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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Foto

Tonne (3)

21 Samstag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Depression, Foto, Freude, Freundschaft, Hund, Leben, Liebe, Tod, Trauer

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Reaktion der Leute auf Karls Behinderung

Wie hatten sich die Leute das Maul zerrissen, als sie allmählich merkten wie es um des Pfarrers Sohn bestellt war: Er war einfach anders als die anderen. Im Kindergarten fiel das nicht so deutlich auf, aber in der Grundschule traten massive Probleme auf: Karl war einfach überfordert, an der falschen Schule. Ihrem Mann wurde es allmählich peinlich, dass er, der angesehene Pfarrer, einen behinderten Sohn hatte, der keinerlei Rücksicht nahm auf den Ruf des Vaters. Aber ihr Mann liebte ihn, trotz der Schwierigkeiten, sie fühlte das, während sie ihn nicht so annehmen konnte wie er war, so sehr sie sich auch Mühe gab. Es gab Momente, da verabscheute sie sich selbst: Eine Mutter, die ihr eigenes Kind nicht liebte? Noch dazu die Frau eines Pfarrers. Aber war Karl wirklich ihr eigenes Kind? War er ihr nicht aufgezwungen worden von einem Fremden, der sie gewalttätig überfallen hatte, an jenem Abend, der in ihren Träumen immer wieder auftauchte, jener Abend, der ihr zum Schicksal geworden war?
Wie hatte sie sich geschämt, wie war sie verzweifelt gewesen, dass ausgerechnet ihr das passieren musste: Eine Vergewaltigung. Welch harmloses Wort im Vergleich zur grausamen Realität. Hilflos ausgeliefert zu sein, trotz heftigster Abwehr zu unterliegen, fremde Gewalt ertragen zu müssen, sie auszuhalten und danach wieder aufzustehen und so völlig allein zu sein, getrennt von allen anderen, mit keinem darüber reden zu können. Das war das Schlimmste. Heimkommen und den Augenblick verpasst zu haben, den richtigen Augenblick, darüber zu berichten, die Polizei einzuschalten, den Täter zu verfolgen. Sie dachte an ihren Mann, der sie vielleicht nicht mehr lieben würde, der ihr vielleicht sogar die Schuld geben würde und dann – die Polizei einschalten, mit all den unangenehmen Fragen? Das Gerede der Leute aushalten müssen, ihr Mann wäre dem ebenso ausgesetzt, in seiner Pfarrei, ihr Mann, der täglich mit vie-len Menschen zusammentraf, wie hätte er sie vor dem Gerede und Getuschel, den Vermutungen schützen können? Nein. Niemand sollte davon erfahren. Sie wollte alleine damit fertig werden und hoffte nur eines: nicht schwanger geworden zu sein von jenem Mann, den sie abgrundtief hasste, denn auch ein Kind von ihm, dem Unbekannten, würde sie nicht lieben können. Sie wusste es damals schon.
Abtreibung? Sicher, daran hatte sie im ersten Moment auch gedacht, aber der Respekt vor dem ungeborenen Leben verbot ihr den Gedanken weiter zu denken, in ihn die Tat umzusetzen.
Ein banges Warten begann ehe sie die Gewissheit hatte: Sie erwartete ein Kind. Ihr Mann war überglücklich, ahnte er doch nichts von ihren geheimen Befürchtungen: Wer war der wirkliche Vater? Sie versuchte sich zufrieden zu geben, hoffte immer noch, ihr Mann sei der tatsächliche Vater. An anderen Tagen war sie davon überzeugt, dass die Geburt alles an den Tag bringen würde: das Aussehen des Kindes würde Rätsel aufgeben und sie verdächtigen, einen Seitensprung begangen zu haben. Die untreue Ehefrau oder die vergewaltigte, egal, ihre Ehe wäre zerstört, das Vertrauen verschwunden.

„Wo hast du Bettina gesehen?“, erkundigte sich Karls Vater behutsam. „Auf dem Spielplatz.“ Absolut sicher antwortete Karl. „Auf dem Spielplatz?“ Karl nickte bestätigend und schob sein Bild wieder ein.

Reaktion des Vaters auf seinen Sohn, als er wieder von Bettina spricht

Karl, sein Sohn. Der Pfarrer sah ihn wehmütig an. Er hätte sich auch einen anderen Sohn gewünscht. Sicher. Aber nur vor sich selbst, in seinen geheimsten Gedanken gab er diesen Wunsch zu, niemals vor seiner Frau, die deutlich mehr litt, als er selbst. Karl, der hübsche Kerl, der sich so merkwürdig verhielt, der sich weigerte, sich anständig anzuziehen, der daherkam wie ein Obdachloser, obwohl doch jeder in seiner Nachbarschaft wusste, wie gepflegt es im Pfarrhaus zuging. Karl, den jeglicher Müll faszinierte, aus unerklärlichen Gründen. Karl, der sich sträubte und wehrte, wenn man ihn zärtlich umarmen wollte. Was war los mit diesem Jungen? Äußerlich und vom Alter her ein junger Mann, in seinem Gemüt ein Kind. Trotzdem, er hatte ihn angenommen. Er als Pfarrer sah hier eine Gelegenheit, den Leuten zu beweisen, wie gelebtes Christentum aussah. Liebe deinen Nächsten, liebe deinen Sohn. Er tat es, er versuchte es, auch wenn es nicht immer gelang und er mit Gott haderte in einsamen Nächten, die er rasch vergessen wollte.
Wie hatte er dagegen sein kleines Mädchen geliebt, von der ersten Sekunde seines Lebens an. Unbeschreiblich war dieses Glück, ein gesundes Kind haben zu dürfen. Sein Sonnenschein, der jetzt sein Engel geworden war, nach diesem schrecklichen Unfall, vor nun vier Jahren. Alle schienen so glücklich gewesen zu sein, auch seiner Frau gelang es besser, ihren Sohn Karl mit seinen Eigenheiten anzunehmen, noch dazu, als sich herausstellte, dass die kleine Schwester so an Karl hing und dieser sich rührend um sie kümmerte, ja geradezu aufzublühen begann und sie schon zu hoffen wagten, Karl würde sich endlich weiter entwickeln, seinem Alter gemäß.
Fünf Jahre währte dieses Glück ehe es brutal zerbrach.
Kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall hatte er sich um eine Stelle als Krankenhauspfarrer beworben. Er kümmerte sich nun um Menschen im Krankenhaus und um die Bewohner des Altenheimes.
Sie waren auch umgezogen. Seine Frau hatte es nicht mehr ausgehalten, täglich auf die Stelle blicken zu müssen, an der Bettina in ihr Unglück gerannt war. Von einem Stadtviertel in das andere, er hatte auf das Pfarrhaus verzichtet, es seinem Nachfolger überlassen, war letztlich auch froh, in einem anderen Stadtteil zu wohnen. Hier war sein Unglück nicht mehr täglich gegenwärtig, nicht nach außen sichtbar. Gewiss, er dachte jeden Tag daran, bestimmt auch seine Frau, obwohl sie nie miteinander darüber sprachen. Unausgesprochene Vorwürfe breiteten sich aus zwischen ihnen, nie gesagte, auch nicht angedeutete und trotzdem spürbar wie allerfeinste Nadelstiche.
Er hatte damals eine Panne gehabt und einen wichtigen Termin, er hatte seine Frau gebeten, ihn abzuholen, hatte nicht daran gedacht, dass sie Karl nicht allein mit Bettina zurücklassen sollte, hatte nicht geahnt, wie gefährlich das sein könnte.
Alles war zu schnell gegangen. Schicksal? Er suchte Trost in seinem Glauben, einen Trost, den er seiner Frau nicht vermitteln konnte. Sie war nicht bereit, das Unglück anzunehmen, versank zunehmend in Bitterkeit und Depression. Er befürchtete an manchen Tagen sogar, sie könnte sich etwas antun, oder auch Karl, den anzunehmen ihr immer schwerer fiel.

