Schlagwörter
Alkohol, Depression, Freundschaft, Krankenhaus, Leben, Polizei, Polizist, Tod
Fortsetzungsgeschichte
Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.
Im Krankenhaus
Freitag, 20.30 Uhr
„Melanie?“
Fragend blickte Frau Ascher in das ernste Gesicht des Polizisten, der neben ihrem Bett stand. Er zog sich erst einen Stuhl ans Bett, ehe er den Kopf schüttelte.
„Nein, wir konnten noch nichts Näheres über sie herausfinden. Kann es sein, dass das Mädchen einen bestimmten Grund hatte, plötzlich zu verschwinden? Wissen Sie, wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder verschwinden, weil sie Angst haben, daheim Ärger zu bekommen, wegen schlechter Noten zum Beispiel oder aus für uns geringfügig erscheinenden Anlässen die von den Kindern als schwerwiegend und furchteinflößend empfunden werden. Kann es sein, dass sie Angst vor Strafen hatte, aus welchem Grund auch immer?“
Stumm schüttelte die Frau den Kopf. Sie schien nachzudenken.
Angst? Wovor könnte Melanie Angst haben? Vor Strafen gewiss nicht. Sie selbst war oft eher zu apathisch als dass sie sich ernsthaft mit dem Kind auseinandergesetzt hätte. Sie ließ sie zu sehr gewähren. Eine strenge Mutter war sie nicht, wohl eher eine gleichgültige, aber das – so dachte sie jetzt – war wohl noch schlimmer.
Melanie. Sie versuchte sich vorzustellen, Melanie würde nicht zurückkommen. Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein, der Brief, der daran schuld war, dass sie gestern Abend getrunken hatte. Der Brief! Mein Gott, wo hatte sie ihn bloß versteckt? Melanie durfte auf keinen Fall davon erfahren. Ja, jetzt wusste sie es, wovor ihre Tochter sich am meisten fürchtete, vor einem Leben ohne ihre Mutter. Wie oft hatte sie schon nach ihrem Vater gefragt … Sie hätte es ihr längst schon sagen müssen … Melanie befürchtete, ihre Mutter zu verlieren. Sie wollte nicht allein sein. Nicht allein bei fremden Menschen, die sie aufzogen oder allein in einem Heim. Der Brief! Sie musste es der Polizei sagen.
„Der Brief“ begann sie zögernd, „der Brief könnte ein Grund gewesen sein.“
„Von welchem Brief sprechen Sie denn?“
„Der Brief vom Jugendamt.“
„Bitte, Frau Ascher, wenn Sie uns helfen wollen, Melanie zu finden, dann erzählen Sie uns alles, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint.“
Der Polizist sah sie aufmunternd an.
„Am Donnerstagmorgen kam der Brief. Ein Einschreiben. Das Jugendamt fordert mich auf zu einem Gespräch zu kommen. Sie haben erfahren, dass ich … manchmal etwas trinke. Sie meinen, dass ich mich zu wenig um Melanie kümmere, sie befürchten, dass das Kind darunter zu leiden hat. Vernachlässigung und … ich weiß das nicht mehr so genau. Sie wollen mir das Kind wegnehmen.“ Schluchzend drehte Frau Ascher den Kopf auf die Seite, verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.
„Das dürfen Sie nicht. Niemals. Nein.“ Stammelt sie unter Tränen.
„Hören Sie, helfen Sie mir, bitte. Ich trinke nicht mehr, ich tue alles, aber die dürfen mir mein Kind nicht wegnehmen. Bitte tun Sie etwas …“
Ratlos saß der Polizist neben ihr, fühlte sich unbehaglich, wusste nichts Tröstendes zu sagen. Allmählich begann er zu ahnen, warum Melanie verschwunden war.
„Wusste Melanie von dem Brief?“
“Nein, ich habe ihn vor ihr versteckt, bevor … aber ich weiß nicht mehr genau wo.“
„Bevor was?“
Frau Ascher schwieg.
„Bevor Sie getrunken haben?“
„Nein“, sie wehrte ab. Er sah sie aufmerksam an.
