Tänzer (nach einem Foto) – Maße 24 x 31 cm
Tänzer – Bleistiftskizze
18 Mittwoch Apr 2018
18 Mittwoch Apr 2018
26 Montag Mär 2018
11 Montag Dez 2017
27 Montag Nov 2017
Schlagwörter
Impressione 2 – Maße 9 x 13 cm
18 Samstag Nov 2017
Schlagwörter
Erinnerung, Freude, Leben, Natur, Rose
Novemberrose
von weißem Frost ummantelt
letzter Sommergruß.
21 Samstag Okt 2017
Posted Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur
inSchlagwörter
Depression, Foto, Freude, Freundschaft, Hund, Leben, Liebe, Tod, Trauer
Fortsetzungsgeschichte
Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.
Reaktion der Leute auf Karls Behinderung
Wie hatten sich die Leute das Maul zerrissen, als sie allmählich merkten wie es um des Pfarrers Sohn bestellt war: Er war einfach anders als die anderen. Im Kindergarten fiel das nicht so deutlich auf, aber in der Grundschule traten massive Probleme auf: Karl war einfach überfordert, an der falschen Schule. Ihrem Mann wurde es allmählich peinlich, dass er, der angesehene Pfarrer, einen behinderten Sohn hatte, der keinerlei Rücksicht nahm auf den Ruf des Vaters. Aber ihr Mann liebte ihn, trotz der Schwierigkeiten, sie fühlte das, während sie ihn nicht so annehmen konnte wie er war, so sehr sie sich auch Mühe gab. Es gab Momente, da verabscheute sie sich selbst: Eine Mutter, die ihr eigenes Kind nicht liebte? Noch dazu die Frau eines Pfarrers. Aber war Karl wirklich ihr eigenes Kind? War er ihr nicht aufgezwungen worden von einem Fremden, der sie gewalttätig überfallen hatte, an jenem Abend, der in ihren Träumen immer wieder auftauchte, jener Abend, der ihr zum Schicksal geworden war?
Wie hatte sie sich geschämt, wie war sie verzweifelt gewesen, dass ausgerechnet ihr das passieren musste: Eine Vergewaltigung. Welch harmloses Wort im Vergleich zur grausamen Realität. Hilflos ausgeliefert zu sein, trotz heftigster Abwehr zu unterliegen, fremde Gewalt ertragen zu müssen, sie auszuhalten und danach wieder aufzustehen und so völlig allein zu sein, getrennt von allen anderen, mit keinem darüber reden zu können. Das war das Schlimmste. Heimkommen und den Augenblick verpasst zu haben, den richtigen Augenblick, darüber zu berichten, die Polizei einzuschalten, den Täter zu verfolgen. Sie dachte an ihren Mann, der sie vielleicht nicht mehr lieben würde, der ihr vielleicht sogar die Schuld geben würde und dann – die Polizei einschalten, mit all den unangenehmen Fragen? Das Gerede der Leute aushalten müssen, ihr Mann wäre dem ebenso ausgesetzt, in seiner Pfarrei, ihr Mann, der täglich mit vie-len Menschen zusammentraf, wie hätte er sie vor dem Gerede und Getuschel, den Vermutungen schützen können? Nein. Niemand sollte davon erfahren. Sie wollte alleine damit fertig werden und hoffte nur eines: nicht schwanger geworden zu sein von jenem Mann, den sie abgrundtief hasste, denn auch ein Kind von ihm, dem Unbekannten, würde sie nicht lieben können. Sie wusste es damals schon.
Abtreibung? Sicher, daran hatte sie im ersten Moment auch gedacht, aber der Respekt vor dem ungeborenen Leben verbot ihr den Gedanken weiter zu denken, in ihn die Tat umzusetzen.
Ein banges Warten begann ehe sie die Gewissheit hatte: Sie erwartete ein Kind. Ihr Mann war überglücklich, ahnte er doch nichts von ihren geheimen Befürchtungen: Wer war der wirkliche Vater? Sie versuchte sich zufrieden zu geben, hoffte immer noch, ihr Mann sei der tatsächliche Vater. An anderen Tagen war sie davon überzeugt, dass die Geburt alles an den Tag bringen würde: das Aussehen des Kindes würde Rätsel aufgeben und sie verdächtigen, einen Seitensprung begangen zu haben. Die untreue Ehefrau oder die vergewaltigte, egal, ihre Ehe wäre zerstört, das Vertrauen verschwunden.
