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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Gedicht

Bruder Hölderlin

07 Sonntag Jun 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kunst, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik

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Schlagwörter

Anmut, Aufbruch, Bruder, Erinnerung, Erklärung, Frauen, Freiheit, Freundschaft, Friedrich, Gedanken, Gedicht, Hölderlin, Hyperion, Tagebuch, Traum

Maske für Buch-optimiert

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter  ist, die Blumen, und wo
Den  Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

(Hölderlin: Hälfte des Lebens, 2. Strophe)

Donnerstag
Heute Nacht bin ich dir im Traum begegnet. Aber du warst zu weit weg, kein Gespräch war möglich. Dein Gesicht konnte ich nicht sehen. Ich stand entfernt von dir, wollte mich dir nähern, leise, unentdeckt, dein Gesicht nur wollte ich sehen, dich wieder-erkennen. Vergeblich. Die Arme streckte ich aus, dir zu winken, du merktest nichts davon. Rufen wollte ich dich, aber meine Stimme blieb lautlos, ein stummer Hauch. Du aber schriebst, deine Umgebung nicht beachtend. Hoffend blieb ich stehen, in der Erwartung, dass du meine Nähe spüren wirst, dich umdrehen, mich erkennen wirst.

Freitag
Noch immer nicht habe ich dir gesagt, was du in mir ausgelöst hast, in jenem heißen Sommer vor zwei Jahren. Auch damals sah ich dich vor mir – schreibend. Ahnungslos. Doch du drehtest dich zu mir um, lächelnd mir ein Blatt überreichend. Ich schenk dir ein Gedicht, nicht von mir, von Hölderlin, fügtest du hinzu und wurdest rot dabei. Ein Erdbeben der Gefühle hast du entfesselt und weißt es nicht. Ein Sturm von Gedanken und Gefühlen brach da los in mir: Ich saß da, fassungslos vor so viel Glück. Da gab es tatsächlich jemanden, der ein Gedicht auswendig konnte und der sich die Mühe machte, es mir aufzuschreiben, obwohl er mich kaum kannte. Ein Geschenk für mich. So unerwartet, so wunderbar. Da ging jemand das Risiko ein, sich lächerlich zu machen vor anderen, auch vor mir. Aber ich hätte nie gespottet über ein Gedicht, du hast es gewusst, du scheinst mich doch zu kennen. Du ahntest nicht, welches Glück du mir in die Hand gelegt hast. Ich hielt ganz still und wollte doch laut jubeln. Das Glück aber ist wie ein Schmetterling, zart, kostbar und selten. Du darfst dich nicht wild bewegen, darfst nicht danach fassen, nur schauen, fühlen, in dich aufnehmen, als Erinnerung bewahren. Du musst dich zurückhalten in deiner Gier des Besitzens-wollens. Auch einen Schmetterling zerstörst du, wenn du ihn festhältst. Augenblicke, kostbare und unwiederbringliche währt das Glück. Es lässt sich nicht erzwingen, erwarten musst du es.
Ich verbarg meine Gefühle, um dich nicht zu verletzen. Auch du hattest dich hinreißen lassen von deiner Begeisterung für Hölderlin, du hattest vergessen wie ungewöhnlich es ist, ein Gedicht zu verschenken, heute in unserer Zeit, brieflos, wortlos, sprachlos. Jetzt, Sekunden später, ich hielt das Blatt schon in der Hand, da wurde dir bewusst: du hast dich mir gezeigt, bloß und verwundbar, dich mir ausgeliefert. Fürchtest du doch meinen Spott?
Du, der du so gerne spottest und dich über vieles lustig machst, was hast du zu verbergen? Inzwischen weiß ich es, von Hölderlin erfuhr ich, was ich schon längst erspürt hatte über die Scherz-haften, „Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müsst! O Freunde: mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“
Auch du ein Verzweifelter? Spott und Scherz als Maske. Du hast sie kurz abgenommen. Sie wiegt wohl schwer und ist auf Dauer unbequem. Ehrlich gesagt, ich habe es satt, mich hinter Masken zu verstecken, es ist mir auch zu anstrengend. Da habe ich sie einfach abgelegt, wollte nur einmal wieder ich selbst sein, hatte keine Lust mehr, mich auf deine Spötteleien einzulassen, hatte genug gelacht, ohne meinen Schmerz zu vergessen. Was gingst du mich an? Ein Fremder. Aufgewachsen hinter einer Mauer. Freiheit erst spät erfahren. Gewohnt dich zu verstecken, dich nicht zu zeigen. Ich aber stand vor dir, ungeschützt und behauptete ganz ernst: Ich mag Hölderlin, als Mensch finde ich ihn sympathisch. Noch heute sehe ich den erstaunten Ausdruck deiner Augen, erwartete schon deinen Spott, ging in Abwehrstellung, zur Verteidigung bereit: Ja, ich mochte ihn. Hölderlin, der mich rührte, von dem ich glaubte, ihn zu verstehen.
Seine Krankheit, seine Sehnsucht nach Liebe.
Das war mein Hölderlin. Jetzt kannst du lachen. Aber Hölderlin war unser gemeinsamer Nenner: Wir trafen uns einen winzigen Augenblick bei Hölderlin. Er schreibt schöne Gedichte sagtest du, ganz ohne Spott.
Als Mensch mag ich ihn, wiederholte ich mechanisch, denn eben hattest du deine Maske abgelegt und ich erschrak, weil wir uns so nahe waren.
Du bist wohl auch erschrocken. Kein Wort haben wir mehr darüber gesprochen. Ich hätte dir so gerne gesagt, wie dankbar ich dir für dieses geschenkte Glück bin, aber da war eine Kluft zwischen dir und mir. Ich verstand, du wolltest nicht mehr daran erinnert werden. Du konntest ja nicht wissen wie es mir in diesem Sommer ging. Hattest keine Ahnung vom Unglück dieser Tage.

Sonntag
Draußen diese erstickende Hitze, die erst am Abend einigermaßen erträglich wurde und die Sehnsucht nach frischer kühler Luft in der Nacht und trotz dieser Hitze eine innere Kälte, ein Absterben der Hoffnung auf Leben, auf zufriedenes Leben. Der Wunsch ab und zu Glück spüren zu dürfen. So lebte ich dahin, schleppte mich durch die Tage und fürchtete die Nächte. Scherben um mich. Ich stand da, hilflos wie ein Kind, dem eine kostbare Vase zerbrach, aus unersichtlichen Gründen zersprang.
Alles von dem ich annahm, es wäre gut, löste sich auf, wurde unfassbar. Beziehung wurde zum Gezogenwerden, Nähe zu Bedrohung. Wechselspiel von Hoffnung und Verzweiflung. Da war keiner, der mich hielt, da war Einsamkeit und Schweigen. Ich habe gelesen, es gibt viele Todesursachen. Schweigen gehört auch dazu. Wer schweigt, erdrückt den anderen, saugt ihn aus, macht ihn leer. Du stehst vor einer Mauer. Da verweigert sich einer. Worte prallen ab wie Pfeile, die auf Eisen stoßen. Schweigen tut weh, erstickt die Freude, macht stumm.

Ich aber wollte leben, mich mitteilen. Mit wem aber teilen, wenn der, an den du jahrelang geglaubt hast, dem du vertraut hast, plötzlich als Fremder vor dir steht? Von dem allen ahnst du nichts. Das ist auch gut so. Wenn ich meine, in Hoffnungslosigkeit zu versinken, dann nehme ich dein Gedicht in die Hand und warte darauf, dieses Glücksgefühl wieder erleben zu dürfen. Unser Hölderlin. Ich nenne dich Bruder Hölderlin. Wie gerne hätte ich einen Bruder, einen der mit mir spricht und mir auch zuhört. Miteinanderlachen können wir schon. Aber oft lache ich, um nicht zu weinen. Je trauriger, je verzweifelter ich bin, desto heftiger mein Lachen. „Lerne lachen, ohne zu weinen.“ Ob ich Tucholsky nun endlich begriffen habe? Stell dir vor, als ich beim Augenarzt über brennende Augen klagte, wurde ein Test gemacht. Ergebnis: zu wenig Tränenflüssigkeit. Da war mir fast zum Lachen, denn ich fragte mich, wohin meine Tränen verschwunden sind. Ausgerechnet ich, die dachte in einer Flut ungeweinter Tränen ertrinken zu müssen, ich hatte zu wenig Tränenflüssigkeit.