„Doch, Sie haben Recht. Ich war so erschrocken, dass ich etwas brauchte zur Beruhigung, da sah ich die offene Flasche, da trank ich sie leer, es war nur ein kleiner Rest. Melanie war auf einer Geburtstagsfeier, kam erst am Abend zurück. Ich versteckte den Brief, da fiel mir wieder ein, dass ich zur Arbeit musste, es war schon spät, der Bus fuhr in wenigen Minuten, ich musste ihn noch erreichen, um nicht zu spät zu kommen, das würde sonst Ärger geben, aber ich musste doch immer an diesen schrecklichen Brief denken, in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, Gedanken flogen wie aufgewirbelte Blätter herum, waren nicht zu fassen, blieben nicht ruhig, nicht fassbar, immer wieder, dieser Brief, den durfte Melanie auf keinen Fall sehen, das durfte sie nicht erfahren. Ich durfte aber meine Arbeit nicht verlieren, das wäre doch ein weiterer Grund für das Jugendamt. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich hatte die neue Arbeitsstelle noch nicht lange. Da klingelte auch noch das Telefon, mein Chef war dran, schon wütend, weil ich wieder zu spät kommen würde.“ „Melanie kam nach Ihnen von der Schule heim. Vielleicht hatte sie den Brief entdeckt?“
„Vielleicht … Dann hat sie jetzt schreckliche Angst, denkt ich mag sie nicht mehr, lasse sie allein.“
„Sie ist weggelaufen. In Panik. Das machen Kinder oft, sie laufen davon, meinen, vor dem Problem weglaufen zu können. Eine Art Verdrängung. Fluchtreflex. Könnte das so gewesen sein?“
Frau Ascher nickte. „Ich will Sie nicht belügen, aber ich habe mehr als den Rest in der Flasche getrunken …“
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Melanie finden. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns bei Ihnen. Gute Nacht.“
Freitag, 23.50 Uhr
Schwester Hannelore warf einen prüfenden Blick in das dämmrige Zimmer. Sie konnte im schwachen Licht der Nachtlampe nur Umrisse erkennen. Alles schien ruhig. Keine fremden Geräusche drangen an ihr Ohr. Behutsam schloss sie die Tür, um die Kranke nicht zu wecken. Ihre Schicht war in wenigen Minuten zu Ende und sie begann sich schon auf ihr Zuhause zu freuen, sehnte sich nach ihrem Bett, nach Schlaf, nach Abschalten. Gewissenhaft setzte sie ihren Rundgang fort. Da stutzte sie plötzlich, blieb abrupt stehen und lauschte. Sie hatte ein Geräusch vernommen, das vorher nicht da war. Entschlossen näherte sie sich wieder der Zimmertür mit der Nummer 17. Zögerte einen Moment, ehe sie sachte die Tür öffnete und auf das Bett am Fenster blickte. Sie nahm die Bewegung zuckender Schultern wahr und ein unterdrücktes Schluchzen. „Kann ich helfen?“, fragte sie freundlich und näherte sich dem Bett. Ein leises „Nein“, war die Antwort, die sie nicht überzeugen konnte. „Ich habe in wenigen Minuten Schichtwechsel, dann habe ich für Sie Zeit. Bis gleich.“ Beruhigend legte sie ihre Hand kurz auf die fremde Schulter, ehe sie das Zimmer erneut verließ, mit der festen Absicht, gleich wiederzukommen.
Auf der Station blieb alles ruhig. Noch drei Minuten, dann würde sie abgelöst werden. Sie blätterte interessiert in dem Krankenbericht von Frau Ascher, die allein auf Zimmer 17 lag.
… Eingeliefert am Donnerstag 20.35, Unfall, Sturz auf der Treppe, alkoholisierter Zustand, offener Schienbeinbruch, alleinerziehend, Tochter neun Jahre alt, war nicht anwesend …. Dann las sie die handschriftliche Notiz nicht auffindbar. Sie stockte. „Nicht auffindbar“. Ein Kind mit neun Jahren, nicht auffindbar. Sie begann zu ahnen, warum Frau Ascher in Tränen ausgebrochen war. Angst. Sorge. Sie konnte das gut nachfühlen, waren ihre Kinder auch schon älter, aber als Mutter fühlte man sich sofort verantwortlich, zuständig für alle kindlichen Probleme. Wo konnte das Mädchen bloß sein? Sie las weiter.
… Suchaktion von der Polizei bereits eingeleitet …
Schwester Anna, ihre Ablösung, erschien im Schwesternzimmer. „Guten Morgen. Alles in Ordnung?“ Die übliche Frage bei Schichtwechsel. Automatisch nickte sie. „Du schaust aber nicht danach aus“, bemerkte Schwester Anna aufmerksam. „Was ist los?“ Besorgt blickte sie auf ihre Kollegin. Schwester Hannelore hielt den Bericht hoch.