Trotz des Wohnungswechsels hatte Karl keine Schwierigkeiten, seinen üblichen Weg zu gehen: Zum Spielplatz und zurück, am Morgen, wo er sich allerdings am Nachmittag herumtrieb, war nicht aus ihm herauszubringen. Manchmal begegneten sie sich unerwartet, vor dem Supermarkt oder auch auf dem Friedhof. Während er versuchte mit Karl zu sprechen, tat dieser so, als wäre er ein Unbekannter, ignorierte ihn einfach, im Gegensatz zu Tonne, der ihn stets stürmisch begrüßte.
Er hatte es aufgegeben, sich um Karl unnötige Sorgen zu machen, er fühlte immer mehr eine innere Gewissheit, die ihm das Gefühl gab, dass sein Sohn gut beschützt würde, irgendwie vertraute er auf sein Gefühl und sein Sohn fand stets wieder zurück, kam einigermaßen pünktlich zum Essen, der Hunger trieb ihn heim und sein prall gefüllter Müllsack, gefüllt mit seinen Schätzen. Eigentlich war er mit so wenig zufrieden, stellte er immer wieder fest, aber er gab auch so wenig, schien seine Liebe nicht zu erwidern, jedenfalls nicht so, wie er sich das immer vorgestellt hatte. Liebender Vater, liebender Sohn, Zeit für gemeinsame Spiele, Zeit für Gespräche …

Karl erinnert sich an Bettina

Vorsichtig nahm Karl die Steine in die Hand, er prüfte sie und rieb den Schmutz an seinen Hosenbeinen ab, hielt sie abwägend in der Hand, strich behutsam darüber und legte sie schließlich in eine rote Schachtel zu anderen Steinen, die alle glitzernde Stellen aufwiesen. Er war zufrieden mit der Ausbeute seiner heutigen Schatzsuche. Tastend fuhr er mit seiner rechten Hand noch einmal in den Müllsack und erspürte noch etwas Hartes, das er erstaunt herausnahm.
Er hielt einen rosaroten Stein in der Hand, der durchsichtig schimmerte und die Form eines Herzens hatte. Zärtlich hielt er ihn an seine Wange, spürte die Kühle. Bewundernd drehte und wendete er ihn. Woher hatte er diesen Stein bloß? Er konnte sich nicht erinnern, ihn aus einem Mülleimer geholt zu haben. Versunken starrte er auf den Stein, da endlich fiel es ihm wieder ein: Das fremde Mädchen. Bettina. Sein Engel. Aber das Mädchen wollte nicht Bettina genannt werden, das hatte er schon gemerkt. Melanie hieß sie, jetzt wusste er es wieder. Sie hatte ihm ein Geschenk gemacht, heute auf dem Spielplatz. Melanie. Er zerrte das Bild seiner Schwester aus der Hosentasche. Bettina oder Melanie?
Er sehnte sich so nach Bettina, nach ihrem Lachen, ihrer zärtlichen Hand, ihrer unbekümmerten Zuneigung, die auch er erwidern konnte, ohne in eine starre abwehrende Haltung zu versinken. Er suchte sie immer noch, inzwischen heimlich, denn er spürte unbewusst, wie unerträglich es für seine Eltern war, ihn bei seiner Suche nach Bettina zu ertappen. Er fühlte auch die tiefe Abneigung seiner Mutter, die ganz innen in ihr steckte, tief verborgen. Aber er hatte seine Mutter auch anders erlebt.
Zu Bettinas Zeiten. Strahlend, zufrieden, zärtlich, war sie da gewesen, auch ihm gegenüber liebevoll. Ohne innere Abneigung, das hatte er gespürt. Seine Liebe zu Bettina hatte ihm die Liebe seiner Mutter gebracht.
Aber tatsächlich war es anders gewesen: Bettina hatte seiner Mutter gezeigt wie sie ihn lieben konnte, ihn, den komischen Kerl, der von allen so misstrauisch beobachtet wurde, über dessen merkwürdiges Verhalten ständig geredet wurde. Bettina ahnte nichts davon, sie nahm ihn an, als Mensch und Bruder. Das war es, was seine Mutter dazu gebracht hatte, ihn auch anzunehmen, kurze Zeit wenigstens. Aber davon ahnte er nichts. Wusste nicht, dass sie ihm die Schuld an Bettinas Tod gab und vor allem sich selbst.
Sie hatte ihm ihr Grab gezeigt, versucht zu erklären, dass Bettina jetzt im Himmel sei, ein Engel wäre, der auf ihn heruntersehen würde, ihn ständig begleiten würde. Es hatte lange gedauert, bis er einigermaßen begriffen hatte. Tot. Das war Starre, das war Verschwinden, das war nicht mehr da sein. Die tote Maus, die er gefunden hatte, eines Tages, tot, wie Bettina. Er wollte sie näher untersuchen, wollte herausfinden, was mit ihr passieren würde. Wäre sie auch im Himmel zu finden oder würde sie ein Engel werden wie Bettina? Er konnte es nicht herausfinden. Die tote Maus war plötzlich verschwunden, nicht mehr aufzufinden. Wie Bettina.

Vierte Begegnung:  Melanies Buch über Schutzengel

Melanie wartete schon lange. Endlich sah sie Tonne herankommen, konzentriert eine fremde Spur verfolgend. Leise rief sie ihn und blitzschnell sauste er Schwanz wedelnd auf sie zu und sprang an ihr hoch. Während sie ihn streichelte, blickte sie sich suchend nach Karl um, der meist in der Nähe des Hundes war. Karl suchte Tonne, hatte ihn aus den Augen verloren und blickte sich ebenfalls suchend um. „Hier“, schrie Melanie, „hier sind wir.“ Sie winkte mit den Armen, um Karl auf sich aufmerksam zu machen. Endlich. Er kam näher, beschleunigte seine Schritte. „Na, heute schon gute Beute gemacht?“, wollte sie wissen.
Verwirrt sah Karl sie an. „Hast du heute schon einen Schatz gefunden?“, fragte sie hartnäckig weiter. Jetzt begriff Karl. Er öffnete seinen blauen Sack und ließ sie hineinschauen. Neugierig blickte sie hinein, konnte aber nichts Besonderes entdecken, lediglich ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase und schnell wandte sie den Kopf ab. Karl schleifte den Sack schon zum nächsten Papierkorb und erforschte dessen Inhalt mit den bloßen Händen. Nach kritischer Begutachtung ließ er immer wieder etwas in den Sack fallen. Melanie spielt lieber mit Tonne als im Abfall zu wühlen. Sie wollte mehr über Bettina erfahren, unbedingt. Aber Karl war ein schwieriger Kerl, nicht gefährlich, aber seltsam, merkwürdig. Er wirkte so, als ob er sie nicht richtig verstehen könnte. Warum bloß? Fragte sich Melanie immer wieder. Sie wollte es herausfinden, alles über ihn und auch über Bettina. Gespannt setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete Karl.
„Karl, komm bitte her“, forderte sie ihn auf. „Schau, was ich hier habe.“ Sie winkte mit einem Gegenstand. Das wirkte. Karl kam zu ihr und wartete darauf, diesen genauer anschauen zu dürfen. Melanie klopfte einladend auf die Bank und Karl setzte sich. Langsam öffnete Melanie ein kleines Buch, das sie mitgebracht hatte und hielt es erwartungsvoll Karl entgegen. Karl riss es ihr aus der Hand und starrte ungläubig auf die Bilder. Sie spürte die Veränderung, die unerwartet in ihm vorging und plötzlich begann sie sich zu fürchten. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Karl blätterte immer wieder die wenigen Seiten vor und zurück, als suchte er etwa Bestimm-tes. „Engel“, murmelte er, „Bettina.“ „Wo ist Bettina?“, fragte Melanie. „Engel im Himmel“, erwiderte Karl und warf einen flüchtigen Blick nach oben, als suchte er sie dort zwischen den Wolken. „Schutzengel“, erklärte Melanie, mit dem Zeigefinger auf das Bild eines Engels deutend, der ein Kind sicher über die Straße geleitete.
Aber Karl verfiel in düsteres Schweigen und weigerte sich mit Melanie zu sprechen.