Wieder errichten wir Fassaden. Wieder verstecken wir uns. Müssen wir uns schützen? Wovor eigentlich? Ich hätte dich gerne näher gekannt, mehr von dir wissen wollen. Du erzählst nicht viel von dir. Nur einmal hast du erwähnt wie enttäuscht du von unserer Bürokratie warst. Mit den Polizeimethoden in der ehemaligen DDR hast du sie verglichen. Auch im Westen ist nicht alles in Ordnung, sind nicht alle gleich.
Ich phantasiere mir dein Leben hinter der Mauer. Seit deiner Geburt warf sie ihren Schatten in deine Welt. Nun, da sie endlich nicht mehr ist, wachsen Mauern zwischen den Menschen, Mauern des Misstrauens. Du fürchtest den Spott und die Missgunst jener, die auf der anderen Seite der Mauer groß geworden sind. Hölderlin stand plötzlich verbindend zwischen uns.
Aber ich verstehe, du willst nichts mehr davon wissen. Manchmal kann ich darüber lachen, wenn ich mir versuche vorzustellen wie dumm ich wohl geschaut habe, als du mir dieses Gedicht gegeben hast. Mein Gott wie peinlich. Am liebsten würde ich mit dir darüber lachen. So richtig laut, einfach nur lachen.

Dienstag
Aushalten. Das Wort schlechthin. Verhalten. Erhalten. Behalten. Anhalten. Festhalten. Aushalten – wohl die schwierigste Form des Haltens. Wohin aber, wenn du meinst das Leben nicht mehr aushalten zu können? Abende lang sehe ich mich noch durch Mooslandschaft fahren. Allein, unruhig, auf der Flucht, in die Pedale meines Fahrrades tretend. Meinen Körper spüren, Kraft sammeln. Alles Denken vermeiden. Offen sein für Bilder, Eindrücke, Gerüche. Der erdherbe Duft der Pappeln, die so stark in den Himmel ragen, so zuverlässig stehen sie da. Ihr Blattgeflüster begleitet mich. Ebene Wiesen. Grüne Weite vor meinen Augen und plötzlich unzählige Sonnen. Ich fahre staunend vorbei an diesem Feld. Sonnenblumen, hochaufgerichtet strecken sie ihre Köpfe empor, verschenken ihre Schönheit tausendfach. Dieses Gelb, diese Wärme, dieses Glück. Strahlend, einen Sommer lang. Dann stehen sie dunkel und düster auf den Feldern und du musst in deinen inneren Bildern kramen, um sie wieder zum Leuchten zu bringen.
Eine mit nach Hause nehmen, eine kleine Sonne, eine eigene Sonne haben für jeden Tag, eine begrenzte Zeit wenigstens. Dieses große Wunder zu berühren, mit den Augen streicheln, aufnehmen und nicht vergessen. Nie würde ich eine brechen, verlet-zen. Aber eine verstümmelte, halb abgeschnittene Sonne nahm ich mit, wollte ihr das Leben retten und auch mir.
Und wieder Hölderlin. Hölderlin der Wanderer, der einsam Dahinziehende. Der Verfolgte. Der Kranke im Turm. Hölderlin ist nicht mehr und doch, er wirkt. Du aber, den ich Bruder Hölderlin nenne, du aber hast ihn gekannt und du schweigst.

Montag
Was ist bloß in mich gefahren? Wie komme ich dazu ihr ein Gedicht aufzuschreiben? Noch dazu eines von Hölderlin. Ich kenne mich nicht mehr. Ich will sie nicht mehr sehen. Sie wird mich für verrückt halten, sie wird mich auslachen, den anderen das Blatt zeigen, mich lächerlich machen. Und rot geworden bin ich auch, sie hat es gemerkt. Am liebsten wäre ich auf und davon. Ich setze mich hin und schreibe ein Gedicht auf, während eines Vortrages. Gut, die anderen haben sicher gedacht, ich schreibe mit. Das ist nicht aufgefallen, aber dann… Ich drehte mich um und schenkte, – mein Gott, ich sagte doch tatsächlich: Ich schenke dir ein Gedicht, – schenkte ihr vor all den anderen dieses Gedicht. Sie schaute mich völlig verblüfft an, griff automatisch danach, warf einen kurzen Blick darauf und dann, dann strahlten ihre Augen so plötzlich, dass ich erschrak vor Freude und vor Angst. Wie traurig musste sie doch gewesen sein, dass sie sich so über ein Gedicht freuen konnte? Wir haben schon viel gelacht, aber ihre Augen blieben ernst. Nur heute, als sie von Hölderlin sprach, da spürte ich zum ersten Mal, von ihm lässt sie sich nicht abbringen. Vor ihr brauche ich nicht so spöttisch zu sein, sie hat mich längst durchschaut. Ihr Lachen ist nicht echt, aber ich wage nicht zu fragen wie es ihr geht. Ja, ich habe Angst mich lächerlich zu machen. Einmal sagte sie, die Jahre älter ist als ich: Bist du noch jung. Sie meinte es nicht abwertend, nein, es klang wehmütig, als wollte sie damit sagen, du kannst noch vieles besser machen als ich. Du bist frei, keine Familie, keine Bindung, mach was draus.

Dienstag
Ich kann ihr doch nicht einfach aus dem Weg gehen. Wie wird sie bei unserer nächsten Begegnung reagieren? Es wäre schön, mit ihr weiter über Hölderlin zu sprechen, aber zu gefährlich. Wieso eigentlich? Es kann doch nicht ungewöhnlich sein, mit jemand über einen deutschen Dichter zu sprechen. Aber ich spüre das Besondere an diesen Gesprächen. Da ist diese unerwartete Gemeinsamkeit im Denken und Fühlen. Angst? Habe ich tatsächlich Angst davor, mit einer Frau über Gedichte zu sprechen? Mit jeder anderen wäre es unmöglich oder auch möglich, wenn, ja wenn ich mich in sie verliebt hätte. Ich kann meine Gefühle nicht einordnen. Zum ersten Mal erlebte ich jemand, der mich ernst nahm, den mein Spott nicht abschreckte, der nicht mitleidig lächelte, sobald von der ehemaligen DDR die Rede war. Da war echtes Interesse an dem Leben hinter der Mauer.
Sie war nie dort, versuchte sich eine konkrete Vorstellung davon zu machen. Über mein Leben dort wollte ich zunächst nicht reden, zu oft schon wurde ich abschätzig behandelt, spürte das Überhebliche in der Meinung vieler Leute aus dem Westen.
Sie schauen auf die Ossis herab, machen dumme Witze über uns und haben doch keine Ahnung von uns. Sie fühlen sich mächtig, sie zahlen ja für uns, wir müssen dankbar sein. Solidaritätszuschlag. Das Wort allein ist ein Schlag ins Gesicht. Zuschlag. Noch ein Schlag dazu zu den vielen, die wir längst erhalten hatten. Aber auch wir im Osten haben unseren Stolz, wollen uns nicht beugen, kriecherisch um Almosen betteln. Nein. Wir wollen als gleichwertig anerkannt werden. Die Mauer ist weg. Neue Mauern sind da. Diesmal wird es länger dauern, sie aus der Welt zu schaffen. Sie werden nicht bewacht, nicht kontrolliert. Sie sind unsichtbar, aber schmerzlich spürbar, nicht fassbar. Sie entstehen unaufhörlich.
Da begegnet sie mir, blickt über diese Mauern, ignoriert sie und will wissen, wie es sich damals studierte, hinter der Mauer. Studienaussichten. Möglichkeiten. Berufe. Alles war möglich, aber nicht für alle und nur zu bestimmten Bedingungen. Begrenzte Stoffauswahl: Goethe, Schiller, Hölderlin. Das waren erlaubte Autoren. Als ich Hölderlin sagte, blitzte ein freudiges Erstaunen aus ihren Augen. Hölderlin? wiederholte sie ungläubig. Schon hatten wir unser Thema: Hölderlin, der Film, Hölderlin als Mensch und als Dichter. So ahnungslos war sie, konnte ja nichts  wissen von meiner intensiven Beschäftigung mit diesem Dichter. Darüber ließe sich gut reden. Gewiss. Sie wäre begeistert. Sofort. Ihre Begeisterung steckt an, strahlt aus den Augen, verführt zum Mitlachen. Ja, es ist ihre Begeisterung, die die Unterschiede ausgleicht zwischen uns. Ihr Alter? Darüber habe ich nie nachgedacht. Die Begeisterung macht sie jung. Sie erschrak selbst vor ihrer ungestümen Freude, wollte sie vor mir verbergen, aber ich hatte sie schon gespürt.