„Wo hast du Bettina gesehen?“, erkundigte sich Karls Vater behutsam. „Auf dem Spielplatz.“ Absolut sicher antwortete Karl. „Auf dem Spielplatz?“ Karl nickte bestätigend und schob sein Bild wieder ein.
Reaktion des Vaters auf seinen Sohn, als er wieder von Bettina spricht
Karl, sein Sohn. Der Pfarrer sah ihn wehmütig an. Er hätte sich auch einen anderen Sohn gewünscht. Sicher. Aber nur vor sich selbst, in seinen geheimsten Gedanken gab er diesen Wunsch zu, niemals vor seiner Frau, die deutlich mehr litt, als er selbst. Karl, der hübsche Kerl, der sich so merkwürdig verhielt, der sich weigerte, sich anständig anzuziehen, der daherkam wie ein Obdachloser, obwohl doch jeder in seiner Nachbarschaft wusste, wie gepflegt es im Pfarrhaus zuging. Karl, den jeglicher Müll faszinierte, aus unerklärlichen Gründen. Karl, der sich sträubte und wehrte, wenn man ihn zärtlich umarmen wollte. Was war los mit diesem Jungen? Äußerlich und vom Alter her ein junger Mann, in seinem Gemüt ein Kind. Trotzdem, er hatte ihn angenommen. Er als Pfarrer sah hier eine Gelegenheit, den Leuten zu beweisen, wie gelebtes Christentum aussah. Liebe deinen Nächsten, liebe deinen Sohn. Er tat es, er versuchte es, auch wenn es nicht immer gelang und er mit Gott haderte in einsamen Nächten, die er rasch vergessen wollte.
Wie hatte er dagegen sein kleines Mädchen geliebt, von der ersten Sekunde seines Lebens an. Unbeschreiblich war dieses Glück, ein gesundes Kind haben zu dürfen. Sein Sonnenschein, der jetzt sein Engel geworden war, nach diesem schrecklichen Unfall, vor nun vier Jahren. Alle schienen so glücklich gewesen zu sein, auch seiner Frau gelang es besser, ihren Sohn Karl mit seinen Eigenheiten anzunehmen, noch dazu, als sich herausstellte, dass die kleine Schwester so an Karl hing und dieser sich rührend um sie kümmerte, ja geradezu aufzublühen begann und sie schon zu hoffen wagten, Karl würde sich endlich weiter entwickeln, seinem Alter gemäß.
Fünf Jahre währte dieses Glück ehe es brutal zerbrach.
Kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall hatte er sich um eine Stelle als Krankenhauspfarrer beworben. Er kümmerte sich nun um Menschen im Krankenhaus und um die Bewohner des Altenheimes.
Sie waren auch umgezogen. Seine Frau hatte es nicht mehr ausgehalten, täglich auf die Stelle blicken zu müssen, an der Bettina in ihr Unglück gerannt war. Von einem Stadtviertel in das andere, er hatte auf das Pfarrhaus verzichtet, es seinem Nachfolger überlassen, war letztlich auch froh, in einem anderen Stadtteil zu wohnen. Hier war sein Unglück nicht mehr täglich gegenwärtig, nicht nach außen sichtbar. Gewiss, er dachte jeden Tag daran, bestimmt auch seine Frau, obwohl sie nie miteinander darüber sprachen. Unausgesprochene Vorwürfe breiteten sich aus zwischen ihnen, nie gesagte, auch nicht angedeutete und trotzdem spürbar wie allerfeinste Nadelstiche.
Er hatte damals eine Panne gehabt und einen wichtigen Termin, er hatte seine Frau gebeten, ihn abzuholen, hatte nicht daran gedacht, dass sie Karl nicht allein mit Bettina zurücklassen sollte, hatte nicht geahnt, wie gefährlich das sein könnte.