Bettina (3)

Sie bohrt ihre nackten Zehen in den warmen Sand, gießt aus der kleinen Wasserkanne Wasser darüber und matscht den Sand mit den Händen zu einem kleinen Berg, unter dem sie ihre Zehen verstecken will. Immer wieder springt die Sanddecke auseinander. Zu trocken, stellt er fest, steht auf und holt frisches Wasser, das er in die Sandkiste schüttet, während ihre Hände eifrig den feuchten Sand glatt streichen. Hilfe, meine Füße sind weg! Und er tut so, als ob er sie verzweifelt suche, rennt im Garten herum und sucht hinter den Sträuchern, schaut in den Schuppen, hinter das Haus, blickt prüfend in die Krone des Apfelbaumes, versucht ihn sogar zu schütteln. Sie lacht und lacht, hält es endlich nicht mehr aus und stößt ihre Füße ruckartig aus dem Sandhügel in die Luft, wackelt mit den verklebten Zehen und schreit. Hier, hier sind sie, ich habe sie wieder hergezaubert. Und er tut verwundert, ganz erstaunt. Plötzlich sind die Füße wieder da, wie ist das möglich. Sie kann tatsächlich zaubern. Bettina.
Jetzt ist er dran, muss im feuchten Sand sitzen, sich begießen lassen, darf seine Füße nicht bewegen, muss stillhalten,  Bettina hat ihn verzaubert. Beschmiert ihn genussvoll mit dem feuchten Sand, schmiert ihn auf seine Wangen, die Nase, die Hände, es kitzelt, aber er muss still halten, ist verzaubert in einen Stein, ist unbeweglich. Sie betrachtet stolz ihr Werk, marschiert um ihn herum, begutachtet ihr Kunstwerk, bewegt die Hände, murmelt unverständliche Zaubersprüche, klopft ihm plötzlich auf die Schulter und ruft. Du bist erlöst, du bist wieder mein Bruder. Steh auf. Sofort. Da muss er aufspringen, so schnell wie er kann, muss ihrem Zauberspruch folgen, muss wieder der Bruder werden. So schnell, dass sie fast ein bisschen erschrickt, um sich danach umso mehr zu freuen. Bettina, die kleine Zauberin.

Enttäuscht nahm Melanie Karl das Buch aus der Hand und steckte es in ihren kleinen Rucksack zurück.
Ein helles Bellen riss Karl jäh aus seiner Gedankenwelt. Tonne stupste auffordernd seine Hand an und sprang an ihm hoch. Langsam nahm Karl wieder wahr, wo er sich befand: er war auf dem Spielplatz, das fremde Mädchen saß noch eben ihm, blickte ihn besorgt an, aber das Buch war verschwunden, kein Schutzengel war mehr zu sehen.
Er fühlte sich unendlich müde und wollte nur nach Hause, sich auf sein Bett legen, allein sein, allein mit Bettina, die ihn überallhin begleitete, auch wenn es keiner glauben wollte. Er wusste es, er fühlte ihre Nähe.
Langsam packte er seinen Müllsack, erhob sich schwerfällig von der Bank, rief Tonne zu sich und machte sich auf den Heimweg, ohne Melanie, die ihm enttäuscht nachsah, unfähig ihm hinterherzulaufen, noch eines Blickes zu würdigen.

Als sie wieder allein war, zog Melanie noch einmal das Buch aus dem Rucksack und starrte nachdenklich auf das kleine Bild, das bei Karl so unerwartete Reaktionen hervorgerufen hatte.

 

Versuch einer Erklärung

12 Dienstag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Gedicht, Kurzgeschichte, Literatur, Lyrik

≈ 4 Kommentare

Schlagwörter

Droge, Drogen, Erinnerung, Erklärung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gedicht, Gefühle, Krankenhaus, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Psychologie, Rauschgift, Rauschmittel, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Tod, Vorstellungen

VersucheinerErklärung_sm

Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich hier auf den Stuhl. Ich kann nur leise sprechen, das hat man Ihnen sicher schon gesagt. Sind Sie erstaunt über mein Aussehen? Doch, ich merke es Ihnen deutlich an, nein, versuchen Sie nicht dagegen zu reden. Wahrscheinlich habe ich Sie durch mein Äußeres erschreckt, aber ich habe keinen Spiegel und es interessiert mich auch nicht wie ich aussehe. Wozu auch, mir ist alles so gleichgültig. Am liebsten würde ich schlafen, schlafen, Tag und Nacht und irgendwann möchte ich erwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.

Aber Sie wollen mit mir reden, keine Angst, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Fangen Sie also an, ehe ich zu müde werde.

Sie wollen wissen, ob es Absicht war, was sich an jenem Abend ereignet hat? Darauf kann ich keine Antwort geben, noch nicht, denn ich bin mir selbst darüber nicht im Klaren. Vielleicht interessiert es Sie, mehr über diesen Tag zu erfahren, Sie könnten sich dann selbst Ihre Meinung bilden. Ja? Es ist eigenartig, aber irgendwie vertraue ich Ihnen. Bei allen anderen habe ich mich geweigert darüber zu sprechen. Aber ich spüre, dass ich endlich reden muss, um nicht daran zu ersticken. Bitte hören Sie nur zu und geben Sie keine Kommentare ab, schreiben Sie auch nichts mit, sonst könnte ich nicht sprechen. Sie sind einverstanden? Gut. Ich nehme an, man hat Ihnen schon eine Menge über mich erzählt und Sie haben eine gewisse Vorstellung von mir. Sicher wissen Sie noch nicht wie ich ihn kennen gelernt habe.

Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Hosengeschäft, probeweise. Was ich später machen sollte, wusste ich damals nicht. Meine Eltern erwarteten, dass ich mich um eine gute Ausbildung bemühen werde, aber ich wollte mir dazu Zeit lassen. Kurz vor Ladenschluss sah ich ihn zum ersten Mal. Mein erster Eindruck? Ich hielt ihn für eingebildet, gut aussehend, ja, aber zu arrogant. Er sah sich im Laden um, betont lässig, ohne etwas zu kaufen. Wenige Tage darauf, stand er wieder im Laden und wollte von mir beraten werden. Ich versuchte, ihn so freundlich wie die anderen Kunden auch zu behandeln. Er fand nichts Passendes. Eine Woche lang erschien er jeden Tag und allmählich schwand mein innerer Widerstand und ich willigte ein, eines Abends, mich mit ihm zu treffen. Ich war fest entschlossen, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Abwarten wollte ich, wie er sich verhalten würde. Aber schneller als erwartet hatte er mich von sich überzeugt. Da fällt mir ein wie er mir eine Rose schenkte, die er zuvor hastig von einem blühenden Strauch abgerissen hatte, zufällig hatte ich ihn dabei beobachtet. Verlegen lächelnd schleuderte er die Rose über den Ladentisch in meine Hände. Überrascht hielt ich die zarte Blüte fest und atmete ihren zarten Duft ein, glücklich. Jetzt denke ich, vielleicht war alles Berechnung und ich war zu leichtgläubig. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich von ihm abgestoßen fühlte, von seiner kalten Sprache, seiner Verachtung anderen gegenüber. Nach und nach erfuhr ich mehr von ihm und begann langsam zu begreifen, ein bisschen wenigstens wie er so geworden war.