Mittwoch
Morgen werde ich sie wiedersehen. Die Vorlesung geht weiter. Ich kann ihr nicht ausweichen und will es auch nicht.
Rot geworden bin ich, wie ein kleiner Junge, den man bei einem Missgeschick, einer Heimlichkeit, etwas Verbotenem ertappt. Schamröte? Ich muss es vergessen. Vielleicht hatte sie es nicht bemerkt. Doch. Ich habe das Erstaunen in ihren Augen gesehen, ehe es ihr gelang, die aufwogende Freude, die sie so plötzlich traf zu verbergen. Sie fürchtete das Gleiche wie ich: missverstanden zu werden. Mein Gott, hoffentlich fasst sie es nicht als Liebeserklärung auf. Die Zeit der Gedichte ist lange vorbei. Es bleibt also ungewöhnlich, jemandem ein Gedicht zu schenken, noch dazu, ohne zu wissen, wie der andere es aufnehmen wird.
Du, am liebsten hätte ich dich kurz umarmt, ganz spontan, aus Freude über deine Freude. Aber auch das hätte falsch gedeutet werden können. Von dir. Eigentlich kenne ich dich nicht, habe dir nie Fragen gestellt. Wollte ich nichts von dir wissen? Doch, aber sicher nicht die Wahrheit. Natürlich wusste ich einiges von dir, hatte es mir zusammengereimt aus Gesprächsfetzen, die ich auffing und neu verknüpfte zu deiner Geschichte. In meinen Gedanken sitze ich mit dir irgendwo. Und wir reden über Hölderlin, reden, reden dabei auch über uns. Und wir schweigen. Gemeinsam.

Donnerstag
Es wird nun Zeit, dich wieder aus meinen Gedanken zu streichen. Zu lange schon bestimmst du sie. Aber das wird schwer werden. Dein Bild hat sich längst eingenistet, fest verwoben mit meinen Gedanken. Immer wieder taucht es auf.
Erinnerst du dich noch an das Kompliment, das ich dir damals machte? Wir in der Pause auf der Terrasse des Cafés, erschöpft von der Hitze und der Anstrengung des Zuhörens, Mitdenkens. Du auf einem Stuhl, Beine ausgestreckt, Gesicht der Sonne entgegen, Augen geschlossen.
Da wäre ich dir gerne näher gewesen. Und ich sagte doch tatsächlich, die Farben deiner Bluse sind wunderbar. Und du, öffnetest die Augen, schautest dich um, verwundert, bis du endlich bemerktest, dass ich von deiner Bluse redete. Deine Antwort zeugte von deiner Verwirrung. Die Farben sind praktisch, murmeltest du, wegen der Kinder und sie schmutzen nicht so. Deine Nachbarin hat zustimmend genickt und wieder versanken wir alle drei in Schweigen, Augen geschlossen.
Zu gerne hätte ich deine Gedanken gewusst. War ich denn verrückt an diesem Tag? Verrückt nach einer echten Begegnung?

Samstag
Weißt du eigentlich, dass ich manchmal Zweifel habe an deinem Gedicht? Ich frage mich, ob es wirklich von Hölderlin ist. Nun wirst du mich auslachen, deine Augen werden funkeln vor Spott, aber ich liebe dieses Lachen. Dein Lachen. Es verbreitet Wärme, gibt mir Trost. Zur Zeit habe ich wenig zu lachen und vor allem keinen, der mit mir lacht, dabei würde ich so gerne lachen. Ich habe mir doch tatsächlich ein Gesamtwerk von Hölderlin gekauft, es war nicht billig, aber ich wollte dieses Gedicht sehen, unbedingt. Seit Tagen blättere  ich nun schon darin. Lange suchte ich, immer wieder, aber dein Gedicht ist unauffindbar. Jetzt bin ich doch tatsächlich enttäuscht. Ich schimpfe mit mir, fühle mich kindisch.
Ich wollte mich unbedingt bei dir bedanken, bei unserer nächsten Begegnung. Ganz locker wollte ich darüber reden, dich und mich nicht in Verlegenheit bringen, befürchtete ich doch diesmal selbst zu erröten. Und trotzdem, ich musste dir einfach sagen, dass mir das Gedicht gut gefällt. Alles sollte leicht klingen, wie nebensächlich, aber ich stotterte ziemlich unbeholfen und schämte mich hinterher. Du tatest auch so unbeteiligt, als ob du es längst vergessen hättest. Welches Gedicht, fragtest du. Mein Gott, er fragt welches Gedicht, und ich, die das Gedicht inzwischen mühsam auswendig lernte, bekam nur stockend heraus, das von der Rose. Ich wollte wissen, wie es heißt, denn du gabst es mir ohne Titel. An die Rose, war deine gleichgültige Antwort und ich fühlte mich in diesem Augenblick hilflos und verraten. Draußen auf der Terrasse blühten die Rosen, verströmten üppig ihren zarten Duft und ich ging hin zu einer, neigte mein Gesicht ihrer Blüte entgegen, ganz nah, verbarg mich vor dir und verbarg auch meine Enttäuschung.
Alles, was vorher so einfach war, ist jetzt belastet. Dir ist es unangenehm. Du willst nicht mehr daran erinnert werden. Ich muss es akzeptieren, mich alleine freuen. Hätte gerne einen, mit dem ich teilen kann. Du aber, du kennst mein Dunkel nicht. Mir scheint es manchmal als ob ich in einem Tunnel stecke. Es gibt Tage, da leuchtet ein winziges Licht am Ende auf, ein Hoffnungsschimmer. An anderen Tag herrscht Düsternis. Dein Gedicht war mir ein Leuchtfeuer, eine Kraft, die mich ein Stück aus dem Dunkel zog. Danke.
In unserer Zeit fragen sich viele, was es bringt, für einen anderen etwas zu tun.. Du nicht. Du hast dir nicht lange überlegt, was es bringt. Ich spürte das sofort. Da war keine Absicht, steckte kein Plan dahinter. Du musstest dieses Gedicht schreiben, weil dir danach war. Nun schämst du dich. Zu spontan, zu ehrlich warst du. Wie gerne hätte ich deine Röte ganz zart weggewischt, ein Finger hätte genügt. In diesem Augenblick habe ich dich geliebt. Das spürte ich wie den Funkenschlag zweier Steine, die man aneinander klopft. Zufällig.

Sonntag
Nun wird es also keine Gespräche mehr geben. Meine Vorstellung von Nähe, eine zerplatzte Seifenblase. Zu viel unbenanntes Gefühl ist uns im Weg, stört. Aber Gefühle lassen sich nicht auf Kommando wegfegen. Wir beide müssen leben mit ihnen. Wieder bleibt Schmerz.
Beinah wärest du mein Bruder geworden, mein Freund. Wir wagen beide nicht mehr über Hölderlin zu reden aus Angst vor Missverständnissen. In meiner Phantasie jedoch unternehme ich weite Reisen mir dir und Hölderlin. Marschiere in einer Traumland-schaft und manchmal brauche ich lange, um den Weg zurückzufinden, zurück in die eisige Welt einer Ehe aus der alle Wärme floh.
Verzweifelt suche ich den Funken, den ich noch vorhanden glaube, um das Feuer zu retten. Feuermachen ist eine Kunst. Vorsicht ist geboten. Nur trockenes leichtes Material brennt, schürt den Funken, lässt ihn wachsen. Du darfst nichts Schweres Erdrückendes auflegen, sonst erstickst du das Flämmchen.
Was aber erwärmt eine erkaltete Beziehung? Was zählt, wenn du dich im Kreise drehst und schon den Schwindel fühlst, bevor du schwankend zum Stehen kommst und jemand suchst, um dich festzuhalten. Aber da ist kein Halt. Alles dreht sich und ich möchte aussteigen, weggehen, fliehen und kann doch nicht anhalten.
Ich fliehe. Ich fliehe in meine Träume. Täglich ein Zurückziehen vom Unerträglichen. Flucht in eine erträgliche Welt. Gibt es Freundschaft,  Seelenverwandtschaft zwischen Mann und Frau? Immer wieder diese Frage, deren Antwort ich suche.

