereignet hat? Darauf kann ich keine Antwort geben, noch nicht, denn ich bin mir selbst darüber nicht im Klaren. Vielleicht interessiert es Sie, mehr über diesen Tag zu erfahren, Sie könnten sich dann selbst Ihre Meinung bilden. Ja? Es ist eigenartig, aber irgendwie vertraue ich Ihnen. Bei allen anderen habe ich mich geweigert darüber zu sprechen. Aber ich spüre, dass ich endlich reden muss, um nicht daran zu ersticken. Bitte hören Sie nur zu und geben Sie keine Kommentare ab, schreiben Sie auch nichts mit, sonst könnte ich nicht sprechen. Sie sind einverstanden? Gut. Ich nehme an, man hat Ihnen schon eine Menge über mich erzählt und Sie haben eine gewisse Vorstellung von mir. Sicher wissen Sie noch nicht wie ich ihn kennen gelernt habe.

Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Hosengeschäft, probeweise. Was ich später machen sollte, wusste ich damals nicht. Meine Eltern erwarteten, dass ich mich um eine gute Ausbildung bemühen werde, aber ich wollte mir dazu Zeit lassen. Kurz vor Ladenschluss sah ich ihn zum ersten Mal. Mein erster Eindruck? Ich hielt ihn für eingebildet, gut aussehend, ja, aber zu arrogant. Er sah sich im Laden um, betont lässig, ohne etwas zu kaufen. Wenige Tage darauf, stand er wieder im Laden und wollte von mir beraten werden. Ich versuchte, ihn so freundlich wie die anderen Kunden auch zu behandeln. Er fand nichts Passendes. Eine Woche lang erschien er jeden Tag und allmählich schwand mein innerer Widerstand und ich willigte ein, eines Abends, mich mit ihm zu treffen. Ich war fest entschlossen, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Abwarten wollte ich, wie er sich verhalten würde. Aber schneller als erwartet hatte er mich von sich überzeugt. Da fällt mir ein wie er mir eine Rose schenkte, die er zuvor hastig von einem blühenden Strauch abgerissen hatte, zufällig hatte ich ihn dabei beobachtet. Verlegen lächelnd schleuderte er die Rose über den Ladentisch in meine Hände. Überrascht hielt ich die zarte Blüte fest und atmete ihren zarten Duft ein, glücklich. Jetzt denke ich, vielleicht war alles Berechnung und ich war zu leichtgläubig. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich von ihm abgestoßen fühlte, von seiner kalten Sprache, seiner Verachtung anderen gegenüber. Nach und nach erfuhr ich mehr von ihm und begann langsam zu begreifen, ein bisschen wenigstens wie er so geworden war.

Ich wohnte noch bei meinen Eltern und er bei seiner alleinstehenden Mutter. Wo also konnten wir uns treffen außer in Cafes und später dann in üblen Kneipen, in denen er mit abstoßenden Leuten bekannt war, denen ich zunächst am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Immer wieder überfiel mich Furcht vor meinem eigenen Verhalten. Wie konnte es geschehen, dass ich innerhalb kürzester Zeit in Kneipen verkehrte, in die ich mich vorher nie gewagt hätte? Ich verstand mich selbst nicht. Meine Eltern hatten wohl auch Angst vor meiner Veränderung. Sie drängten mich, diese unglückliche Freundschaft wie sie es nannten, aufzugeben. Aber da war es schon zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück, obwohl ich es damals gerne gewollt hätte.