Ich wohnte noch bei meinen Eltern und er bei seiner alleinstehenden Mutter. Wo also konnten wir uns treffen außer in Cafes und später dann in üblen Kneipen, in denen er mit abstoßenden Leuten bekannt war, denen ich zunächst am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Immer wieder überfiel mich Furcht vor meinem eigenen Verhalten. Wie konnte es geschehen, dass ich innerhalb kürzester Zeit in Kneipen verkehrte, in die ich mich vorher nie gewagt hätte? Ich verstand mich selbst nicht. Meine Eltern hatten wohl auch Angst vor meiner Veränderung. Sie drängten mich, diese unglückliche Freundschaft wie sie es nannten, aufzugeben. Aber da war es schon zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück, obwohl ich es damals gerne gewollt hätte.

Ob ich wusste, dass er verheiratet gewesen war? Ja, irgendwann hatte er darüber geredet, nicht viel, aber ich spürte, das hatte er nicht verkraftet, dass seine Frau die Scheidung gewollt hatte. Nein, Gründe nannte er mir nicht. Sie scheinen darüber mehr zu wissen als ich? Sie schweigen. Mir wurde selbst bald klar, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Sie musste es tun, um sich zu retten, sonst wäre es ihr ergangen wie mir. Sie verstehen nicht, wie ich das meine? Seit er arbeitslos war, hatte er angefangen erste Erfahrungen mit Drogen zu machen und wie es dann weiterging, haben Sie sicher schon lange in Erfahrung gebracht, nehme ich an. Nein? Er konnte bald nicht mehr ohne Drogen leben. Er träumte davon, sich große Mengen zu beschaffen, um möglichst lange in seiner neu entdeckten Welt leben zu können, frei von aller Verantwortung und den Erwartungen der Gesellschaft. Sein Ziel war, tun und lassen zu können, was er wollte und wann er es wollte.

Sie meinen, das sei die Welt eines Kleinkindes. Ja, gerade das dachte ich auch manchmal. Die Droge als Schnuller sozusagen, der pure Zufriedenheit und Lustgewinn garantierte sobald ihn das Baby im Mund hatte. Flucht nach rückwärts, um sich allen Anforderungen zu entziehen.

Aber er war kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen, trotz seiner herausgeputzten Männlichkeit, die er gerne zur Schau stellte durch seine auffällige Kleidung, mit denen er seine Muskeln betonte. Hinter seinem unnahbaren Verhalten verbarg sich, gut getarnt, einsame Schwäche.

Bis heute verstehe ich nicht wie es passieren konnte, dass auch ich Erfahrungen mit Rauschgift machte. Lange habe ich mich geweigert, hartnäckig. Ich könnte auch ohne dieses Zeug leben, habe ich verzweifelt geschrien, wenn er immer wieder darauf bestand, dass ich mit ihm in seine verrückte Welt flüchten sollte, um dort frei zu sein. An Trennung dachte ich oft in dieser Zeit. Längst war ich abhängig von ihm und bald würde ich es auch von Drogen sein. Was also hinderte mich an einer endgültigen Trennung von ihm? Angst, ich hatte einfach Angst vor dem Alleinsein. Irgendwie hoffte ich wohl  immer noch durch meine Zuneigung einen gewissen Einfluss auf sein Leben, das in eine Sackgasse geraten war, nehmen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung wie aussichtslos es war, ihn aus dieser Sackgasse zurückholen zu wollen. Allein, ohne fremde Hilfe wäre das unmöglich gewesen, teilten mir die Ärzte später mit.

Wie ich es empfunden habe, abhängig von Drogen zu sein? Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht wie die Fahrt mit einem Ballon. Man hebt lautlos und langsam ab, lässt alles Unangenehme wie Ballast unter sich. Mit dem unaufhörlichen Höhersteigen verkleinern sich automatisch alle Probleme, werden beinahe unsichtbar. Die Landung erfolgt dagegen oft sehr unsanft. Du wachst auf und alles ist wieder sichtbar, deutlicher und erdrückender als zuvor. Unlösbar all deine Probleme und du hast nur den einzigen Wunsch, wieder zu starten, um abzuheben, höher als beim letzten Mal.

Die Zeit drängt, ich weiß. Warten Sie noch ein bisschen, bitte. Sie sind wirklich nicht ungeduldig? Ich glaube Ihnen. Alle anderen, die kamen, um mich zu befragen, hatten keine Geduld mit mir. Da hatte ich beschlossen, mich nicht ansprechbar zu zeigen. Regungslos, schweigend lag ich im Bett, ohne sie zu beachten.

Verärgert mussten sie schließlich wieder gehen. Tagelang versuchten sie, mir eine Antwort zu entlocken, aber ich weigerte mich. Eine Schwester, die echte Anteilnahme an mir zeigte, kam mir dabei zu Hilfe. Stets betrat sie wenige Minuten nach dem Besuch der Herren, zwei in Uni­form und zwei in Zivil, das Zimmer, um an meiner Infusion eine Änderung vorzunehmen und so einen Grund zu finden, die strengen Herren zu verabschieden und sie auf die nächsten Tage zu vertrösten.

Ich bin froh, dass heute Sie gekommen sind. Wer kam auf die Idee, die Polizei aus dem Spiel zu lassen? Die freundliche Schwester? Ja, das habe ich fast vermutet. Aber zurück zu Ihrer Frage. Absicht oder nicht? Hören Sie bitte weiter zu.

An jenem Tag genossen wir mit Freunden das herrliche Wetter und die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende. Schon am frühen Nachmittag lagerten wir an einem See. Wir grillten, tranken, badeten und waren sehr ausgelassen, zum Ärger der anderen Bade­gäste, die mit Unverständnis darauf reagierten und uns empört beschimpften. An diesem Tag hatte ich den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Heute noch, nur heute noch mache ich mit, dann werde ich ihm mitteilen, dass ich aussteigen werde aus diesem Milieu und auch aus unserer Beziehung. Aussteigen wie aus einem parkenden Auto, Tür auf, danke fürs Mitnehmen, die Fahrt war angenehm, aber ich muss nun in eine andere Richtung, Tür zu. Auf Wiedersehen. So wollte ich es machen. Nächtelang hatte ich gegrübelt und mit mir verzweifelt gekämpft. Letzte Chance, sagte ich mir und dachte dabei an seine geschiedene Frau, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, abzuspringen.

Wie gesagt, die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen. Ich versuchte, ein letztes Mal noch unbeschwert dabei zu sein. Am Abend war ich mit ihm allein, in seinem Zimmer. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, auszusteigen, ihm die Wahrheit zu sagen, ehrlich und schonungslos. Minute um Minute zögerte ich. Es lag vielleicht daran, dass er unerwartet seine harte Schale ablegte und ich ihm näher war als je zuvor. Er erinnerte mich an eine Zwiebel. Entfernt man ihre Schalen, eine nach der anderen, rückt man dem Herzen näher, aber immer leichter muss man dabei weinen. So empfand ich sein Entblättern, gefühlsmäßig meine ich, wenn Sie das verstehen können. Deutlich spürte ich, dass seine Arroganz verschwunden war und ich mich seinem Innersten näherte. Seine überraschende Zärtlichkeit verwirrte mich. Warum war er vorher selten so gewesen? Er hielt mich fest, aber sanft und ich legte meinen Kopf an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein, spürte seine Hand warm auf meinem Haar, fühlte mich geborgen. Ich brachte es nicht fertig, ihm meinen Entschluss mitzuteilen und so stieg ich nicht aus, denn ich saß im fahrenden Auto und wagte nicht, die Tür zu öffnen und mich hinausfallen zu lassen. Hätte ich es getan, wenigstens versucht. Vielleicht hätte er das Auto, Sie ahnen, was ich damit meine, angehalten, um mich aussteigen zu lassen, gefahrlos.

Diesen letzten Abend, von dem ich noch nicht wusste, dass es sein letzter werden würde, wollte ich also nicht verderben und schob die Aussprache mit ihm auf.