Montag
Loslassen. Zulassen. Verlassen. Auslassen. Loslassen eine der schwersten Formen von Lassen überhaupt. Loslassen gleicht einem Fall ins Unbekannte. Loslassen erfordert Mut, Vertrauen und Zuversicht, gleicht einem Hoffnungsschimmer. Loslassen, dem anderen die Freiheit schenken, ihm seine Entscheidung überlassen. Loslassen, eine Form des Zurücklassens. Ich werde es versuchen. Ich lasse dich los. Entlasse dich.
In meinen Träumen aber gehörst du zu mir und zu Hölderlin. Gespräche sind möglich und auch Zärtlichkeit, die ich so vermisse. Zärtlichkeit, zartes Umgehen miteinander, weil einem der andere wertvoll ist. Behutsamkeit der Berührung, Beweise ge-genseitiger Achtung. In unserer Zeit zählt das alles wenig. Liebe wird gleichgesetzt mit Sexualität. Lebe ich wirklich falsch, wenn ich mich danach sehne, einen echten Freund, einen Vertrauten zu haben? Ich habe keine Freunde. So ist es. Immer wieder stelle ich fest, wie einsam ich mich fühle, wie wenig ich verstanden werde von Menschen, die ich als Freunde wähne. Bittere Erkenntnis. Alle Freuden, alle Schmerzen ertrage ich allein. Möchte keinen belasten mit meinem Unglück. Wir leben in einer Spaßgesellschaft. Es ist verpönt, traurig zu sein, sich ernsthafte Gedanken zu machen. Take it easy. Aber es ist nicht alles leicht zu ertragen. Andere wollen nicht gestört werden. Don’t worry, be happy. Auch so ein Spruch, der Verdrängung schürt. Aber umgekehrt ist selten jemand zu echter Freude fähig. Stets wird meine Begeisterung gedämpft. Kaum einer teilt meine Freude mit mir. Beinahe hatte ich schon gehofft in dir endlich den Menschen zu finden, der mein Bruder sein wird. Es war wohl nur eine kurze Begegnung. Unsere Lebenswege kreuzten sich an einer Haltestelle. Haltestelle Hölderlin. Wir warteten bei-de auf die Weiterreise. Ziel unbekannt. Unterwegs in verschiedene Richtungen. Jeder kehrt wieder zurück in sein Leben. Die Spuren aber werden bleiben. Dein Gedicht in meiner Hand, an geheimer Stelle aufbewahrt, Zeichen dafür, dass Nähe möglich war, eigenwilliges  Beweisstück. Vielleicht spottest du wieder, aber ich ertrage es, denn ich durfte hinter deine Maske blicken und habe deine Verwundbarkeit erkannt. An manchen Tagen gibt mir das inzwischen vergilbte Blatt mit den von dir geschriebenen Zeilen den Mut, den ich brauche, um in schwierigen Situationen bestehen zu können.
Ich berühre das Blatt und berühre dich. Gelebte Freude. Romantikerin hast du einmal gespottet über mich. Das ist schon lange her. Zu lange. Ein phantastischer Traum. Damals in der Hitze und Kälte jenes Sommers.

Wieder ein heißer Sommer. Ich schreibe, schreibe auf, was du längst vergessen hast, dein Gedicht.

Und ewig trägt im Mutterschoße
süße Königin der Flur
dich und mich die stille große
allbelebende Natur!
Röschen, unser Schmuck veraltet
Stürm entblättern dich und mich
doch der ew’ge Keim entfaltet bald zu neuer Blüte sich.*

Adieu.
*Friedrich Hölderlin: „An die Rose“

Versuch einer Erklärung

12 Dienstag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik

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Droge, Drogen, Erinnerung, Erklärung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gedicht, Gefühle, Krankenhaus, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Psychologie, Rauschgift, Rauschmittel, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Tod, Vorstellungen

VersucheinerErklärung_sm

Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich hier auf den Stuhl. Ich kann nur leise sprechen, das hat man Ihnen sicher schon gesagt. Sind Sie erstaunt über mein Aussehen? Doch, ich merke es Ihnen deutlich an, nein, versuchen Sie nicht dagegen zu reden. Wahrscheinlich habe ich Sie durch mein Äußeres erschreckt, aber ich habe keinen Spiegel und es interessiert mich auch nicht wie ich aussehe. Wozu auch, mir ist alles so gleichgültig. Am liebsten würde ich schlafen, schlafen, Tag und Nacht und irgendwann möchte ich erwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.

Aber Sie wollen mit mir reden, keine Angst, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Fangen Sie also an, ehe ich zu müde werde.

Sie wollen wissen, ob es Absicht war, was sich an jenem Abend ereignet hat? Darauf kann ich keine Antwort geben, noch nicht, denn ich bin mir selbst darüber nicht im Klaren. Vielleicht interessiert es Sie, mehr über diesen Tag zu erfahren, Sie könnten sich dann selbst Ihre Meinung bilden. Ja? Es ist eigenartig, aber irgendwie vertraue ich Ihnen. Bei allen anderen habe ich mich geweigert darüber zu sprechen. Aber ich spüre, dass ich endlich reden muss, um nicht daran zu ersticken. Bitte hören Sie nur zu und geben Sie keine Kommentare ab, schreiben Sie auch nichts mit, sonst könnte ich nicht sprechen. Sie sind einverstanden? Gut. Ich nehme an, man hat Ihnen schon eine Menge über mich erzählt und Sie haben eine gewisse Vorstellung von mir. Sicher wissen Sie noch nicht wie ich ihn kennen gelernt habe.

Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Hosengeschäft, probeweise. Was ich später machen sollte, wusste ich damals nicht. Meine Eltern erwarteten, dass ich mich um eine gute Ausbildung bemühen werde, aber ich wollte mir dazu Zeit lassen. Kurz vor Ladenschluss sah ich ihn zum ersten Mal. Mein erster Eindruck? Ich hielt ihn für eingebildet, gut aussehend, ja, aber zu arrogant. Er sah sich im Laden um, betont lässig, ohne etwas zu kaufen. Wenige Tage darauf, stand er wieder im Laden und wollte von mir beraten werden. Ich versuchte, ihn so freundlich wie die anderen Kunden auch zu behandeln. Er fand nichts Passendes. Eine Woche lang erschien er jeden Tag und allmählich schwand mein innerer Widerstand und ich willigte ein, eines Abends, mich mit ihm zu treffen. Ich war fest entschlossen, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Abwarten wollte ich, wie er sich verhalten würde. Aber schneller als erwartet hatte er mich von sich überzeugt. Da fällt mir ein wie er mir eine Rose schenkte, die er zuvor hastig von einem blühenden Strauch abgerissen hatte, zufällig hatte ich ihn dabei beobachtet. Verlegen lächelnd schleuderte er die Rose über den Ladentisch in meine Hände. Überrascht hielt ich die zarte Blüte fest und atmete ihren zarten Duft ein, glücklich. Jetzt denke ich, vielleicht war alles Berechnung und ich war zu leichtgläubig. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich von ihm abgestoßen fühlte, von seiner kalten Sprache, seiner Verachtung anderen gegenüber. Nach und nach erfuhr ich mehr von ihm und begann langsam zu begreifen, ein bisschen wenigstens wie er so geworden war.

Ich wohnte noch bei meinen Eltern und er bei seiner alleinstehenden Mutter. Wo also konnten wir uns treffen außer in Cafes und später dann in üblen Kneipen, in denen er mit abstoßenden Leuten bekannt war, denen ich zunächst am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Immer wieder überfiel mich Furcht vor meinem eigenen Verhalten. Wie konnte es geschehen, dass ich innerhalb kürzester Zeit in Kneipen verkehrte, in die ich mich vorher nie gewagt hätte? Ich verstand mich selbst nicht. Meine Eltern hatten wohl auch Angst vor meiner Veränderung. Sie drängten mich, diese unglückliche Freundschaft wie sie es nannten, aufzugeben. Aber da war es schon zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück, obwohl ich es damals gerne gewollt hätte.

Ob ich wusste, dass er verheiratet gewesen war? Ja, irgendwann hatte er darüber geredet, nicht viel, aber ich spürte, das hatte er nicht verkraftet, dass seine Frau die Scheidung gewollt hatte. Nein, Gründe nannte er mir nicht. Sie scheinen darüber mehr zu wissen als ich? Sie schweigen. Mir wurde selbst bald klar, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Sie musste es tun, um sich zu retten, sonst wäre es ihr ergangen wie mir. Sie verstehen nicht, wie ich das meine? Seit er arbeitslos war, hatte er angefangen erste Erfahrungen mit Drogen zu machen und wie es dann weiterging, haben Sie sicher schon lange in Erfahrung gebracht, nehme ich an. Nein? Er konnte bald nicht mehr ohne Drogen leben. Er träumte davon, sich große Mengen zu beschaffen, um möglichst lange in seiner neu entdeckten Welt leben zu können, frei von aller Verantwortung und den Erwartungen der Gesellschaft. Sein Ziel war, tun und lassen zu können, was er wollte und wann er es wollte.