Alles war zu schnell gegangen. Schicksal? Er suchte Trost in seinem Glauben, einen Trost, den er seiner Frau nicht vermitteln konnte. Sie war nicht bereit, das Unglück anzunehmen, versank zunehmend in Bitterkeit und Depression. Er befürchtete an manchen Tagen sogar, sie könnte sich etwas antun, oder auch Karl, den anzunehmen ihr immer schwerer fiel.
Trotz des Wohnungswechsels hatte Karl keine Schwierigkeiten, seinen üblichen Weg zu gehen: Zum Spielplatz und zurück, am Morgen, wo er sich allerdings am Nachmittag herumtrieb, war nicht aus ihm herauszubringen. Manchmal begegneten sie sich unerwartet, vor dem Supermarkt oder auch auf dem Friedhof. Während er versuchte mit Karl zu sprechen, tat dieser so, als wäre er ein Unbekannter, ignorierte ihn einfach, im Gegensatz zu Tonne, der ihn stets stürmisch begrüßte.
Er hatte es aufgegeben, sich um Karl unnötige Sorgen zu machen, er fühlte immer mehr eine innere Gewissheit, die ihm das Gefühl gab, dass sein Sohn gut beschützt würde, irgendwie vertraute er auf sein Gefühl und sein Sohn fand stets wieder zurück, kam einigermaßen pünktlich zum Essen, der Hunger trieb ihn heim und sein prall gefüllter Müllsack, gefüllt mit seinen Schätzen. Eigentlich war er mit so wenig zufrieden, stellte er immer wieder fest, aber er gab auch so wenig, schien seine Liebe nicht zu erwidern, jedenfalls nicht so, wie er sich das immer vorgestellt hatte. Liebender Vater, liebender Sohn, Zeit für gemeinsame Spiele, Zeit für Gespräche …
Karl erinnert sich an Bettina
Vorsichtig nahm Karl die Steine in die Hand, er prüfte sie und rieb den Schmutz an seinen Hosenbeinen ab, hielt sie abwägend in der Hand, strich behutsam darüber und legte sie schließlich in eine rote Schachtel zu anderen Steinen, die alle glitzernde Stellen aufwiesen. Er war zufrieden mit der Ausbeute seiner heutigen Schatzsuche. Tastend fuhr er mit seiner rechten Hand noch einmal in den Müllsack und erspürte noch etwas Hartes, das er erstaunt herausnahm.
Er hielt einen rosaroten Stein in der Hand, der durchsichtig schimmerte und die Form eines Herzens hatte. Zärtlich hielt er ihn an seine Wange, spürte die Kühle. Bewundernd drehte und wendete er ihn. Woher hatte er diesen Stein bloß? Er konnte sich nicht erinnern, ihn aus einem Mülleimer geholt zu haben. Versunken starrte er auf den Stein, da endlich fiel es ihm wieder ein: Das fremde Mädchen. Bettina. Sein Engel. Aber das Mädchen wollte nicht Bettina genannt werden, das hatte er schon gemerkt. Melanie hieß sie, jetzt wusste er es wieder. Sie hatte ihm ein Geschenk gemacht, heute auf dem Spielplatz. Melanie. Er zerrte das Bild seiner Schwester aus der Hosentasche. Bettina oder Melanie?
Er sehnte sich so nach Bettina, nach ihrem Lachen, ihrer zärtlichen Hand, ihrer unbekümmerten Zuneigung, die auch er erwidern konnte, ohne in eine starre abwehrende Haltung zu versinken. Er suchte sie immer noch, inzwischen heimlich, denn er spürte unbewusst, wie unerträglich es für seine Eltern war, ihn bei seiner Suche nach Bettina zu ertappen. Er fühlte auch die tiefe Abneigung seiner Mutter, die ganz innen in ihr steckte, tief verborgen. Aber er hatte seine Mutter auch anders erlebt.
Zu Bettinas Zeiten. Strahlend, zufrieden, zärtlich, war sie da gewesen, auch ihm gegenüber liebevoll. Ohne innere Abneigung, das hatte er gespürt. Seine Liebe zu Bettina hatte ihm die Liebe seiner Mutter gebracht.