Er, der immer der Starke war, wirkte auf einmal so liebesbedürftig, brachte mich immer wieder ins Schwanken. Er hätte wunderbare Tabletten von seinem Freund, schwärmte er mir vor. Mit deren Hilfe könnten wir beide ein unvorstellbares Erlebnis in einer Phan­tasiewelt haben. Nein, sagte ich wiederholt. Zum Schluss aber trank ich gleichzeitig mit ihm das Glas Cola mit den aufgelösten Tabletten. Ach, es war ein verrückter Abend.

Aus dem Radio tönte leise Musik und wir ließen uns auf sein Bett sinken, eng aneinan­dergeschmiegt. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme seiner nackten Haut auf meiner Haut und begann langsam in einen Schlaf zu fallen, traumlos, aber unendlich tief, immer tiefer und tiefer, ohne je irgendwo anzukommen. Wie lange dieses Fallen in eine künstlich erzeugte Welt dauerte, ich habe keine Ahnung. Aber der Aufschlag kam, grausam hart.

Als ich erwachte, war ich geblendet von der unerwarteten Helligkeit. Weißgekleidete Gestalten umgaben mich mit besorgten Gesichtern. Meine Hand suchte ihn, aber sein warmer Körper war nicht neben mir, er war schon lange kalt, aber noch wusste ich es nicht. Ich wollte fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte. Nur allmählich konnte ich klare Gedanken fassen, auftauchen aus diesen Nebeln von Ahnungen, die mich umgaben und zur Unfähigkeit verdammten. Von weit her drangen beruhigende Worte und eine schmerzende Müdigkeit überfiel mich anfallsartig. Stunden später sprachen sie mit mir, erklärten, sie hätten meinen Magen auspumpen müssen, um mich zu retten. Retten wozu und vor was? Diese Frage quälte mich ständig. Aber die Ärzte hatten ihre Pflicht getan, mir das Leben gerettet und nun ließen sie mich allein mit der verdammten Erkenntnis, dass es ihn nicht mehr gab, nie mehr geben würde. Ob man mir gleich die Wahrheit gesagt hat? Nein, natürlich nicht, erst nach Tagen, als sie glaubten, ich könne sie schon verkraften. Sie versuchten mir in zunächst unverständlichen Worten beizubringen, dass sie auch bei ihm alles versucht hätten, aber zu spät gekommen seien. Es dauerte lange, bis ich begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten. Oft denke ich, bis heute habe ich sie nicht richtig verstanden. Gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen. Aber man erzählte mir, ich sei tagelang immer wieder in Bewusstlosigkeit gefallen und daher nicht sei es nicht möglich gewesen.

Sie schweigen. Habe ich genug gesagt? Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich wundern über mich. Vermutlich denken Sie, ich sei abgestumpft. Aber nein, das darf ich von Ihnen nicht behaupten, ich weiß. Sie meinen, ich sei verzweifelt und leide unter Selbst­vorwürfen. Das hat noch keiner vor Ihnen gedacht, vielleicht haben Sie recht. Irgendetwas in mir ist gestorben, mit ihm, ein wichtiger Teil in mir ist tot, gefühllos. Ich spüre meinen Magen, der sich verkrampft, spüre meinen Kopf, der schmerzt, aber mein Herz spüre ich nicht, nicht mehr. Das macht mir Angst vor dem Weiterleben, nicht tot und nicht lebendig. Die Ärzte nennen meinen Zustand „Schock“ und meinen, es werde bald wieder aufwärts gehen mit mir. Sie nicken zustimmend. Glauben Sie den Ärzten? Ja, vielleicht macht es ein wenig Hoffnung, die Aussicht auf Besserung.

Darf ich Ihnen zum Schluss noch ein paar Fragen stellen? Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm meinen Entschluss an jenem Abend mitgeteilt hätte? Wissen Sie, darüber denke ich stundenlang nach. Hätte ich das Unglück dadurch verhindern können? Und nun zurück zu Ihrer Frage, die auch meine ist, war es Absicht?

Wir beide können keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten, keine einzige. Sie haben recht, es ist sinnlos, darauf Energie zu verschwenden. Sinnlos, so sinnlos wie mein Leben mir jetzt erscheint. Sie sagen nein? Darüber müssen wir uns noch unter­halten, aber nicht sofort, denn ich spüre wie mich diese Müdigkeit wieder überfällt. Was ich mir wünsche, wollen Sie wissen. Ich habe nur einen Wunsch. Weinen, um wieder ganz lebendig zu werden. Weinen war mir unmöglich seit ich hier aufgewacht bin, gerettet sozusagen. Ich sehne mich danach zu weinen wie ein Kind, hemmungslos. Ein dummer Wunsch, nicht wahr? Nein, Sie lächeln zum ersten Mal. Was ist wohl wichtiger zu weinen oder zu lachen? Beides. Nun müssen Sie gehen, ich weiß. Vielen Dank für das Taschentuch, aber warum legen Sie es auf mein Bett? Weil ich weine, sagen Sie.

Beinah

08 Freitag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

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Beinah, Erinnerung, Foto, Freundschaft, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer, Vorstellungen

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Gestern hielt ich den Hörer schon in der Hand, hatte dein Bild schon vor meinen Augen, deine Stimme im Ohr, da fiel mein Blick auf das abgegriffene zerknitterte Stückchen Papier mit deiner Adresse, da wusste ich es wieder, du warst  längst nicht mehr zu erreichen. Wie hatte ich es vergessen können? Einem Wolkenbruch gleich überströmten mich Gedanken, die so oft gedacht, irgendwo abgelegt, stets griffbereit waren. Dein Bild stand klar vor mir, zersprühend in viele Einzelbilder, jedes von besonderer Bedeutung für mich, habe ich doch nur diese Bilder von dir. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe sie geordnet, jedes hat seinen eigenen Wert für mich. Jetzt wirst du laut lachen, wie gerne würde ich dich hören, aber ich kenne deine neue Adresse nicht.

Mein Lieblingsbild hättest du wohl gerne gewusst? Du sitzt  in einem Garten, in dem es wuchert und wächst, grün und lebendig, angehaucht schon vom Modergeruch des Herbstes, du sitzt auf einem wackligen Stuhl unter dem grünen Dach von Bäumen durch dessen lecke Stellen das Sonnenlicht warm herabtropft. Das Buch, das du damals gelesen hast, kenne ich inzwischen auch, aber es blieb uns nicht genügend Zeit, darüber zu reden. Es blieb überhaupt wenig Zeit. Irgendwo sind wir uns begegnet, an einer Wegkreuzung. Keine von uns ahnte, wo die andere herkam, wohin sie wollte. Ein kleines Stück gingen wir gemeinsam, so zufällig eben, wie zwei sich treffen, die den gleichen Weg haben, ein kurzes Stück weit. Nur wenig Annäherung war möglich,  eine gewisse Fremdheit blieb, Verlegenheit oder Unsicherheit. Obwohl ich schon dachte, ich hätte dich aus den Augen verloren, tauchtest du immer wieder auf, gingst neben mir, wurdest jedes Mal vertrauter, lebendiger.

Da gibt es noch ein Sommerbild von dir. Beim Baden traf ich dich, wie du der Hitze ausgewichen bist und dich unter den Schatten der Bäume gesetzt hattest, ein weißer Fleck warst du, sommerhell leuchtete dein langes Kleid. Wieder hattest du ein Buch in der Hand, als du grüßend die Hand gehoben hast. Gerne wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich zu dir gesetzt, wagte es aber nicht.