Ob ich wusste, dass er verheiratet gewesen war? Ja, irgendwann hatte er darüber geredet, nicht viel, aber ich spürte, das hatte er nicht verkraftet, dass seine Frau die Scheidung gewollt hatte. Nein, Gründe nannte er mir nicht. Sie scheinen darüber mehr zu wissen als ich? Sie schweigen. Mir wurde selbst bald klar, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Sie musste es tun, um sich zu retten, sonst wäre es ihr ergangen wie mir. Sie verstehen nicht, wie ich das meine? Seit er arbeitslos war, hatte er angefangen erste Erfahrungen mit Drogen zu machen und wie es dann weiterging, haben Sie sicher schon lange in Erfahrung gebracht, nehme ich an. Nein? Er konnte bald nicht mehr ohne Drogen leben. Er träumte davon, sich große Mengen zu beschaffen, um möglichst lange in seiner neu entdeckten Welt leben zu können, frei von aller Verantwortung und den Erwartungen der Gesellschaft. Sein Ziel war, tun und lassen zu können, was er wollte und wann er es wollte.

Sie meinen, das sei die Welt eines Kleinkindes. Ja, gerade das dachte ich auch manchmal. Die Droge als Schnuller sozusagen, der pure Zufriedenheit und Lustgewinn garantierte sobald ihn das Baby im Mund hatte. Flucht nach rückwärts, um sich allen Anforderungen zu entziehen.

Aber er war kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen, trotz seiner herausgeputzten Männlichkeit, die er gerne zur Schau stellte durch seine auffällige Kleidung, mit denen er seine Muskeln betonte. Hinter seinem unnahbaren Verhalten verbarg sich, gut getarnt, einsame Schwäche.

Bis heute verstehe ich nicht wie es passieren konnte, dass auch ich Erfahrungen mit Rauschgift machte. Lange habe ich mich geweigert, hartnäckig. Ich könnte auch ohne dieses Zeug leben, habe ich verzweifelt geschrien, wenn er immer wieder darauf bestand, dass ich mit ihm in seine verrückte Welt flüchten sollte, um dort frei zu sein. An Trennung dachte ich oft in dieser Zeit. Längst war ich abhängig von ihm und bald würde ich es auch von Drogen sein. Was also hinderte mich an einer endgültigen Trennung von ihm? Angst, ich hatte einfach Angst vor dem Alleinsein. Irgendwie hoffte ich wohl  immer noch durch meine Zuneigung einen gewissen Einfluss auf sein Leben, das in eine Sackgasse geraten war, nehmen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung wie aussichtslos es war, ihn aus dieser Sackgasse zurückholen zu wollen. Allein, ohne fremde Hilfe wäre das unmöglich gewesen, teilten mir die Ärzte später mit.

Wie ich es empfunden habe, abhängig von Drogen zu sein? Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht wie die Fahrt mit einem Ballon. Man hebt lautlos und langsam ab, lässt alles Unangenehme wie Ballast unter sich. Mit dem unaufhörlichen Höhersteigen verkleinern sich automatisch alle Probleme, werden beinahe unsichtbar. Die Landung erfolgt dagegen oft sehr unsanft. Du wachst auf und alles ist wieder sichtbar, deutlicher und erdrückender als zuvor. Unlösbar all deine Probleme und du hast nur den einzigen Wunsch, wieder zu starten, um abzuheben, höher als beim letzten Mal.

Die Zeit drängt, ich weiß. Warten Sie noch ein bisschen, bitte. Sie sind wirklich nicht ungeduldig? Ich glaube Ihnen. Alle anderen, die kamen, um mich zu befragen, hatten keine Geduld mit mir. Da hatte ich beschlossen, mich nicht ansprechbar zu zeigen. Regungslos, schweigend lag ich im Bett, ohne sie zu beachten.

Verärgert mussten sie schließlich wieder gehen. Tagelang versuchten sie, mir eine Antwort zu entlocken, aber ich weigerte mich. Eine Schwester, die echte Anteilnahme an mir zeigte, kam mir dabei zu Hilfe. Stets betrat sie wenige Minuten nach dem Besuch der Herren, zwei in Uni­form und zwei in Zivil, das Zimmer, um an meiner Infusion eine Änderung vorzunehmen und so einen Grund zu finden, die strengen Herren zu verabschieden und sie auf die nächsten Tage zu vertrösten.