Sie meinen, das sei die Welt eines Kleinkindes. Ja, gerade das dachte ich auch manchmal. Die Droge als Schnuller sozusagen, der pure Zufriedenheit und Lustgewinn garantierte sobald ihn das Baby im Mund hatte. Flucht nach rückwärts, um sich allen Anforderungen zu entziehen.

Aber er war kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen, trotz seiner herausgeputzten Männlichkeit, die er gerne zur Schau stellte durch seine auffällige Kleidung, mit denen er seine Muskeln betonte. Hinter seinem unnahbaren Verhalten verbarg sich, gut getarnt, einsame Schwäche.

Bis heute verstehe ich nicht wie es passieren konnte, dass auch ich Erfahrungen mit Rauschgift machte. Lange habe ich mich geweigert, hartnäckig. Ich könnte auch ohne dieses Zeug leben, habe ich verzweifelt geschrien, wenn er immer wieder darauf bestand, dass ich mit ihm in seine verrückte Welt flüchten sollte, um dort frei zu sein. An Trennung dachte ich oft in dieser Zeit. Längst war ich abhängig von ihm und bald würde ich es auch von Drogen sein. Was also hinderte mich an einer endgültigen Trennung von ihm? Angst, ich hatte einfach Angst vor dem Alleinsein. Irgendwie hoffte ich wohl  immer noch durch meine Zuneigung einen gewissen Einfluss auf sein Leben, das in eine Sackgasse geraten war, nehmen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung wie aussichtslos es war, ihn aus dieser Sackgasse zurückholen zu wollen. Allein, ohne fremde Hilfe wäre das unmöglich gewesen, teilten mir die Ärzte später mit.

Wie ich es empfunden habe, abhängig von Drogen zu sein? Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht wie die Fahrt mit einem Ballon. Man hebt lautlos und langsam ab, lässt alles Unangenehme wie Ballast unter sich. Mit dem unaufhörlichen Höhersteigen verkleinern sich automatisch alle Probleme, werden beinahe unsichtbar. Die Landung erfolgt dagegen oft sehr unsanft. Du wachst auf und alles ist wieder sichtbar, deutlicher und erdrückender als zuvor. Unlösbar all deine Probleme und du hast nur den einzigen Wunsch, wieder zu starten, um abzuheben, höher als beim letzten Mal.

Die Zeit drängt, ich weiß. Warten Sie noch ein bisschen, bitte. Sie sind wirklich nicht ungeduldig? Ich glaube Ihnen. Alle anderen, die kamen, um mich zu befragen, hatten keine Geduld mit mir. Da hatte ich beschlossen, mich nicht ansprechbar zu zeigen. Regungslos, schweigend lag ich im Bett, ohne sie zu beachten.

Verärgert mussten sie schließlich wieder gehen. Tagelang versuchten sie, mir eine Antwort zu entlocken, aber ich weigerte mich. Eine Schwester, die echte Anteilnahme an mir zeigte, kam mir dabei zu Hilfe. Stets betrat sie wenige Minuten nach dem Besuch der Herren, zwei in Uni­form und zwei in Zivil, das Zimmer, um an meiner Infusion eine Änderung vorzunehmen und so einen Grund zu finden, die strengen Herren zu verabschieden und sie auf die nächsten Tage zu vertrösten.

Ich bin froh, dass heute Sie gekommen sind. Wer kam auf die Idee, die Polizei aus dem Spiel zu lassen? Die freundliche Schwester? Ja, das habe ich fast vermutet. Aber zurück zu Ihrer Frage. Absicht oder nicht? Hören Sie bitte weiter zu.

An jenem Tag genossen wir mit Freunden das herrliche Wetter und die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende. Schon am frühen Nachmittag lagerten wir an einem See. Wir grillten, tranken, badeten und waren sehr ausgelassen, zum Ärger der anderen Bade­gäste, die mit Unverständnis darauf reagierten und uns empört beschimpften. An diesem Tag hatte ich den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Heute noch, nur heute noch mache ich mit, dann werde ich ihm mitteilen, dass ich aussteigen werde aus diesem Milieu und auch aus unserer Beziehung. Aussteigen wie aus einem parkenden Auto, Tür auf, danke fürs Mitnehmen, die Fahrt war angenehm, aber ich muss nun in eine andere Richtung, Tür zu. Auf Wiedersehen. So wollte ich es machen. Nächtelang hatte ich gegrübelt und mit mir verzweifelt gekämpft. Letzte Chance, sagte ich mir und dachte dabei an seine geschiedene Frau, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, abzuspringen.

Wie gesagt, die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen. Ich versuchte, ein letztes Mal noch unbeschwert dabei zu sein. Am Abend war ich mit ihm allein, in seinem Zimmer. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, auszusteigen, ihm die Wahrheit zu sagen, ehrlich und schonungslos. Minute um Minute zögerte ich. Es lag vielleicht daran, dass er unerwartet seine harte Schale ablegte und ich ihm näher war als je zuvor. Er erinnerte mich an eine Zwiebel. Entfernt man ihre Schalen, eine nach der anderen, rückt man dem Herzen näher, aber immer leichter muss man dabei weinen. So empfand ich sein Entblättern, gefühlsmäßig meine ich, wenn Sie das verstehen können. Deutlich spürte ich, dass seine Arroganz verschwunden war und ich mich seinem Innersten näherte. Seine überraschende Zärtlichkeit verwirrte mich. Warum war er vorher selten so gewesen? Er hielt mich fest, aber sanft und ich legte meinen Kopf an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein, spürte seine Hand warm auf meinem Haar, fühlte mich geborgen. Ich brachte es nicht fertig, ihm meinen Entschluss mitzuteilen und so stieg ich nicht aus, denn ich saß im fahrenden Auto und wagte nicht, die Tür zu öffnen und mich hinausfallen zu lassen. Hätte ich es getan, wenigstens versucht. Vielleicht hätte er das Auto, Sie ahnen, was ich damit meine, angehalten, um mich aussteigen zu lassen, gefahrlos.

Diesen letzten Abend, von dem ich noch nicht wusste, dass es sein letzter werden würde, wollte ich also nicht verderben und schob die Aussprache mit ihm auf.

Er, der immer der Starke war, wirkte auf einmal so liebesbedürftig, brachte mich immer wieder ins Schwanken. Er hätte wunderbare Tabletten von seinem Freund, schwärmte er mir vor. Mit deren Hilfe könnten wir beide ein unvorstellbares Erlebnis in einer Phan­tasiewelt haben. Nein, sagte ich wiederholt. Zum Schluss aber trank ich gleichzeitig mit ihm das Glas Cola mit den aufgelösten Tabletten. Ach, es war ein verrückter Abend.

Aus dem Radio tönte leise Musik und wir ließen uns auf sein Bett sinken, eng aneinan­dergeschmiegt. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme seiner nackten Haut auf meiner Haut und begann langsam in einen Schlaf zu fallen, traumlos, aber unendlich tief, immer tiefer und tiefer, ohne je irgendwo anzukommen. Wie lange dieses Fallen in eine künstlich erzeugte Welt dauerte, ich habe keine Ahnung. Aber der Aufschlag kam, grausam hart.

Als ich erwachte, war ich geblendet von der unerwarteten Helligkeit. Weißgekleidete Gestalten umgaben mich mit besorgten Gesichtern. Meine Hand suchte ihn, aber sein warmer Körper war nicht neben mir, er war schon lange kalt, aber noch wusste ich es nicht. Ich wollte fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte. Nur allmählich konnte ich klare Gedanken fassen, auftauchen aus diesen Nebeln von Ahnungen, die mich umgaben und zur Unfähigkeit verdammten. Von weit her drangen beruhigende Worte und eine schmerzende Müdigkeit überfiel mich anfallsartig. Stunden später sprachen sie mit mir, erklärten, sie hätten meinen Magen auspumpen müssen, um mich zu retten. Retten wozu und vor was? Diese Frage quälte mich ständig. Aber die Ärzte hatten ihre Pflicht getan, mir das Leben gerettet und nun ließen sie mich allein mit der verdammten Erkenntnis, dass es ihn nicht mehr gab, nie mehr geben würde. Ob man mir gleich die Wahrheit gesagt hat? Nein, natürlich nicht, erst nach Tagen, als sie glaubten, ich könne sie schon verkraften. Sie versuchten mir in zunächst unverständlichen Worten beizubringen, dass sie auch bei ihm alles versucht hätten, aber zu spät gekommen seien. Es dauerte lange, bis ich begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten. Oft denke ich, bis heute habe ich sie nicht richtig verstanden. Gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen. Aber man erzählte mir, ich sei tagelang immer wieder in Bewusstlosigkeit gefallen und daher nicht sei es nicht möglich gewesen.