Erinnerst du dich an die Steine, die wir ein anderes Mal so ganz nebenbei, am Wasser sitzend aus unseren Händen fallen ließen, spielerisch? Du erzähltest von dir, und ich bemerkte mit heimlicher Genugtuung, dass zwei unserer Steine dicht nebeneinander ins Wasser getaucht waren, und die sich weich ausbreitenden Kreiswellen sich unablässig näherten und sich für Momente überschnitten, weit in den Bereich des anderen vorstoßend. Du hattest es auch bemerkt und kurz schauten wir uns an, ehe du, den nächsten Stein schon in der Hand rollend, weiter erzähltest.

Wir kamen uns näher mit jeder Begegnung. Du bist viele Wege vor mir gegangen, bittere und unbequeme, aber auch Wege, die dir Mut gaben, nicht stehen­ zu bleiben. Du hast nicht nur die einfachsten Wege gewählt, nicht die kürzesten. Den Hindernissen bist du nicht ausgewichen, du hast dich ihnen gestellt, wurdest dabei auch verletzt. Allmählich  erst wurde mir klar, wie tief die Wunden waren, die man dir geschlagen hat. Einziger Schutz für dich: verstecken, verbergen. Die Maske, die den anderen nichts von dir verrät, dein Lachen, laut, unbekümmert mit einer winzigen Nuance Verzweiflung, manchmal. Du lebst so wie ich es mir oft wünschte, ein altes Haus, verträumter Garten, in allem ein bisschen anders. Aber ich spürte: irgendwie warst du nicht so zufrieden, wie ich es mir erhofft hätte an deiner Stelle. Heute ist mir klar, dass es wohl unmöglich ist, sich in gesicherter Situation, in deine Lage zu versetzen. Und du, du wolltest nicht, dass ich bemerkte, wie deine Existenz manchmal wirklich bedroht war, unsicher fast immer. Du kämpftest ja gerade um eine Entscheidung für die Zukunft: Sollte dein Studium tatsächlich umsonst gewesen sein? All die Zeit und Energie, die du dafür aufgebracht hast, vergebens? Du hattest zu dieser Zeit wenig Gelegenheit zum Lachen, und trotzdem hast du gelacht, laut wie so oft.

Ich habe dich damals bewundert. Du hast dich entschieden gegen die Meinung so vieler, du hast für dich entschieden, mutig auf mögliche Sicherheiten verzichtend. Du warst bereit, unbekannte Wege zu gehen, dich auf Neues einzulassen, um deinen Lebensunterhalt sichern zu können. Du brauchtest einen langen Atem, erst in einigen Jahren würde dein Ziel erreicht sein, auch das wusstest du.

Lange habe ich überlegt, wie ich entschieden hätte, letztlich vielleicht doch mehr für die sofortige Sicherheit, das heißt auch gleichzeitig für Langeweile, Monotonie. Dein Leben erschien mir aufregender, lebendiger, bunter als meines. Neben dir wirkte ich fad und farblos. Wer war ich schon? Sicherer Beruf, alles bisher geradlinig verlaufen, einfache saubere Wege gegangen, alles geregelt, gesichert und doch – glücklich nicht, aber wer ist schon glücklich? Ich hätte zu gerne gewusst, was du von mir dachtest, aber um ehrliche Antworten auf solche Fragen zu bekommen waren wir noch zu weit entfernt voneinander. Spürte ich doch manchmal den Abstand sich verringern, ein winziger Schritt hätte genügt, und wir wären uns nah gewesen. Doch die Zeit rannte uns davon und wir durften diesen einen Schritt nicht tun, der mir so viel bedeutet hätte.

Ein letztes Bild habe ich noch von dir, eines von deinem letzten Fest. Wir wollten uns in zwei Wochen wiedersehen, dir ging es gut, ich fühlte es und war froh mit dir. Wir trafen uns früher, unbeabsichtigt, und ob du mich noch sehen konntest unter all jenen, die gekommen waren, um dir Lebewohl zu sagen, ich weiß es nicht. Wieder bist du einen unbequemen Weg vor mir gegangen, wieder anders als andere, mitten aus einem Fest heraus. Wie sehr hoffe ich, dass du wenigstens glücklich warst, ehe du so plötzlich und vollkommen unerwartet den Weg aus dem Leben gingst, ihn unfreiwillig gehen musstest, ungefragt.

Ich weiß nicht mehr, welchem Zufall  ich es verdanke, dass wir uns begegnet sind, aber noch fühle ich deine Nähe in gewissen Augenblicken, an bestimmten Orten, die für immer die Rahmen für dein Bild sein werden. Noch heute würde ich dich am liebsten anrufen, um deine Stimme noch einmal zu hören. Vergeblich: Kein Anschluss mehr möglich. Aber  was ich dir in stummen Selbstgesprächen  berichte, –  du  weißt es, davon bin ich überzeugt.

Barids Bruder

01 Freitag Mai 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte

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Schlagwörter

Flüchtlinge, Foto, Fotograph, Gedicht, Krieg, Kriegsberichterstattung, Kritik, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Lyrik, Preis, Preisgeld, Psychologie