Ich bin froh, dass heute Sie gekommen sind. Wer kam auf die Idee, die Polizei aus dem Spiel zu lassen? Die freundliche Schwester? Ja, das habe ich fast vermutet. Aber zurück zu Ihrer Frage. Absicht oder nicht? Hören Sie bitte weiter zu.

An jenem Tag genossen wir mit Freunden das herrliche Wetter und die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende. Schon am frühen Nachmittag lagerten wir an einem See. Wir grillten, tranken, badeten und waren sehr ausgelassen, zum Ärger der anderen Bade­gäste, die mit Unverständnis darauf reagierten und uns empört beschimpften. An diesem Tag hatte ich den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Heute noch, nur heute noch mache ich mit, dann werde ich ihm mitteilen, dass ich aussteigen werde aus diesem Milieu und auch aus unserer Beziehung. Aussteigen wie aus einem parkenden Auto, Tür auf, danke fürs Mitnehmen, die Fahrt war angenehm, aber ich muss nun in eine andere Richtung, Tür zu. Auf Wiedersehen. So wollte ich es machen. Nächtelang hatte ich gegrübelt und mit mir verzweifelt gekämpft. Letzte Chance, sagte ich mir und dachte dabei an seine geschiedene Frau, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, abzuspringen.

Wie gesagt, die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen. Ich versuchte, ein letztes Mal noch unbeschwert dabei zu sein. Am Abend war ich mit ihm allein, in seinem Zimmer. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, auszusteigen, ihm die Wahrheit zu sagen, ehrlich und schonungslos. Minute um Minute zögerte ich. Es lag vielleicht daran, dass er unerwartet seine harte Schale ablegte und ich ihm näher war als je zuvor. Er erinnerte mich an eine Zwiebel. Entfernt man ihre Schalen, eine nach der anderen, rückt man dem Herzen näher, aber immer leichter muss man dabei weinen. So empfand ich sein Entblättern, gefühlsmäßig meine ich, wenn Sie das verstehen können. Deutlich spürte ich, dass seine Arroganz verschwunden war und ich mich seinem Innersten näherte. Seine überraschende Zärtlichkeit verwirrte mich. Warum war er vorher selten so gewesen? Er hielt mich fest, aber sanft und ich legte meinen Kopf an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein, spürte seine Hand warm auf meinem Haar, fühlte mich geborgen. Ich brachte es nicht fertig, ihm meinen Entschluss mitzuteilen und so stieg ich nicht aus, denn ich saß im fahrenden Auto und wagte nicht, die Tür zu öffnen und mich hinausfallen zu lassen. Hätte ich es getan, wenigstens versucht. Vielleicht hätte er das Auto, Sie ahnen, was ich damit meine, angehalten, um mich aussteigen zu lassen, gefahrlos.

Diesen letzten Abend, von dem ich noch nicht wusste, dass es sein letzter werden würde, wollte ich also nicht verderben und schob die Aussprache mit ihm auf.

Er, der immer der Starke war, wirkte auf einmal so liebesbedürftig, brachte mich immer wieder ins Schwanken. Er hätte wunderbare Tabletten von seinem Freund, schwärmte er mir vor. Mit deren Hilfe könnten wir beide ein unvorstellbares Erlebnis in einer Phan­tasiewelt haben. Nein, sagte ich wiederholt. Zum Schluss aber trank ich gleichzeitig mit ihm das Glas Cola mit den aufgelösten Tabletten. Ach, es war ein verrückter Abend.

Aus dem Radio tönte leise Musik und wir ließen uns auf sein Bett sinken, eng aneinan­dergeschmiegt. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme seiner nackten Haut auf meiner Haut und begann langsam in einen Schlaf zu fallen, traumlos, aber unendlich tief, immer tiefer und tiefer, ohne je irgendwo anzukommen. Wie lange dieses Fallen in eine künstlich erzeugte Welt dauerte, ich habe keine Ahnung. Aber der Aufschlag kam, grausam hart.