Aber tatsächlich war es anders gewesen: Bettina hatte seiner Mutter gezeigt wie sie ihn lieben konnte, ihn, den komischen Kerl, der von allen so misstrauisch beobachtet wurde, über dessen merkwürdiges Verhalten ständig geredet wurde. Bettina ahnte nichts davon, sie nahm ihn an, als Mensch und Bruder. Das war es, was seine Mutter dazu gebracht hatte, ihn auch anzunehmen, kurze Zeit wenigstens. Aber davon ahnte er nichts. Wusste nicht, dass sie ihm die Schuld an Bettinas Tod gab und vor allem sich selbst.
Sie hatte ihm ihr Grab gezeigt, versucht zu erklären, dass Bettina jetzt im Himmel sei, ein Engel wäre, der auf ihn heruntersehen würde, ihn ständig begleiten würde. Es hatte lange gedauert, bis er einigermaßen begriffen hatte. Tot. Das war Starre, das war Verschwinden, das war nicht mehr da sein. Die tote Maus, die er gefunden hatte, eines Tages, tot, wie Bettina. Er wollte sie näher untersuchen, wollte herausfinden, was mit ihr passieren würde. Wäre sie auch im Himmel zu finden oder würde sie ein Engel werden wie Bettina? Er konnte es nicht herausfinden. Die tote Maus war plötzlich verschwunden, nicht mehr aufzufinden. Wie Bettina.
Vierte Begegnung: Melanies Buch über Schutzengel
Melanie wartete schon lange. Endlich sah sie Tonne herankommen, konzentriert eine fremde Spur verfolgend. Leise rief sie ihn und blitzschnell sauste er Schwanz wedelnd auf sie zu und sprang an ihr hoch. Während sie ihn streichelte, blickte sie sich suchend nach Karl um, der meist in der Nähe des Hundes war. Karl suchte Tonne, hatte ihn aus den Augen verloren und blickte sich ebenfalls suchend um. „Hier“, schrie Melanie, „hier sind wir.“ Sie winkte mit den Armen, um Karl auf sich aufmerksam zu machen. Endlich. Er kam näher, beschleunigte seine Schritte. „Na, heute schon gute Beute gemacht?“, wollte sie wissen.
Verwirrt sah Karl sie an. „Hast du heute schon einen Schatz gefunden?“, fragte sie hartnäckig weiter. Jetzt begriff Karl. Er öffnete seinen blauen Sack und ließ sie hineinschauen. Neugierig blickte sie hinein, konnte aber nichts Besonderes entdecken, lediglich ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase und schnell wandte sie den Kopf ab. Karl schleifte den Sack schon zum nächsten Papierkorb und erforschte dessen Inhalt mit den bloßen Händen. Nach kritischer Begutachtung ließ er immer wieder etwas in den Sack fallen. Melanie spielt lieber mit Tonne als im Abfall zu wühlen. Sie wollte mehr über Bettina erfahren, unbedingt. Aber Karl war ein schwieriger Kerl, nicht gefährlich, aber seltsam, merkwürdig. Er wirkte so, als ob er sie nicht richtig verstehen könnte. Warum bloß? Fragte sich Melanie immer wieder. Sie wollte es herausfinden, alles über ihn und auch über Bettina. Gespannt setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete Karl.
„Karl, komm bitte her“, forderte sie ihn auf. „Schau, was ich hier habe.“ Sie winkte mit einem Gegenstand. Das wirkte. Karl kam zu ihr und wartete darauf, diesen genauer anschauen zu dürfen. Melanie klopfte einladend auf die Bank und Karl setzte sich. Langsam öffnete Melanie ein kleines Buch, das sie mitgebracht hatte und hielt es erwartungsvoll Karl entgegen. Karl riss es ihr aus der Hand und starrte ungläubig auf die Bilder. Sie spürte die Veränderung, die unerwartet in ihm vorging und plötzlich begann sie sich zu fürchten. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Karl blätterte immer wieder die wenigen Seiten vor und zurück, als suchte er etwa Bestimm-tes. „Engel“, murmelte er, „Bettina.“ „Wo ist Bettina?“, fragte Melanie. „Engel im Himmel“, erwiderte Karl und warf einen flüchtigen Blick nach oben, als suchte er sie dort zwischen den Wolken. „Schutzengel“, erklärte Melanie, mit dem Zeigefinger auf das Bild eines Engels deutend, der ein Kind sicher über die Straße geleitete.