„Zimmer 17, der Neuzugang, Frau Ascher, ein schwieriger Fall.“
„Inwiefern?“
„Komplizierter Beinbruch, Alkoholprobleme und vor allem eine Tochter, die nicht aufzufinden ist, schlechter psychischer Zustand. Ich habe ihr versprochen, noch einmal zu ihr zu kommen.“
Verständnisvoll nickte Schwester Anna. Es war immer dasselbe. Die andere machte sich zu viele Gedanken. Man sollte sich nicht zu sehr mit den Problemen der Patienten belasten, denn sie verließen das Krankenhaus in den meisten Fällen geheilt, aber ohne ihre Probleme gelöst zu haben. Sie hatte diese Erfahrung in ihrer langjährigen Tätigkeit gemacht. Sie erhob längst keinen Anspruch mehr, die Probleme fremder Leute lösen zu wollen. Sie behandelte alle freundlich, hörte auch aufmerksam zu. Mehr nicht. Keine Kommentare, keine Hilfsangebote, keine Lösungsversuche. Das genügte meist auch. Ja, darin hatte sie Erfahrung. Aber diese Schwester Hannelore, die gab nicht auf, war davon überzeugt, mehr tun zu müssen und wohl auch davon, mehr tun zu können. Bitte. Sie hatte jetzt anderes zu erledigen.
„Also, ich geh dann, mach’s gut, bis morgen!“
Schwester Hannelore hatte sich inzwischen umgezogen und verließ das Schwesternzimmer.
Frau Ascher stellte sich schlafend, aber der angehaltene Atem verriet, dass sie wach war.
„Jetzt habe ich viel Zeit.“
Schwester Hannelore zog sich einen Stuhl ans Bett und wartete. Beide Frauen verharrten im Schweigen. Wie eine Ewigkeit erschien es der Schwester, aber es waren nur wenige Minuten.
„Was wollen Sie?“
Endlich.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Vielleicht haben Sie ein Bild von ihr?“
Erschrocken starrte Frau Ascher der Schwester, die jetzt ohne Schwesterntracht so anders aussah, ins Gesicht.
„Meine Tochter … Ich habe schon alles gesagt.“
„Ich habe auch eine Tochter. Sie sorgen sich um Melanie, so heißt sie doch, oder?“
„Sie ist verschwunden. Einfach weg …“, stöhnte Frau Ascher.
„Sie kann bei einer guten Freundin sein“, beruhigte sie Schwester Hannelore.
„Nein, sie hat keine gute Freundin. Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Keine gute Freundin, keine gute Mutter, keinen Vater. Sie hat … nichts. Nicht einmal einen Hund, den sie sich schon lange wünscht.“
„Ist sie zum ersten Mal so lange verschwunden?“
„Ja, sie hat immer Bescheid gesagt, wann sie wieder zurück ist, oder einen Zettel hinterlegt. Aber dieses Mal – nichts. Einfach weg. War auch nicht in der Schule.“
Frau Ascher drehte sich stumm auf die andere Seite. Geduldig blieb Hannelore sitzen.
„Was wollen Sie von mir?“ Wieder die leise Stimme.
„Gehen Sie doch, lassen Sie mich allein, ich bin das gewohnt.“
„Sie sind oft allein?“
„Allein, schon lange …“
Melanies Mutter erinnert sich
Der Wecker klingelte. Schlaftrunken stellte sie ihn ab, murmelte „aufstehen, halb sechs“ und schlief augenblicklich wieder ein. Aber etwas war anders. Plötzlich war sie wieder wach, tastete mit der Hand prüfend über die Bettdecke neben ihr, spürte eine Schulter, rüttelte sie energisch „Aufstehen, du kommst zu spät.“ Keine Reaktion. Alarmiert setzte sie sich im Bett auf. Er lag noch immer schlafend, ohne auf ihre Aufforderung zu reagieren. Kein Seufzen. Kein Gähnen. Kein Laut. Nichts war zu hören. Kein Geräusch. Sie zog ihm die Bettdecke weg, was normalerweise einen empörten Schrei zur Folge hatte. Er blieb stumm. Er blieb regungslos. Er sah sie nicht mal an. Augen geschlossen. Sie legte ihm die Hand auf die Brust. Keine Bewegung. Kein Heben und Senken. Kein Atmen. Die Haut fühlte sich warm an, aber kein Atmen. Plötzlich wusste sie, was das bedeutete: Kein Atmen, kein Leben. Er war tot.