Sie schweigen. Habe ich genug gesagt? Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich wundern über mich. Vermutlich denken Sie, ich sei abgestumpft. Aber nein, das darf ich von Ihnen nicht behaupten, ich weiß. Sie meinen, ich sei verzweifelt und leide unter Selbst­vorwürfen. Das hat noch keiner vor Ihnen gedacht, vielleicht haben Sie recht. Irgendetwas in mir ist gestorben, mit ihm, ein wichtiger Teil in mir ist tot, gefühllos. Ich spüre meinen Magen, der sich verkrampft, spüre meinen Kopf, der schmerzt, aber mein Herz spüre ich nicht, nicht mehr. Das macht mir Angst vor dem Weiterleben, nicht tot und nicht lebendig. Die Ärzte nennen meinen Zustand „Schock“ und meinen, es werde bald wieder aufwärts gehen mit mir. Sie nicken zustimmend. Glauben Sie den Ärzten? Ja, vielleicht macht es ein wenig Hoffnung, die Aussicht auf Besserung.

Darf ich Ihnen zum Schluss noch ein paar Fragen stellen? Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm meinen Entschluss an jenem Abend mitgeteilt hätte? Wissen Sie, darüber denke ich stundenlang nach. Hätte ich das Unglück dadurch verhindern können? Und nun zurück zu Ihrer Frage, die auch meine ist, war es Absicht?

Wir beide können keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten, keine einzige. Sie haben recht, es ist sinnlos, darauf Energie zu verschwenden. Sinnlos, so sinnlos wie mein Leben mir jetzt erscheint. Sie sagen nein? Darüber müssen wir uns noch unter­halten, aber nicht sofort, denn ich spüre wie mich diese Müdigkeit wieder überfällt. Was ich mir wünsche, wollen Sie wissen. Ich habe nur einen Wunsch. Weinen, um wieder ganz lebendig zu werden. Weinen war mir unmöglich seit ich hier aufgewacht bin, gerettet sozusagen. Ich sehne mich danach zu weinen wie ein Kind, hemmungslos. Ein dummer Wunsch, nicht wahr? Nein, Sie lächeln zum ersten Mal. Was ist wohl wichtiger zu weinen oder zu lachen? Beides. Nun müssen Sie gehen, ich weiß. Vielen Dank für das Taschentuch, aber warum legen Sie es auf mein Bett? Weil ich weine, sagen Sie.

Mahlzeit

02 Samstag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Lyrik

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Schlagwörter

Gedanken, Gedicht, Gefühle, Lyrik, Mahlzeit, Psychologie

Mahlzeit_small

Ich freue mich auf den schön gedeckten Tisch,
ein schmackhaftes Essen erwartet mich,
verlockender Duft gerät in meine Nase,
meine Stimmung steigt, ich setze mich, bereit
die Mahlzeit zu genießen,
aber
kaum stehen die dampfenden Schüsseln auf dem Tisch,
kaum habe ich den ersten Bissen gekostet,
kaum wollte ich mich am Essen erfreuen,
kaum wollte ich ein Lob aussprechen,
dann
geht es los:
in allen Einzelheiten erfahre ich,
wann das Fleisch gekauft wurde,
wo, um wieviel Uhr, zu welchem Preis,
dass die Menge viel zu viel sei,
aber trotzdem alles zu verwenden, kein Problem
in den nächsten Tagen,
das Rezept sei ganz einfach,
mache überhaupt keine Arbeit,
sei gerne zubereitet, ganz ehrlich, ganz bestimmt,
alles ohne Schwierigkeiten,
wirklich gern gekocht,
aber:
schmeckt es dir nicht,
du isst ja gar nichts, magst du das etwa nicht,
ah, du kennst das nicht, noch nie gegessen,
unglaublich, dabei so einfach zum  Zubereiten.
Ich protestiere, höflich zuerst, verzweifelt,
gewiss, es schmecke vorzüglich, hervorragend.
Ich übertreibe, höflich, schätze die Einladung,
weiß, was mir erspart bleibt,
stundenlanges Stehen in der Küche,
Tisch decken, servieren, abservieren, aufräumen.
Ich würde gerne das arbeitslos errungene Essen genießen,
wäre da nicht ständig diese unterschwellige Aufforderung
übermäßiges Lob zu spenden.
Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise, alles gelungen
bis auf Kleinigkeiten:
es fehlt ein Quäntchen Aufmerksamkeit,
eine Prise Verständnis,
eine Messerspitze Humor,
ein Löffelchen Interesse,
ein Tropfen Teilnahme
ob ich noch Salz brauche,
nein danke,
mein Magen ist übersatt,
trotzdem stehe ich auf vom Tisch,
habe gegessen, getrunken
und doch
mein Heißhunger nach echter Zuwendung
ist geblieben
und ich weiß mir kein Rezept, ihn zu stillen.
Du?

Barids Bruder

01 Freitag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte

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Schlagwörter

Flüchtlinge, Foto, Fotograph, Gedicht, Krieg, Kriegsberichterstattung, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Preis, Preisgeld, Psychologie