Aber Karl verfiel in düsteres Schweigen und weigerte sich mit Melanie zu sprechen.
Bettina (3)
Sie bohrt ihre nackten Zehen in den warmen Sand, gießt aus der kleinen Wasserkanne Wasser darüber und matscht den Sand mit den Händen zu einem kleinen Berg, unter dem sie ihre Zehen verstecken will. Immer wieder springt die Sanddecke auseinander. Zu trocken, stellt er fest, steht auf und holt frisches Wasser, das er in die Sandkiste schüttet, während ihre Hände eifrig den feuchten Sand glatt streichen. Hilfe, meine Füße sind weg! Und er tut so, als ob er sie verzweifelt suche, rennt im Garten herum und sucht hinter den Sträuchern, schaut in den Schuppen, hinter das Haus, blickt prüfend in die Krone des Apfelbaumes, versucht ihn sogar zu schütteln. Sie lacht und lacht, hält es endlich nicht mehr aus und stößt ihre Füße ruckartig aus dem Sandhügel in die Luft, wackelt mit den verklebten Zehen und schreit. Hier, hier sind sie, ich habe sie wieder hergezaubert. Und er tut verwundert, ganz erstaunt. Plötzlich sind die Füße wieder da, wie ist das möglich. Sie kann tatsächlich zaubern. Bettina.
Jetzt ist er dran, muss im feuchten Sand sitzen, sich begießen lassen, darf seine Füße nicht bewegen, muss stillhalten, Bettina hat ihn verzaubert. Beschmiert ihn genussvoll mit dem feuchten Sand, schmiert ihn auf seine Wangen, die Nase, die Hände, es kitzelt, aber er muss still halten, ist verzaubert in einen Stein, ist unbeweglich. Sie betrachtet stolz ihr Werk, marschiert um ihn herum, begutachtet ihr Kunstwerk, bewegt die Hände, murmelt unverständliche Zaubersprüche, klopft ihm plötzlich auf die Schulter und ruft. Du bist erlöst, du bist wieder mein Bruder. Steh auf. Sofort. Da muss er aufspringen, so schnell wie er kann, muss ihrem Zauberspruch folgen, muss wieder der Bruder werden. So schnell, dass sie fast ein bisschen erschrickt, um sich danach umso mehr zu freuen. Bettina, die kleine Zauberin.
Enttäuscht nahm Melanie Karl das Buch aus der Hand und steckte es in ihren kleinen Rucksack zurück.
Ein helles Bellen riss Karl jäh aus seiner Gedankenwelt. Tonne stupste auffordernd seine Hand an und sprang an ihm hoch. Langsam nahm Karl wieder wahr, wo er sich befand: er war auf dem Spielplatz, das fremde Mädchen saß noch eben ihm, blickte ihn besorgt an, aber das Buch war verschwunden, kein Schutzengel war mehr zu sehen.
Er fühlte sich unendlich müde und wollte nur nach Hause, sich auf sein Bett legen, allein sein, allein mit Bettina, die ihn überallhin begleitete, auch wenn es keiner glauben wollte. Er wusste es, er fühlte ihre Nähe.
Langsam packte er seinen Müllsack, erhob sich schwerfällig von der Bank, rief Tonne zu sich und machte sich auf den Heimweg, ohne Melanie, die ihm enttäuscht nachsah, unfähig ihm hinterherzulaufen, noch eines Blickes zu würdigen.
Als sie wieder allein war, zog Melanie noch einmal das Buch aus dem Rucksack und starrte nachdenklich auf das kleine Bild, das bei Karl so unerwartete Reaktionen hervorgerufen hatte.
16 Montag Okt 2017
Posted Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur
inSchlagwörter
Depression, Freude, Freundschaft, Hoffnung, Hund, Kindheit, Leben, Liebe, Tod, Trauer, Verzweiflung
Fortsetzungsgeschichte
Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.