Sie wagte es nicht zu denken, aber der Gedanke bohrte sich wie ein Messer in ihr Gehirn. Er blieb darin, weigerte sich zu verschwinden. Sie warf sich über ihren Freund, rüttelte ihn, boxte ihn, schrie ihn an, bettelte, flehte, verfluchte ihn, schwor ihm ihre Liebe. Immer wieder. Nichts rührte ihn mehr. Sie begann ihn zu streicheln. Stellte ihrem Gedanken ein Nein entgegen. Nein, das war nicht möglich. So jung noch, so gesund, das durfte nicht sein. Sie schmiegte sich an ihn, klammerte sich an ihm fest, wollte ihn nicht gehen lassen, obwohl er schon gegangen war. Versuchte in den Schlaf zu entfliehen. Vom Alptraum des Lebens zurück in den Schutz der Träume. Sie dämmerte weg, spürte seinen warmen Körper neben ihr, beruhigte sich allmählich, er war ja da, alles war gut, floh minutenlang in den Schlaf, in das Vergessen.
Das Telefon. Sie sprang erschrocken aus dem Bett. Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. Verschlafen. Sie hatten beide verschlafen. Ihr Chef. Sie hörte seine Stimme. Nicht unfreundlich, eher besorgt.
Nein, sie war nicht krank, aber sie konnte nicht in die Arbeit kommen, unmöglich. Ihr Freund. Sie durfte ihn nicht allein lassen, nicht jetzt, auf keinen Fall. Ob er einen Arzt kommen lassen sollte? Sie klänge so merkwürdig. Gehe es ihr auch wirklich gut? Was ist mit ihrem Freund?
Er brauche sie ganz dringend. Die letzte Wärme. Sie musste sie ihm geben. Er könnte kalt werden.
Sie warf das Telefon auf die Couch, antwortete nicht mehr, wusste später nicht mehr, dass sie ihrem Chef die Tür geöffnet hatte, als dieser Sturm geklingelt hatte. Ihrem Chef und einem Arzt, den sie nicht kannte. Wusste nicht mehr, dass sie betrunken gewesen war, betrunken von zu viel Alkohol und zu viel Schmerz. Erwachte erst allmählich in einem Krankenhausbett, allein, kein vertrauter Körper neben ihr, gepackt von Panik. Ein Würgereiz schüttelte sie. Eine Brechschale wurde ihr unter das Kinn gehalten. Sie war doch nicht allein. Aber er war nicht mehr da. Wohin hatten sie ihn gebracht?
Eine beruhigende Stimme erklärt ihr vorsichtig, was passiert war, aber sie wusste es doch schon längst, nun wurde sie erneut daran erinnert. Er war tot. Sekundentod. Plötzlich. Unerklärlich. Im nächsten Monat hätten sie geheiratet, hätten eine Hochzeitsreise unternommen. Alles war schon geplant, die Gäste bereits eingeladen.
Sie wurde am Tag der Beerdigung entlassen. Daran wollte sie nicht erinnert werden. Diesen Tag, der alles so endgültig machte, hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen, daran weigerte sie sich zu denken.
Sie schaffte es irgendwie, nach qualvollen Wochen, weiter zu leben ohne ihn. Andere halfen ihr dabei, Eltern, Freunde. Nach wenigen Wochen wusste sie, dass sie ein Kind erwartete. Sein Kind. Ihr gemeinsames Kind. Er würde es nie mehr erfahren, das Kind würde nie seinen Vater kennen lernen. Ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwankte zwischen Freude und Angst. Allein mit einem Kind. Wie sollte sie das bewältigen?
Die Schwangerschaft verlief problemlos. Nach einer anstrengenden Geburt legte die Hebamme ihr Melanie in den Arm. Erschöpft blicke sie auf ein gesundes Mädchen. So winzig. So unschuldig. Sie konnte sich nicht satt sehen. Freude und Trauer überwältigten sie. Ihr Mädchen, das ohne Vater war, von Anfang an. Alle Verantwortung lag nun auf ihr. Und er, der Vater, wird sich nie an seinem Kind freuen können. Nie. Drei Buchstaben, die eine Ewigkeit ausdrücken, eine Unendlichkeit. Nie.
Die Verantwortung gab ihr Kraft. Das Leben ihrer Tochter musste geschützt werden. Sie war gefordert. Ihre Aufgabe war das. Das Stillen verband Mutter und Tochter. Sie war stolz auf ihr Mädchen, das sich gesund entwickelte. Sie suchte nach seinen Augen in dem kleinen Gesicht, forschte nach Ähnlichkeiten, war glücklich in ihrem Lachen seines wieder zu entdecken. Aber sie hatte auch Angst. Sekundentod. Es konnte jeden treffen. Auch Kinder. Kindstod. Das Grauen verfolgte sie noch immer.