Als ich erwachte, war ich geblendet von der unerwarteten Helligkeit. Weißgekleidete Gestalten umgaben mich mit besorgten Gesichtern. Meine Hand suchte ihn, aber sein warmer Körper war nicht neben mir, er war schon lange kalt, aber noch wusste ich es nicht. Ich wollte fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte. Nur allmählich konnte ich klare Gedanken fassen, auftauchen aus diesen Nebeln von Ahnungen, die mich umgaben und zur Unfähigkeit verdammten. Von weit her drangen beruhigende Worte und eine schmerzende Müdigkeit überfiel mich anfallsartig. Stunden später sprachen sie mit mir, erklärten, sie hätten meinen Magen auspumpen müssen, um mich zu retten. Retten wozu und vor was? Diese Frage quälte mich ständig. Aber die Ärzte hatten ihre Pflicht getan, mir das Leben gerettet und nun ließen sie mich allein mit der verdammten Erkenntnis, dass es ihn nicht mehr gab, nie mehr geben würde. Ob man mir gleich die Wahrheit gesagt hat? Nein, natürlich nicht, erst nach Tagen, als sie glaubten, ich könne sie schon verkraften. Sie versuchten mir in zunächst unverständlichen Worten beizubringen, dass sie auch bei ihm alles versucht hätten, aber zu spät gekommen seien. Es dauerte lange, bis ich begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten. Oft denke ich, bis heute habe ich sie nicht richtig verstanden. Gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen. Aber man erzählte mir, ich sei tagelang immer wieder in Bewusstlosigkeit gefallen und daher nicht sei es nicht möglich gewesen.

Sie schweigen. Habe ich genug gesagt? Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich wundern über mich. Vermutlich denken Sie, ich sei abgestumpft. Aber nein, das darf ich von Ihnen nicht behaupten, ich weiß. Sie meinen, ich sei verzweifelt und leide unter Selbst­vorwürfen. Das hat noch keiner vor Ihnen gedacht, vielleicht haben Sie recht. Irgendetwas in mir ist gestorben, mit ihm, ein wichtiger Teil in mir ist tot, gefühllos. Ich spüre meinen Magen, der sich verkrampft, spüre meinen Kopf, der schmerzt, aber mein Herz spüre ich nicht, nicht mehr. Das macht mir Angst vor dem Weiterleben, nicht tot und nicht lebendig. Die Ärzte nennen meinen Zustand „Schock“ und meinen, es werde bald wieder aufwärts gehen mit mir. Sie nicken zustimmend. Glauben Sie den Ärzten? Ja, vielleicht macht es ein wenig Hoffnung, die Aussicht auf Besserung.

Darf ich Ihnen zum Schluss noch ein paar Fragen stellen? Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm meinen Entschluss an jenem Abend mitgeteilt hätte? Wissen Sie, darüber denke ich stundenlang nach. Hätte ich das Unglück dadurch verhindern können? Und nun zurück zu Ihrer Frage, die auch meine ist, war es Absicht?

Wir beide können keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten, keine einzige. Sie haben recht, es ist sinnlos, darauf Energie zu verschwenden. Sinnlos, so sinnlos wie mein Leben mir jetzt erscheint. Sie sagen nein? Darüber müssen wir uns noch unter­halten, aber nicht sofort, denn ich spüre wie mich diese Müdigkeit wieder überfällt. Was ich mir wünsche, wollen Sie wissen. Ich habe nur einen Wunsch. Weinen, um wieder ganz lebendig zu werden. Weinen war mir unmöglich seit ich hier aufgewacht bin, gerettet sozusagen. Ich sehne mich danach zu weinen wie ein Kind, hemmungslos. Ein dummer Wunsch, nicht wahr? Nein, Sie lächeln zum ersten Mal. Was ist wohl wichtiger zu weinen oder zu lachen? Beides. Nun müssen Sie gehen, ich weiß. Vielen Dank für das Taschentuch, aber warum legen Sie es auf mein Bett? Weil ich weine, sagen Sie.

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