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Die ersten Besucher schlenderten mit neugierigen Augen auf der Suche nach bekannten Gesichtern durch den festlich beleuchteten Saal. Vom kalten Büffet breitete sich bereits ein unwiderstehlicher Duft verlockend im Raum aus. Noch wagten die Gäste  nicht, auf den bereit gestellten Stühlen Platz zu nehmen. Da tauchte plötzlich aus einem Nebenraum der Bürgermeister auf. Er wirkte etwas durcheinander, blass im Gesicht, schwenkte nervös ein Blatt in der einen Hand, das er immer wieder mit ungläubiger, ja entsetzter Miene überflog, während er ungeschickt mit der anderen Hand am Mikrofon herumzerrte, bis ihm schließlich jemand zu Hilfe kam. Endlich. Im Saal war es immer leiser geworden, das Stimmengemurmel verebbte, das Stühlerücken wurde wie auf ein unausgesprochenes Kommando eingestellt, als der Bürgermeister sich räusperte, um zu signalisieren, dass er bereit sei,  den Abend zu eröffnen. „Sehr geehrte Gäste, ich begrüße Sie alle ganz herzlich. Sie sind  heute Abend gekommen, um einen unserer Bürger zu ehren für seine herausragende Leistung: Der Preis für das beste Pressefoto des letzten Jahres geht – wie Sie vielleicht schon wissen – an Martin Werst, den bekannten Fotografen aus unserer Stadt. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich soeben einen Brief erhalten habe, der eine Absage unseres Ehrengastes enthält. Herr Werst bittet mich, Ihnen seinen Brief vorzulesen, und er weist ausdrücklich darauf hin, dass er Ihnen, liebe Gäste, auf keinen Fall die heutige Feier verderben will.“ Etwas verwirrt, ja nahezu verzweifelt schon warf der Bürgermeister einen flehentlichen Blick auf die erwartungsvoll ihm zugewandten Gesichter, auf die unzähligen Augenpaare, die wie blendende Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren. „Also, ehrlich gesagt“, fuhr er fort, „das kommt jetzt für mich vollkommen überraschend, und ich sehe mich gezwungen, das vorgesehene Programm in einigen Punkten ändern zu müssen. Ich hoffe dabei auf Ihr Verständnis und werde Ihnen jetzt den Inhalt dieses Schreibens vortragen.“ Die Spannung im Saal nahm zu, lastete bleischwer auf den Schultern der Anwesenden. Der Bürgermeister wischte sich unauffällig mit einem blütenweißen Taschentuch über die schweißnasse Stirn, rückte entschlossen seine Brille zurecht und bog das Mikrofon in Mundnähe. „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit“, begann er leise, zögernd und las mit allmählich fester werdender Stimme weiter. „Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Gäste, ich bin mir der Ehre, die mir mit der Einladung zu diesem Festabend zuteil wird, voll bewusst. Ganz sicher hatte ich auch vor, zu Ihnen zu kommen, um die Bürgermedaille in meinem Heimatort in Empfang zu nehmen. Wie Sie sicher wissen, habe ich mich nie gescheut, den Namen unserer Stadt, die durch ihre unheilvolle Rolle, die sie in der Vergangenheit gespielt hat, zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, in aller Welt zu nennen und mich offen als ihr Bürger zu erkennen zu geben. Natürlich hat auch unsere Stadt mehrere Gesichter, von denen weltweit leider viele Menschen nur das mit Schrecken behaftete kennen oder vielleicht auch nur dieses eine  kennen wollen. Als Pressefotograf reise ich ständig in Krisengebiete, auf die ich mich, wie Ihnen sicher bekannt ist, spezialisiert habe, um mit meiner Kamera die Bilder des Schreckens einzufangen, in der Hoffnung, durch das Sichtbarmachen menschlicher Gräueltaten einen Beitrag zu deren künftiger Verhinderung leisten zu können. Vor einer Woche nun wurde mir aufgrund eines meiner Bilder ein Preis zuerkannt, ein hoher Geldpreis, über den ich mich zunächst sehr gefreut habe. Mein Name war plötzlich kein unbekannter mehr. Täglich riefen mich fremde Leute an, schrieben mir Briefe, um mit mir ins Gespräch zu kommen. So viel Rummel hatte ich nicht erwartet. Mir wurde das bald zu viel. Daran bin ich nicht gewöhnt. Meine Arbeitswelt sieht anders aus. In Krisengebieten werde ich zwar immer wieder von lähmender Angst gepackt, aber meine Arbeit zwingt mich stets aufs Neue dazu, sich der Angst zu stellen. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, fordert mich täglich dazu heraus, unentwegt auf der Suche nach einem möglichen Motiv, durch mein gläsernes Auge zu blicken, um im entscheidenden Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Auch wenn diese Suche gefährlich ist, – das Tragen einer kugelsicheren Weste verschafft mir die wohl eher klägliche Illusion, vor verirrten Kugeln geschützt  zu sein – kann ich sie nicht lassen. Sie entspringt einer heimlichen, mir lange nicht  eingestandenen Sucht, einem inneren Zwang:  Ja, inzwischen habe ich es erkannt, es ist eine Sucht, alles, was mich bewegt,  auf Bilder bannen zu müssen, festhalten zu wollen, erinnerbar zu machen. Hätte es in unserer Stadt vor vielen Jahren auch Fotografen gegeben, denen es gelungen wäre, rechtzeitig von den Gräueltaten zu berichten bzw. diese sichtbar zu machen, vielleicht wären vielen Menschen die Augen geöffnet worden, vielleicht hätte viel Unrecht verhindert werden können, wer weiß? Das alles frage ich mich manchmal, wenn ich mich in Krisengebieten aufhalte, wohl wissend, dass ich mich in einer Sonderstellung befinde: als Fremder freiwillig in einem Land, das es seinen Bewohnern nicht erlaubt, es in Frieden verlassen zu können, wann immer sie wollen. Sie werden denken: Es ist sein Job, er will es so, ein gefährliches Abenteuer erleben und dabei noch viel Geld verdienen, in der Welt herumreisen und das alles von Berufs wegen. Nun gut, werden Sie weiter sagen, eine Familie braucht so einer sicher nicht, das wäre wohl kaum auszuhalten für dessen Frau und seine Kinder, ständig in Angst und Furcht, Unsicherheit, Ungewissheit zu leben. Ständig die unausgesprochene Frage, verborgen hinter den Lippen: Kommt er zurück oder nicht? Sie haben Recht, eine Familie habe ich nicht. Ich will mich keinem zumuten. Mir genügt meine Nikon, meine furchtlose Partnerin, immer eng an meiner Seite, absolut zuverlässig, immer dabei, auf dem höchsten Stand der Technik;  sie lässt mich nicht im Stich. Meine Eltern leben nicht mehr. Beide  sind sie gestorben an den Folgen jener Gräueltaten, die erst zu spät auf Papier gebannt worden waren. Für mich aber war ihre Geschichte, die so eng verknüpft war mit der Geschichte unserer Stadt, von jeher der innere Motor, der mich antrieb, selbst in die Ereignisse eingreifen zu wollen, diese in der Welt publik zu machen. Keiner sollte später sagen können, er hätte nichts davon gewusst. Kein schöner Job, denken sicher auch viele unter Ihnen. Kann es Spaß machen, verzerrte Menschengesichter, ausgehungerte Kleinkinder, sterbende Soldaten, blutüberströmte Leichen zu fotografieren? Nein, ganz sicher nicht, muss ich Ihnen da antworten. Aber wie gesagt, es ist nach und nach zu einer Sucht geworden, für mich jedenfalls. Das Abstoßende, das nie fotografiert werden würde aufgrund seiner unerträglichen, unzumutbaren Hässlichkeit, es übt eine unwiderstehliche  Faszination auf mich aus. Und, vergessen Sie eines nicht, ich kann genügend Abstand halten zu meinem Motiv. Dank der ausgefeilten Technik ist es mir möglich, fremden Menschen Aug in Aug gegenüberzustehen, ohne dass sie mich wahrnehmen können. Ich bleibe unentdeckt, unbeobachtet, sicher verborgen, hinter meiner Nikon, ausgestattet mit einem Teleobjektiv der Lichtstärke 2,8, der Brennweite 400 mm, mit automatischer Fokussierung.  Ich zwinge, gut getarnt, das nackte Elend vor meine mitleidlose Linse, die sich nicht einen Millimeter krümmt angesichts des Wahrgenommenen, die nicht ausweicht, sondern schonungslos entsetzte Augen, aufgerissene Münder, blutende Wunden, vor Schmerz und Entsetzen verzerrte Gesichter, um Gnade bittende Hände, auf meinen Befehl, per Knopfdruck sozusagen, in meine Kamera holt, auf meinen Film bannt. Während Sie gemütlich Zeitung lesend beim Frühstück sitzen, werden Ihnen schon die entwickelten Bilder präsentiert, vergrößert und in Farbe natürlich. Während Sie genüsslich an Ihrem  Kaffee nippen, mit Appetit ein Marmeladenbrot verzehren und sich am Wochenende vielleicht auch ab und zu ein weiches Ei gönnen, sofern es Ihr Cholesterinspiegel erlaubt, während Sie diese Augen im Todeskampf verzweifelt, um Hilfe flehend anstarren, werfen Sie einen flüchtigen Blick auf die Überschrift zu diesem Bild , „Schon wieder ein Massaker?