Sie war jung. Sie war gebunden. Sie war einsam. Ihre Freunde kamen immer seltener. Sie wurde kaum noch eingeladen. In der ersten Zeit bemerkte sie das nicht, war zu erschöpft, zu müde, zu sehr beschäftigt.
Als Melanie schon in den Kindergarten ging, wurde ihr bewusst, wie jung sie noch war. Die meisten der Mütter waren schon älter und hatten wenig Interesse an ihr. Da sehnte sie sich wieder nach ihren Freunden, die abends weggingen, sorglos schlafen konnten, nicht auf Atemzüge lauschen mussten, verfolgt von der Angst, diese nicht mehr zu hören. Sie war gebunden. Ihre Eltern hätten ihr das Kind schon abgenommen. Ab und zu. Aber sie spürte, dass die anderen sie mieden, sie die junge Witwe und Mutter störte ihr Vergnügen, weckte unangenehme Erinnerungen. Man blieb unter sich. Übertönte das schlechte Gewissen, das sich manchmal meldete durch den Lärm der Musik, zu der man tanzte.
Sie war einsam. Sobald ihre Tochter schlief suchte sie Entspannung, Erleichterung, sobald ihre Tochter schlief, griff sie zur Flasche. Der Vorrat stammte noch von ihm. Sie trank und dachte dabei an ihre gemeinsame Zeit. Sie konnte nicht weg, sie blieb und entfernte sich in ihren Gedanken. Der Alkohol half ihr dabei. Wenig am Anfang. Das Wenige reichte bald nicht mehr, um ihr schlechtes Gewissen zu ertränken, um für ausreichende Entspannung zu sorgen.
Noch konnte sie ihren Alkoholkonsum vor anderen verbergen. Sie hatte sogar wieder Arbeit gefunden, stundenweise. Melanies erster Schultag lag hinter ihr. Ihre Freiräume wurden größer, ihre Einsamkeit auch. Melanie erzählte nicht viel von der Schule, selten von ihren Mitschülern. Vielleicht zeigte sie als Mutter auch zu wenig Interesse daran, war froh, wenn Melanie draußen spielte oder bei anderen Kindern, wie sie manchmal sagte, aber nie brachte sie ein anderes Kind mit in ihre Wohnung. Ihr war das recht. Sie hatte sich kaum Gedanken über Melanies Einsamkeit gemacht. Ab und zu unternahmen sie gemeinsam etwas. Ein Kinobesuch, ein Tag im Tierpark oder im Schwimmbad, das machte ihre Tochter schon glücklich. An manchen Tagen war sie auch stolz auf ihr hübsches Mädchen, an anderen empfand sie das Kind als Belastung, als Hemmschuh, der sie davon abhielt, ihr Leben nach ihrem Geschmack zu gestalten. Sie fühlte sich noch zu jung, um so viel Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie vermisste ihn noch zu sehr, wollte sich in ihre Trauer fallen lassen wie in einen tiefen See, wollte nachdenken, sich erinnern, in der vergangenen Zeit leben, alles Schöne noch einmal erleben dürfen oder wenigstens mit jemand darüber können, mit jemandem, der ihn auch gekannt hatte.
Seine Eltern wohnten zu weit weg. Sie waren auch schon recht alt. Am Anfang war das Kind zu klein für sie, wie sie sagten, als Entschuldigung für die wenigen Kontakte, später war das Mädchen zu anstrengend, zu lebhaft in ihrem Alter wie sie betonten, sie seien überfordert. An Weihnachten und an Melanies Geburtstag schickten sie regelmäßig ein Päckchen und einen Brief, den Melanie seit sie schreiben gelernt hatte, selbst beantwortete, mit ihrer Hilfe. Ihr fiel das schwer, diese beiden Großeltern waren zu weit entfernt, zu unbekannt. Es blieb bei wenigen Sätzen, Floskeln. Allmählich wurden aus den Briefen Karten, die weniger Text erforderten. Ihre Eltern unterstützten sie von Anfang an, wohnten nicht allzu entfernt, übernahmen das Kind, um ihr Erholungspausen zu gönnen, vor allem nach anstrengenden Phasen, in denen Melanie krank war und sie sich nur nach Schlaf sehnte.
Zu Beginn des ersten Schuljahres erkrankte ihr Vater und ihre Mutter war mit seiner Pflege beschäftigt.
Nach Minuten des Schweigens beugte sich Schwester Hannelore über die Frau, die erschöpft im Bett lag und nicht mit ihr sprechen wollte.
„Ich komme morgen wieder. Auf Wiedersehen.“
Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.