Bettina (2)
Schulter an Schulter sitzen, ihren vertrauten Duft riechen, ihrer hellen Stimme lauschen, dem ausgestreckten Finger folgen, der unermüdlich auf Bilder zeigt, mal hier, mal dort hin wandert, eine Geschichte einfordernd. Eine Geschichte von ihm, ausgerechnet von ihm, der kaum ein Wort spricht. Bettina weiß das nicht, hat keine Ahnung. Ihr Bruder ist groß, also kann er eine Geschichte erzählen, so wie alle anderen Großen. Bettina klopft ungeduldig auf die kleinen bunten Bilder, blickt ihn fragend an. Er quält sich, kennt die Bilder, sucht nach den passenden Worten, sie zu beschreiben, fördert sie mühsam an die Oberfläche, längst gehörte Worte, stottert zunächst, sieht Bettinas aufmerksame zufriedene Miene, das gibt ihm Mut und die nächsten Worte holt er mühelos aus seinem Gedächtnis, bringt sie nahezu flüssig über die Lippen. Bettina wiederholt sie andächtig. Junge. Katze. Auto. Baum. Das Staunen der Mutter über Bettinas neue Wörter. Von ihm, dem wortlosen Bruder.
An manchen Tagen fühlt er sich beobachtet, spürt die Augen seiner Mutter forschend in seinem Rücken, versteht nicht den Grund, fühlt sich unbehaglich, ohne zu wissen warum. Dann, am Abend, als Bettina ihm die Arme um den Hals schlingt, er seinen Gute-Nacht-Kuss erhält, da legt auch seine Mutter die Arme um ihn, hält ihn ganz kurz und streicht ihm über den Kopf. Flüstert: Du magst Bettina wohl sehr. Gute Nacht, schlaf gut und träum schön. Ganz warm wird es ihm, eine nie gekannte Freude breitet sich in ihm aus. Noch im Bett spürt er die Umarmung seiner Mutter, kann lange nicht einschlafen, aufgewühlt vor freudiger Erregung.
Auf den weiter entfernteren Wegen zwischen den Gräberreihen waren undeutliche Stimmen zu hören. Fremde Leute näherten sich, Melanie bückte sich rasch und untersuchte ihre Schuhe, als sie sich wieder aufrichtete, waren Karl und Tonne plötzlich verschwunden, nirgends zu entdecken. Neugierig suchte sie nun ebenfalls das Grab, das ihr mehr von Karl verraten würde.
Die blitzende Glasscherbe zeigte es ihr. Gespannt stand sie vor einem schlichten Holzkreuz, versuchte mühsam die Aufschrift zu entziffern, die verschnörkelten Buchstaben sahen so gar nicht aus wie die Buchstaben in ihrem Lesebuch.
„Bettina H.., geb. am …, gest. am…..“ Ein winziges Bild war am Kreuz befestigt und wieder erkannte sie das Mädchen, das ihr so ähnlich sah: Bettina.
Karl kommt heim
Karl öffnete das Gartentor und klingelte lange an der Tür.
„Da bist du ja endlich, wird auch Zeit.“ Kopfschüttelnd warf seine Mutter einen resignierten Blick auf die schmutzigen Schuhe ihres Sohnes, nahm Karl in seiner ganzen Gestalt wahr und wunderte sich immer aufs Neue, da stand Karl vor ihr, ihr verwirrter Sohn, der nicht in saubere Kleidung zu pressen war, so oft sie es auch schon versucht hatte.
Erinnerungen der Mutter an Bettina
Die Kleine hatte Karl angehimmelt, war ihm gefolgt seit sie laufen konnte, irgendetwas faszinierte das Mädchen an Karl. Die beiden verstanden sich ohne viele Worte, sprachen ihre eigene Sprache, lebten in ihrer eigenen Welt.
Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie Bettina Karls Aufsicht überließ. Sie musste plötzlich weg.
Karl und Bettina waren in ein Spiel versunken, sie hoffte rasch zurückzukommen, dachte es könne nichts passieren. In ihrer Eile hatte sie vergessen, dass es der Tag der Müllabfuhr war. Müll übte auf Karl eine unerklärliche Faszination aus, Müll zog ihn magnetisch an. Vergessen. Wie konnte sie das vergessen?