BaridsBruder_small

Die ersten Besucher schlenderten mit neugierigen Augen auf der Suche nach bekannten Gesichtern durch den festlich beleuchteten Saal. Vom kalten Büffet breitete sich bereits ein unwiderstehlicher Duft verlockend im Raum aus. Noch wagten die Gäste  nicht, auf den bereit gestellten Stühlen Platz zu nehmen. Da tauchte plötzlich aus einem Nebenraum der Bürgermeister auf. Er wirkte etwas durcheinander, blass im Gesicht, schwenkte nervös ein Blatt in der einen Hand, das er immer wieder mit ungläubiger, ja entsetzter Miene überflog, während er ungeschickt mit der anderen Hand am Mikrofon herumzerrte, bis ihm schließlich jemand zu Hilfe kam. Endlich. Im Saal war es immer leiser geworden, das Stimmengemurmel verebbte, das Stühlerücken wurde wie auf ein unausgesprochenes Kommando eingestellt, als der Bürgermeister sich räusperte, um zu signalisieren, dass er bereit sei,  den Abend zu eröffnen. „Sehr geehrte Gäste, ich begrüße Sie alle ganz herzlich. Sie sind  heute Abend gekommen, um einen unserer Bürger zu ehren für seine herausragende Leistung: Der Preis für das beste Pressefoto des letzten Jahres geht – wie Sie vielleicht schon wissen – an Martin Werst, den bekannten Fotografen aus unserer Stadt. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich soeben einen Brief erhalten habe, der eine Absage unseres Ehrengastes enthält. Herr Werst bittet mich, Ihnen seinen Brief vorzulesen, und er weist ausdrücklich darauf hin, dass er Ihnen, liebe Gäste, auf keinen Fall die heutige Feier verderben will.“ Etwas verwirrt, ja nahezu verzweifelt schon warf der Bürgermeister einen flehentlichen Blick auf die erwartungsvoll ihm zugewandten Gesichter, auf die unzähligen Augenpaare, die wie blendende Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren. „Also, ehrlich gesagt“, fuhr er fort, „das kommt jetzt für mich vollkommen überraschend, und ich sehe mich gezwungen, das vorgesehene Programm in einigen Punkten ändern zu müssen. Ich hoffe dabei auf Ihr Verständnis und werde Ihnen jetzt den Inhalt dieses Schreibens vortragen.“ Die Spannung im Saal nahm zu, lastete bleischwer auf den Schultern der Anwesenden. Der Bürgermeister wischte sich unauffällig mit einem blütenweißen Taschentuch über die schweißnasse Stirn, rückte entschlossen seine Brille zurecht und bog das Mikrofon in Mundnähe. „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit“, begann er leise, zögernd und las mit allmählich fester werdender Stimme weiter. „Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Gäste, ich bin mir der Ehre, die mir mit der Einladung zu diesem Festabend zuteil wird, voll bewusst. Ganz sicher hatte ich auch vor, zu Ihnen zu kommen, um die Bürgermedaille in meinem Heimatort in Empfang zu nehmen. Wie Sie sicher wissen, habe ich mich nie gescheut, den Namen unserer Stadt, die durch ihre unheilvolle Rolle, die sie in der Vergangenheit gespielt hat, zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, in aller Welt zu nennen und mich offen als ihr Bürger zu erkennen zu geben. Natürlich hat auch unsere Stadt mehrere Gesichter, von denen weltweit leider viele Menschen nur das mit Schrecken behaftete kennen oder vielleicht auch nur dieses eine  kennen wollen. Als Pressefotograf reise ich ständig in Krisengebiete, auf die ich mich, wie Ihnen sicher bekannt ist, spezialisiert habe, um mit meiner Kamera die Bilder des Schreckens einzufangen, in der Hoffnung, durch das Sichtbarmachen menschlicher Gräueltaten einen Beitrag zu deren künftiger Verhinderung leisten zu können. Vor einer Woche nun wurde mir aufgrund eines meiner Bilder ein Preis zuerkannt, ein hoher Geldpreis, über den ich mich zunächst sehr gefreut habe. Mein Name war plötzlich kein unbekannter mehr. Täglich riefen mich fremde Leute an, schrieben mir Briefe, um mit mir ins Gespräch zu kommen. So viel Rummel hatte ich nicht erwartet. Mir wurde das bald zu viel. Daran bin ich nicht gewöhnt. Meine Arbeitswelt sieht anders aus. In Krisengebieten werde ich zwar immer wieder von lähmender Angst gepackt, aber meine Arbeit zwingt mich stets aufs Neue dazu, sich der Angst zu stellen. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, fordert mich täglich dazu heraus, unentwegt auf der Suche nach einem möglichen Motiv, durch mein gläsernes Auge zu blicken, um im entscheidenden Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Auch wenn diese Suche gefährlich ist, – das Tragen einer kugelsicheren Weste verschafft mir die wohl eher klägliche Illusion, vor verirrten Kugeln geschützt  zu sein – kann ich sie nicht lassen. Sie entspringt einer heimlichen, mir lange nicht  eingestandenen Sucht, einem inneren Zwang:  Ja, inzwischen habe ich es erkannt, es ist eine Sucht, alles, was mich bewegt,  auf Bilder bannen zu müssen, festhalten zu wollen, erinnerbar zu machen. Hätte es in unserer Stadt vor vielen Jahren auch Fotografen gegeben, denen es gelungen wäre, rechtzeitig von den Gräueltaten zu berichten bzw. diese sichtbar zu machen, vielleicht wären vielen Menschen die Augen geöffnet worden, vielleicht hätte viel Unrecht verhindert werden können, wer weiß? Das alles frage ich mich manchmal, wenn ich mich in Krisengebieten aufhalte, wohl wissend, dass ich mich in einer Sonderstellung befinde: als Fremder freiwillig in einem Land, das es seinen Bewohnern nicht erlaubt, es in Frieden verlassen zu können, wann immer sie wollen. Sie werden denken: Es ist sein Job, er will es so, ein gefährliches Abenteuer erleben und dabei noch viel Geld verdienen, in der Welt herumreisen und das alles von Berufs wegen. Nun gut, werden Sie weiter sagen, eine Familie braucht so einer sicher nicht, das wäre wohl kaum auszuhalten für dessen Frau und seine Kinder, ständig in Angst und Furcht, Unsicherheit, Ungewissheit zu leben. Ständig die unausgesprochene Frage, verborgen hinter den Lippen: Kommt er zurück oder nicht? Sie haben Recht, eine Familie habe ich nicht. Ich will mich keinem zumuten. Mir genügt meine Nikon, meine furchtlose Partnerin, immer eng an meiner Seite, absolut zuverlässig, immer dabei, auf dem höchsten Stand der Technik;  sie lässt mich nicht im Stich. Meine Eltern leben nicht mehr. Beide  sind sie gestorben an den Folgen jener Gräueltaten, die erst zu spät auf Papier gebannt worden waren. Für mich aber war ihre Geschichte, die so eng verknüpft war mit der Geschichte unserer Stadt, von jeher der innere Motor, der mich antrieb, selbst in die Ereignisse eingreifen zu wollen, diese in der Welt publik zu machen. Keiner sollte später sagen können, er hätte nichts davon gewusst. Kein schöner Job, denken sicher auch viele unter Ihnen. Kann es Spaß machen, verzerrte Menschengesichter, ausgehungerte Kleinkinder, sterbende Soldaten, blutüberströmte Leichen zu fotografieren? Nein, ganz sicher nicht, muss ich Ihnen da antworten. Aber wie gesagt, es ist nach und nach zu einer Sucht geworden, für mich jedenfalls. Das Abstoßende, das nie fotografiert werden würde aufgrund seiner unerträglichen, unzumutbaren Hässlichkeit, es übt eine unwiderstehliche  Faszination auf mich aus. Und, vergessen Sie eines nicht, ich kann genügend Abstand halten zu meinem Motiv. Dank der ausgefeilten Technik ist es mir möglich, fremden Menschen Aug in Aug gegenüberzustehen, ohne dass sie mich wahrnehmen können. Ich bleibe unentdeckt, unbeobachtet, sicher verborgen, hinter meiner Nikon, ausgestattet mit einem Teleobjektiv der Lichtstärke 2,8, der Brennweite 400 mm, mit automatischer Fokussierung.  Ich zwinge, gut getarnt, das nackte Elend vor meine mitleidlose Linse, die sich nicht einen Millimeter krümmt angesichts des Wahrgenommenen, die nicht ausweicht, sondern schonungslos entsetzte Augen, aufgerissene Münder, blutende Wunden, vor Schmerz und Entsetzen verzerrte Gesichter, um Gnade bittende Hände, auf meinen Befehl, per Knopfdruck sozusagen, in meine Kamera holt, auf meinen Film bannt. Während Sie gemütlich Zeitung lesend beim Frühstück sitzen, werden Ihnen schon die entwickelten Bilder präsentiert, vergrößert und in Farbe natürlich. Während Sie genüsslich an Ihrem  Kaffee nippen, mit Appetit ein Marmeladenbrot verzehren und sich am Wochenende vielleicht auch ab und zu ein weiches Ei gönnen, sofern es Ihr Cholesterinspiegel erlaubt, während Sie diese Augen im Todeskampf verzweifelt, um Hilfe flehend anstarren, werfen Sie einen flüchtigen Blick auf die Überschrift zu diesem Bild , „Schon wieder ein Massaker?“, denken Sie, „Es ist schon schlimm auf unserer Welt“, und Sie blättern gelangweilt um auf die nächste  Seite, gießen sich nebenbei noch eine weitere Tasse Kaffee ein, werfen zwischendurch einen prüfenden Blick auf die Uhr und falten schließlich die Zeitung ordentlich zusammen, genug gelesen  für heute. Jetzt frage ich Sie: Haben Sie sich schon einmal ernsthaft Gedanken darüber gemacht, was dieser Mensch, der Sie in seiner Todesnot so flehentlich anblickt, macht, während Sie Ihr Leben weiterleben? Sie wissen es nicht, werden Sie achselzuckend antworten. Ich aber weiß es: Dieser Mensch ist längst schon tot, während Sie noch frühstücken und ihn schon vergessen haben, oder noch schlimmer, ihn gar nicht wirklich wahrgenommen haben. Vergessen. Vergessen sein Leiden, seine Schmerzen, sein Leben mit all seinen unerfüllten Hoffnungen, seinen ungezählten Entbehrungen und Ängsten und vielleicht auch mit seinen kleinen und großen Freuden. Dieser Mensch liegt nun zusammengekrümmt, erstarrt und kalt im dreckigen Sand und, wenn er Glück hat, wirft ihm ein anderer Fliehender, sich in ähnlicher Lage Befindender, einen Schwall Sand über seinen leblosen Körper, bedeckt ihn notdürftig, versucht so seine Würde zu wahren, ehe er versucht, das eigene Leben zu retten. Vergessen Sie nicht, die gellenden Schmerzensschreie, die leisen Seufzer, das heftige Keuchen, das hohe Winseln, das durchdringende Jammern, das unermüdliche Flehen um Gnade, das inständige Bitten, das endlose Wehklagen, die barschen Befehle, die endgültigen, vernichtenden Schüsse, all das bleibt ungehört für Sie, nicht aber für mich. Zwar kümmert sich meine Linse nicht um Geräusche, dafür ist sie nicht zuständig, wohl aber reagieren meine Ohren empfindlich darauf. Ich kann sie nicht wirksam verschließen, auch mit bester Technik nicht. Diese Geräusche, diese Stimmen dringen in meinen Kopf, setzen sich dort fest und lassen sich nicht vertreiben. Ich höre sie in meinen Träumen. Registriere sie tagsüber, auch bei völliger Stille, diese anklagenden Stimmen, die mich immer wieder an die Elenden erinnern, die ich hinter meine Linse zerrte, belichtete, in Szene setzte, erbarmungslos den Augen der Öffentlichkeit preisgab und dann abrupt von mir warf, fallen ließ, wie ein Funken sprühendes Holzscheit. Ich dramatisiere. Richtig.  Das war nur eines meiner Bilder, das ich Ihnen schilderte, aber nicht das, wofür ich die Auszeichnung erhalten habe. Ich nehme an, das Bild, das mit einem hohen Preis ausgezeichnet wurde, werden Sie heute Abend sehen können. Urteilen Sie selbst. Ich habe mein Urteil schon gefällt. Auf diesem Bild sehen Sie in das Gesicht eines jungen Mannes, der versucht mit verzweifelter Kraftanstrengung seinen brutalen Verfolgern zu entkommen, in einem Land, in dem es ein Verbrechen ist, ja schlimmer noch, lebensgefährlich ist, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, die von den Regierenden nicht geduldet wird. Schauen Sie sich den jungen Mann doch ruhig näher an. Geben wir ihm einen Namen, nennen wir ihn Barid. Zerfetzte, mit Blut und Schmutz befleckte Bandagen flattern um seine Knie, braun verschorfte Schrammen entstellen sein ausgezehrtes Gesicht, eine frische Blutspur weist auf die klaffende Wunde an der linken Hand, mit bloßen Füßen rennt er, rennt davon vor seinen Verfolgern, rennt direkt auf einen unserer gepanzerten Wagen zu, der – jenseits der feindlichen Linie – wartet, der ihm, scheinbar, Hilfe verspricht. Wir erkennen diese un-menschliche Anstrengung, sie ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben: weit aufgerissen die entsetzten Augen, geöffnet der ausgedörrte Mund, der mit einem heiseren Schrei um Hilfe fleht, ehe er einen keuchenden Atemzug später gefasst wird, nein zu Boden geprügelt wird von seinem Verfolger, der ihm das Gewehr zwischen die Beine rammt. Soweit das Bild. Sekunden später: Ein wirbelndes Stolpern, und der junge Mann krümmt sich am Boden. Barid ist ein Gefangener. Ich aber sehe noch ein anderes Bild vor mir, jeden Tag, jede Nacht, in allen Schattierungen, es will nicht verschwinden, verfolgt mich, brennt sich ein in mein Hirn: Barid rennt direkt auf uns Fotografen zu, schutzsuchend. Während meine Kollegen nervös werden angesichts der dramatischen Situation und der außergewöhnlichen Nähe zu unserem Motiv, reagiere ich intuitiv, ohne nachzudenken: ein prüfender Blick durch die Linse, ein routiniertes Schwenken des Objektives, ein Knopfdruck auf den Auslöser, und Barid ist gerettet, gerettet für den Film. Mein italienischer Kollege knallt die Autotür mit hilflosem Zorn wieder zu, Sekunden vorher hat er sie aufgerissen, wollte Barid Zuflucht gewähren, ihm Schutz bieten. Zu spät. Ein anderer reißt schockiert die Fahrertür auf, springt hinter das Lenkrad, fordert uns brüllend auf, einzusteigen, während schon das Gaspedal aufheult. Da werfe ich mich auch hinein in das sichere Fahrzeug, im letzten Moment, gerettet das eigene Leben. Feige flüchteten wir, überließen den wehrlosen jungen Mann seinen Verfolgern. Zum ersten Mal verspürten wir Todesangst am eigenen Leib, unsere Knie und Hände zitterten unkontrolliert, wir wagten nachher nicht, uns anzusehen. Verlegenheit stand wie eine Mauer zwischen uns und – unausgesprochen, ein Gefühl der Scham. Das Bild ist hervorragend gelungen: klar, scharf, detailliert, perfekt aus fototechnischer Sicht wohlgemerkt, aber es war mein letztes Bild und wird es auch bleiben. Vor einigen Stunden erreichte mich eine Nachricht aus einem afrikanischen Land: Ein junger Mann teilte mir mit, dass auch er das Pressefoto gesehen habe. Er kenne den jungen Mann auf dem Bild: Es sei sein Bruder, behauptete er. Weiter forderte er mich dringend auf, seinen Bruder zu retten.“ Erschöpft machte der Bürgermeister eine kurze Pause, sah in die Gesichter der Gäste, spürte wie alle ungeduldig erwarteten, dass er weiter lesen solle. Mit zitternder Hand griff er nach dem Wasserglas, das bereit stand, trank es in wenigen gierigen Schlucken leer, strich das Papier vor ihm glatt und begann erneut:  „P. S.:  Herr Werst, Sie haben der Welt ein Foto von meinem Bruder gezeigt, ein Foto, das ihn als Gefangenen zeigt, wehrlos am Boden liegend, der Verfolger über ihm stehend, bewaffnet, siegessicher. Ich klage Sie an, meinen Bruder nicht gerettet zu haben. Er befindet sich jetzt in einem Gefangenenlager und muss damit rechnen zum Tode verurteilt zu werden, ohne Schuld, ohne Gerichtsurteil. Können Sie mit diesem Wissen unbekümmert weiter leben, weiter fotografieren, Bilder hinterlassen, von Menschen, die schon tot sind, ehe Ihre Fotos entwickelt sind? Ich frage Sie: Sind Sie wirklich so eiskalt, so abgebrüht? Ist Ihnen menschliches Leben tatsächlich nicht mehr wert als ein Motiv für ein gelungenes Bild? Ich weiß inzwischen auch, dass Sie viel Geld dafür bekommen haben. Nun fordere ich Sie auf, nehmen Sie dieses Geld und versuchen Sie, meinen Bruder frei zu kaufen, geben Sie ihm diese winzige, letzte Chance, kommen Sie zurück in unser Land, wenden Sie sich an die Mächtigen. Ich bin sicher, Sie kennen genügend Organisationen, die Ihnen dabei helfen werden, vorausgesetzt, Sie wollen das wirklich. Sie sind nun ein bekannter Mann. Vergessen Sie nicht, Sie tragen die Verantwortung für das Leben meines Bruders, dessen Elend Sie öffentlich sichtbar gemacht haben. Sie dürfen ihn nicht einfach krepieren lassen. Sollten Sie sich weigern, werde ich dafür sorgen, dass alle Welt davon erfährt. Ich kenne viele Leute, die mir helfen werden. Seien Sie sicher, meine Freunde verstecken sich nicht feige hinter einem Teleobjektiv, sie können Sie durchaus ins Visier nehmen, allerdings nur einmal. Sie verstehen? Ich rechne mit Ihnen. Liebe Gäste, Sie entschuldigen nun gewiss meine Abwesenheit. Ich bedanke mich für Ihre Geduld und die kostbare Zeit, die Sie mir geopfert haben und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend. Ihr  Martin Werst“