“, denken Sie, „Es ist schon schlimm auf unserer Welt“, und Sie blättern gelangweilt um auf die nächste  Seite, gießen sich nebenbei noch eine weitere Tasse Kaffee ein, werfen zwischendurch einen prüfenden Blick auf die Uhr und falten schließlich die Zeitung ordentlich zusammen, genug gelesen  für heute. Jetzt frage ich Sie: Haben Sie sich schon einmal ernsthaft Gedanken darüber gemacht, was dieser Mensch, der Sie in seiner Todesnot so flehentlich anblickt, macht, während Sie Ihr Leben weiterleben? Sie wissen es nicht, werden Sie achselzuckend antworten. Ich aber weiß es: Dieser Mensch ist längst schon tot, während Sie noch frühstücken und ihn schon vergessen haben, oder noch schlimmer, ihn gar nicht wirklich wahrgenommen haben. Vergessen. Vergessen sein Leiden, seine Schmerzen, sein Leben mit all seinen unerfüllten Hoffnungen, seinen ungezählten Entbehrungen und Ängsten und vielleicht auch mit seinen kleinen und großen Freuden. Dieser Mensch liegt nun zusammengekrümmt, erstarrt und kalt im dreckigen Sand und, wenn er Glück hat, wirft ihm ein anderer Fliehender, sich in ähnlicher Lage Befindender, einen Schwall Sand über seinen leblosen Körper, bedeckt ihn notdürftig, versucht so seine Würde zu wahren, ehe er versucht, das eigene Leben zu retten. Vergessen Sie nicht, die gellenden Schmerzensschreie, die leisen Seufzer, das heftige Keuchen, das hohe Winseln, das durchdringende Jammern, das unermüdliche Flehen um Gnade, das inständige Bitten, das endlose Wehklagen, die barschen Befehle, die endgültigen, vernichtenden Schüsse, all das bleibt ungehört für Sie, nicht aber für mich. Zwar kümmert sich meine Linse nicht um Geräusche, dafür ist sie nicht zuständig, wohl aber reagieren meine Ohren empfindlich darauf. Ich kann sie nicht wirksam verschließen, auch mit bester Technik nicht. Diese Geräusche, diese Stimmen dringen in meinen Kopf, setzen sich dort fest und lassen sich nicht vertreiben. Ich höre sie in meinen Träumen. Registriere sie tagsüber, auch bei völliger Stille, diese anklagenden Stimmen, die mich immer wieder an die Elenden erinnern, die ich hinter meine Linse zerrte, belichtete, in Szene setzte, erbarmungslos den Augen der Öffentlichkeit preisgab und dann abrupt von mir warf, fallen ließ, wie ein Funken sprühendes Holzscheit. Ich dramatisiere. Richtig.  Das war nur eines meiner Bilder, das ich Ihnen schilderte, aber nicht das, wofür ich die Auszeichnung erhalten habe. Ich nehme an, das Bild, das mit einem hohen Preis ausgezeichnet wurde, werden Sie heute Abend sehen können. Urteilen Sie selbst. Ich habe mein Urteil schon gefällt. Auf diesem Bild sehen Sie in das Gesicht eines jungen Mannes, der versucht mit verzweifelter Kraftanstrengung seinen brutalen Verfolgern zu entkommen, in einem Land, in dem es ein Verbrechen ist, ja schlimmer noch, lebensgefährlich ist, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, die von den Regierenden nicht geduldet wird. Schauen Sie sich den jungen Mann doch ruhig näher an. Geben wir ihm einen Namen, nennen wir ihn Barid. Zerfetzte, mit Blut und Schmutz befleckte Bandagen flattern um seine Knie, braun verschorfte Schrammen entstellen sein ausgezehrtes Gesicht, eine frische Blutspur weist auf die klaffende Wunde an der linken Hand, mit bloßen Füßen rennt er, rennt davon vor seinen Verfolgern, rennt direkt auf einen unserer gepanzerten Wagen zu, der – jenseits der feindlichen Linie – wartet, der ihm, scheinbar, Hilfe verspricht. Wir erkennen diese un-menschliche Anstrengung, sie ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben: weit aufgerissen die entsetzten Augen, geöffnet der ausgedörrte Mund, der mit einem heiseren Schrei um Hilfe fleht, ehe er einen keuchenden Atemzug später gefasst wird, nein zu Boden geprügelt wird von seinem Verfolger, der ihm das Gewehr zwischen die Beine rammt. Soweit das Bild. Sekunden später: Ein wirbelndes Stolpern, und der junge Mann krümmt sich am Boden. Barid ist ein Gefangener. Ich aber sehe noch ein anderes Bild vor mir, jeden Tag, jede Nacht, in allen Schattierungen, es will nicht verschwinden, verfolgt mich, brennt sich ein in mein Hirn: Barid rennt direkt auf uns Fotografen zu, schutzsuchend. Während meine Kollegen nervös werden angesichts der dramatischen Situation und der außergewöhnlichen Nähe zu unserem Motiv, reagiere ich intuitiv, ohne nachzudenken: ein prüfender Blick durch die Linse, ein routiniertes Schwenken des Objektives, ein Knopfdruck auf den Auslöser, und Barid ist gerettet, gerettet für den Film. Mein italienischer Kollege knallt die Autotür mit hilflosem Zorn wieder zu, Sekunden vorher hat er sie aufgerissen, wollte Barid Zuflucht gewähren, ihm Schutz bieten. Zu spät. Ein anderer reißt schockiert die Fahrertür auf, springt hinter das Lenkrad, fordert uns brüllend auf, einzusteigen, während schon das Gaspedal aufheult. Da werfe ich mich auch hinein in das sichere Fahrzeug, im letzten Moment, gerettet das eigene Leben. Feige flüchteten wir, überließen den wehrlosen jungen Mann seinen Verfolgern. Zum ersten Mal verspürten wir Todesangst am eigenen Leib, unsere Knie und Hände zitterten unkontrolliert, wir wagten nachher nicht, uns anzusehen. Verlegenheit stand wie eine Mauer zwischen uns und – unausgesprochen, ein Gefühl der Scham. Das Bild ist hervorragend gelungen: klar, scharf, detailliert, perfekt aus fototechnischer Sicht wohlgemerkt, aber es war mein letztes Bild und wird es auch bleiben. Vor einigen Stunden erreichte mich eine Nachricht aus einem afrikanischen Land: Ein junger Mann teilte mir mit, dass auch er das Pressefoto gesehen habe. Er kenne den jungen Mann auf dem Bild: Es sei sein Bruder, behauptete er. Weiter forderte er mich dringend auf, seinen Bruder zu retten.“ Erschöpft machte der Bürgermeister eine kurze Pause, sah in die Gesichter der Gäste, spürte wie alle ungeduldig erwarteten, dass er weiter lesen solle. Mit zitternder Hand griff er nach dem Wasserglas, das bereit stand, trank es in wenigen gierigen Schlucken leer, strich das Papier vor ihm glatt und begann erneut:  „P. S.:  Herr Werst, Sie haben der Welt ein Foto von meinem Bruder gezeigt, ein Foto, das ihn als Gefangenen zeigt, wehrlos am Boden liegend, der Verfolger über ihm stehend, bewaffnet, siegessicher. Ich klage Sie an, meinen Bruder nicht gerettet zu haben. Er befindet sich jetzt in einem Gefangenenlager und muss damit rechnen zum Tode verurteilt zu werden, ohne Schuld, ohne Gerichtsurteil. Können Sie mit diesem Wissen unbekümmert weiter leben, weiter fotografieren, Bilder hinterlassen, von Menschen, die schon tot sind, ehe Ihre Fotos entwickelt sind? Ich frage Sie: Sind Sie wirklich so eiskalt, so abgebrüht? Ist Ihnen menschliches Leben tatsächlich nicht mehr wert als ein Motiv für ein gelungenes Bild? Ich weiß inzwischen auch, dass Sie viel Geld dafür bekommen haben. Nun fordere ich Sie auf, nehmen Sie dieses Geld und versuchen Sie, meinen Bruder frei zu kaufen, geben Sie ihm diese winzige, letzte Chance, kommen Sie zurück in unser Land, wenden Sie sich an die Mächtigen. Ich bin sicher, Sie kennen genügend Organisationen, die Ihnen dabei helfen werden, vorausgesetzt, Sie wollen das wirklich. Sie sind nun ein bekannter Mann. Vergessen Sie nicht, Sie tragen die Verantwortung für das Leben meines Bruders, dessen Elend Sie öffentlich sichtbar gemacht haben. Sie dürfen ihn nicht einfach krepieren lassen. Sollten Sie sich weigern, werde ich dafür sorgen, dass alle Welt davon erfährt. Ich kenne viele Leute, die mir helfen werden. Seien Sie sicher, meine Freunde verstecken sich nicht feige hinter einem Teleobjektiv, sie können Sie durchaus ins Visier nehmen, allerdings nur einmal. Sie verstehen? Ich rechne mit Ihnen. Liebe Gäste, Sie entschuldigen nun gewiss meine Abwesenheit. Ich bedanke mich für Ihre Geduld und die kostbare Zeit, die Sie mir geopfert haben und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend. Ihr  Martin Werst“

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