Tonne sprang an ihr hoch und wollte gestreichelt werden, erwartete ein Wort zur Begrüßung.
Tonne, wie hatte sie diesen Hund gehasst, heute ist ihr das unvorstellbar. Tonne war wirklich unschuldig, während sie, die mit Verstand begabt war, versagt hatte. Sie und Karl, aber auch Karl war unschuldig. Das große Kind, dessen Gedankengänge niemand nachvollziehen konnte, Karl, der nie erwachsen werden würde, ihn traf keine Schuld, auch wenn sie ihn damals angeschrien hatte in ihrer Verzweiflung, warum er nicht aufgepasst hätte, sollte er ihr sagen.
Karl, der Bettina ebenso verzweifelt gesucht hatte, überall im ganzen Haus, Karl, der sie immer noch sucht, der neuerdings wieder von ihr spricht, von Bettina, seinem Engel, dem er begegnet sei, vor wenigen Tagen erst.
Eines hatte sie erzwungen: Karl musste sich stets umziehen und sich säubern, bevor er sich zu ihnen an den Tisch setzte, zum gemeinsamen Essen. Ihr Mann hatte angerufen, er würde erst viel später kommen, war aufgehalten worden, war ins Krankenhaus gerufen worden.
Schweigend füllte sie Karls Teller mit Bratkartoffeln und Spiegeleiern, stellte die Schüssel mit Salat in seine Reichweite und setzte sich an den Tisch, ihn aufmerksam beobachtend.
Irgendwie schien er ihr verändert. Seit Tagen schon spürte sie diese Veränderung, ohne sie konkret beschreiben zu können. Unruhe hatte sie wieder erfasst, die Nächte wurden zur Qual, Gedanken bedrängten sie unablässig, raubten ihr den Schlaf, führten ihr Bilder vor, die sie längst vergessen glaubte, machten ihr deutlich, wie einsam sie war, obwohl neben ihr die gleichmäßigen Atemzüge ihres Mannes die Nähe eines Menschen verrieten.
Wochenlang litt sie damals unter ihrer Schlaflosigkeit, zwang sich täglich am Morgen aufzustehen, obwohl sie sich zerschlagen fühlte und ganz wirr war im Kopf von all den Gedanken und Bildern, denen sie in der Nacht begegnet ausgesetzt war.
Täglich aufs Neue das Frühstück richten, Karl und ihren Mann versorgen, der die beiden dann allein zurückließ, sie ihrem Schweigen überließ, sich um die Sorgen und Nöte fremder Menschen kümmerte, während sein Sohn und seine Frau gefangen waren in ihren eigenen Nöten.
Karls Tagesablauf
Karls Tagesablauf hatte seine besondere Regelung: Nach dem Frühstück drehte er eine Runde mit Tonne, dabei ging er immer die gleiche Tour: den Weg zum Spielplatz und zurück. Sie wusste, dass er immer seine blaue Tüte dabei hatte, für seine Schätze, wie er die gesammelten Abfälle nannte.
Wieder zurück verschwand er in dem Schuppen hinter dem Haus oder in seinem Zimmer, untersuchte seine Beute und begann sie zu ordnen, nach eigenen Maßstäben, die ihr fremd und merkwürdig erschienen. Er kippte alles auf einen Teppich, der immer mehr Spuren seiner Schätze aufwies, nahm seine Fundsachen prüfend in die Hand, putzte und wischte daran herum, ehe er sie sorgfältig in kleine Schachteln steckte, die sie ihm nach und nach besorgt hatte. Er hatte es auch zugelassen, dass sie gemeinsam die Schachteln bemalten, die er nun an der Wand entlang stapelte.
Heimlich kontrollierte sie inzwischen die Schachteln nachdem Karl einmal eine tote Maus darin versteckt hatte, eingewickelt in gelbes Seidenpapier. Der widerliche Geruch, den das tote Tier verströmte und von dem sie erst nicht wusste, worauf er zurückzuführen war, ließ sie zu Vorsichtsmaßnahmen greifen. Sie sah sich gezwungen dazu, obwohl sie gewiss nicht vorhatte, ihren Sohn auszuspionieren. Aber tote Tiere, das ging zu weit.