Zirkus

30 Donnerstag Apr 2015

Posted by josephinesonnenschein in Gedanken, Gedicht, Lyrik

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Schlagwörter

Gedicht, Lyrik, manege, Vorstellungen, Zirkus

Der Dresseur in der Mitte,
die zu Dressierenden am Boden,
die Zuschauer auf bequemen Plätzen,
lachend, erwartungsvoll
der Dresseur darf fast alles,
befehlen, anweisen, Witze machen,
seine Opfer gehorchen freiwillig und dürfen auch fast alles,
solange die Zuschauer lachen
und sich nicht einer besonders betroffen fühlt,
der dann eingreift,
gar nicht programmgemäß,
der fragende Mienen erzeugt, mit Härte die Vorstellung stört,
den Dresseur verstummen lässt,
kurze Zeit wenigstens,
Programmunterbrechung –
alle müssen sich miteinander beschäftigen
oder im Schweigen ertrinken,
das sich kalt und ungemütlich ausbreitet,
einer verschwand,
einer der Akteure sitzt nun irgendwo außerhalb,
wartet auf seinen neuen Auftritt –
wieder Lachen, Geschrei,
alles starrt auf Dresseur und Akteure,
endlich kein Gespräch mehr notwendig,
nur Lachen erwünscht und wehe dem,
der es wagt, aus der Rolle zu tanzen,
ungefragt,
er wird böse Blicke ernten,
sich in der unbequemen Rolle des Spielverderbers wiederfinden
irgendwann
Ende des Programmes,
irgendwo
wieder Kinder statt Akteure,
irgendwer
wird sie wieder ernst nehmen müssen,
sie und ihre Probleme,
ihre Tränen, ihre Wut, ihre Ängste
auffangen und verstecken,
ehe sich der Vorhang hebt für die nächste Vorstellung,
was aber macht der Dresseur in der Zwischenzeit?

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