Während Karl in seinem Zimmer beschäftigt war, kümmerte sie sich um den Haushalt, sie konnte sicher sein, nicht gestört zu werden.
Zum Mittagessen saßen sie meist gemeinsam am Tisch, Tonne lag unter dem Tisch, stets auf Leckerbissen hoffend, die Karl heimlich fallen ließ, trotz der warnenden Blicke, die ihm sein Vater zuwarf. Schweigen herrschte zwischen den Menschen, zog konzentrische Kreise um die Anwesenden, von denen jeder versunken schien in seine eigene Welt. Das fordernde Bellen des Hundes ließ sie zusammenfahren, brachte sie wieder zurück in ihre gemeinsame Welt. Wie aus einem Traum erwachend blickten sie sich dann verlegen an und versuchten, mit Hilfe von mühsam herausgewürgten Worten die verloren gegangene Nähe wieder herzustellen. Aber sie war nie da gewesen, diese Nähe, die jeder sich ersehnte, konnte deshalb nicht wieder gewonnen werden, müsste erst entstehen, wachsen.
„Bettina“, murmelte Karl. Die Frau und der Mann warfen erschrocken die Köpfe hoch, blickten sich vielsagend an: Es wird doch nicht wieder losgehen, Karls Suche nach Bettina?
Karls Verhalten nach Bettinas Tod (aus der Sicht der Mutter)
Schreiend war Karl durch das Haus gelaufen, hatte in allen Winkeln gesucht, alle Möbel verschoben, das Bettzeug herausgerissen, die Gardinen von den Schienen gezerrt, die Schränke durchwühlt, immer schreiend, „Bettina“, schluchzend, nach Stunden nur noch heiser den Namen flüsternd, bis ihn schließlich ein Arzt mit Hilfe einer Beruhigungsspritze in einen unruhigen Schlaf taumeln ließ.
Und dann auch noch Tonne, das Hundebaby, jammernd, winselnd, hilflos, das am Boden mehr kroch als rannte, überall Pfützen hinterlassend, in die Karl trampelte in seiner Fassungslosigkeit.
Bettina, unser kleiner Sonnenschein, Bettina, die uns verlassen hatte, war ihrem Bruder, den sie so liebte, nachgelaufen. vertrauensvoll.
Karl, um den sie sich stets sorgte, sobald er allein unterwegs war, Karl, der Zerstreute, er hatte überlebt, schien auf seinen Gängen stets zuverlässig von einem Schutzengel beschützt zu werden, Karl ihr Sorgenkind lebte.
Karl wiederholte es noch einmal: „Bettina ist wieder da.“ Diesmal ganz deutlich. Er zog das kleine Bild aus seiner Hosentasche und legte es auf den Küchentisch: „Bettina ist wieder da.“
War das ein Rückfall? Verzweifelt blickten sich der Mann und die Frau an. Mühsam hatten sie versucht, ihm klar zu machen, dass Bettina nicht mehr unter ihnen war. Waren mit ihm auf den Friedhof gegangen, hatten ihm erklärt, dass sie hier ruhte und dass es ihr nun gut ginge. Aber Karl wollte oder konnte das nicht verstehen, begann wie ein Irrer in der Erde zu wühlen, riss Pflanzen heraus, die Leute begannen sich zu beschweren, der Friedhofswärter sprach sie an, mit Rücksicht auf die anderen, die hier ruhten und deren Angehörigen, sie müssten doch verstehen, die wollten nicht in ihrer stillen Andacht gestört werden durch einen der schrie und tobte, auch wenn es ein Ausdruck der Trauer war, aber alles musste doch ruhig, gefasst vor sich gehen. Gewiss, er hätte Verständnis, beteuerte er mehrmals, aber, wie gesagt, die Friedhofbesucher waren da anderer Ansicht, auch wenn es sich um den Sohn des Pfarrers handelte, alles musste seine Ordnung haben. Sie hatte schon verstanden: Karl war ein öffentliches Ärgernis.
05 Samstag Aug 2017
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in29 Donnerstag Jun 2017
25 Sonntag Jun 2017