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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Aufbruch

Das Experiment (Teil 2)

29 Freitag Apr 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Schlagwörter

Afrika, Arzt, Aufbruch, Ausdruck, Bücher, Bücherausstellung, Charakter, Erfahrung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Gift, Giftschlange, Intensivstation, Männer, Organe, Puffotter, Rettung, Rettungshubschrauber, Wüste

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich meine Kurzgeschichte “Das Experiment” (Teil 1 und Teil 2)

Tagebuch – Dienstag 

Am nächsten Tag in der Wüste schafften wir es, uns zu organisieren: Stefan, wir nannten ihn Chef, teilte die Gruppen nach Leistungsfähigkeit ein. Ältere und gesundheitlich angegriffene Personen wurden zu einfacher Tätigkeit aufgefordert: Sie hatten die Bücher zu sortieren. Es gab Stapel von Büchern, deren Inhalt der Entspannung und Ablenkung von unserer Situation dienen konnten und es gab Stapel von Büchern, die das nötige Sachwissen enthielten, um uns aus dieser aussichtslosen Lage befreien zu können. Und es gab Stapel von Büchern, die zum Verfeuern dienten. „Kein Leben ohne Bücher.“ Klang der Name der Bücherausstellung nicht wie eine Herausforderung? Wir wollten, ja mussten über-leben mit Büchern. Wir nahmen die Herausforderung an. 

Es gelang uns tatsächlich, mit allen möglichen Teilen, die wir in dem Bücherraumschiff fanden, einen besseren Sonnenschutz zu bauen, um Schatten zu haben und Schutz vor der vernichtenden Kraft der Sonne. Aus den Trümmern der bei der Landung zerborstenen Bücherregale machten wir bei anbrechender Dunkelheit ein Feuer, das Licht und Wärme spendete.

Wasser und Nahrung fehlten. Woher nehmen?  

„Kein Leben ohne Bücher.“ Zu unseren wichtigsten Büchern wurden diejenigen von Überlebenskünstlern, von Expeditionsteilnehmern, von Wüstenforschern. Zum Glück hatten wir eine kleine Auswahl dabei. Wir begannen zu studieren, wie man ohne jegliche Erfahrung in der Wüste überleben konnte. 

Erste Schwächeanfälle traten auf. Anna und Karin, fühlten sich nur noch schlapp und erschöpft, wollten sich nicht an unseren Plänen beteiligen. Das durfte Stefan nicht zulassen, denn das wäre ihr schneller Untergang und es würde auch zu Verweigerung bei den anderen führen. Also wurden Thomas und Hannes zu ihren Begleitern ernannt, die die Aufgabe hatten, sie zu unterstützen und zu ermutigen. Ebenso wie Robert wurden sie aufgefordert einfache Aufgaben zu erfüllen.

Die Wassergewinnung wurde zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Eine Gruppe von fünf Männern war dafür verantwortlich: Stefan, unser Chef, Matthias, Paul, Hannes und Thomas. Sie mussten sich aus den Büchern die notwendigen Informationen beschaffen und vor allem mit unseren minimalen Mitteln verschiedene Möglichkeiten ausprobieren.  

Fasziniert las Dr. Wenz wie die Überlebenden versucht hatten Wasser zu gewinnen. Er selbst hatte nie länger darüber nachgedacht, wie das möglich wäre in der Wüste zu Wasser zu gelangen. Unglaublich: Er überflog die Skizzen, die mit ungeübter Hand, aber durchaus nachvollziehbar angefertigt worden waren.

In den Sand wurden Mulden gegraben, die mit Planen oder ähnlichem abgedeckt wurden, an der tiefsten Stelle befand sich unter der Abdeckung ein Gefäß, das das gewonnene Wasser – entstanden aus Verdunstung und Kondensierung – sammelte. Das sollte möglich sein? Nun ja, er war kein Experte in Sachen Überlebenskunst, aber es klang realistisch und schien funktioniert zu haben. 

Nur geringe Wassermengen standen uns nun zur Verfügung. Wir durften sie nur äußerst sparsam verbrauchen. Jeden Abend mussten wir dieses Vorgehen wiederholen. Ein Schluck Wasser wurde zum Kostbarsten, was wir hatten. 

Keine unnötige Bewegung tagsüber, um Wasserverlust durch Schwitzen zu vermeiden! Schutz vor Hitze und Sonne suchen, erst am Abend bewegen. Das wurden unsere wichtigsten Regeln.

Schuhe, Kleidungsstücke ausschütteln, um sicher vor unliebsamen Überraschungen zu sein wie Skorpionen, Spinnen und Schlangen.

Aber wir mussten längerfristig auch Nahrung beschaffen. Insekten? Pflanzen? Wurzeln? 

„Kein Leben ohne Bücher.“ Wir nutzten die freie Zeit, um zu lesen, schöne Texte, Gedichte, Märchen, die alle ein gutes Ende fanden, Liebesgeschichten – jeder hatte seine besonderen Vorlieben. Die Bücher gaben uns Kraft, Mut und Zuversicht, wenigstens für ein paar Stunden. Wir versuchten ganze Textstellen auswendig zu lernen und sie einander vorzutragen, immer in der Hoffnung, unsere verzweifelte Lage dadurch zu vergessen, sie besser verdrängen zu können, um den nahenden Wahnsinn, der sich erahnen ließ abwenden zu können. Alle wussten es, jeden Tag mussten Bücher verbrannt werden, die Auswahl wurde immer geringer: Waren es zuerst scheinbar unnütze Bücher wie z. B. über Mode oder Gartenbau, so rückten unsere wirkungsvollsten Bücher allmählich dem Stapel der zu verbrennenden Bücher immer näher. Niemand sprach es aus, aber alle dachten: Was dann? Wie lange würden wir unsere Texte und Gedichte noch auswendig aufsagen können? 

Intensivstation

Samstag

Dr. Jawara bittet Dr. Wenz um Hilfe. 

1 Uhr 30. Endlich. Das Serum ist eingetroffen. Jetzt muss alles schnell gehen. Gemeinsam mit Dr. Jawara, der Dr. Wenz um Unterstützung gebeten hatte, wird dem Kranken das Antivenin mittels Infusion verabreicht.

Gleichzeitig weiteres Monitoring.

1 Uhr 40. Plötzlicher Blutdruckabfall als Hinweis auf eine allergische Reaktion, der seltenen aber gefürchteten Nebenwirkung auf das Anitvenin. Allergischer Schock. Zustand des Kranken verschlechtert sich; nur mit erneuten starken Mitteln gelingt es seine Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten, ihn zurückzuholen, zumindest in den Zustand wie vor der Gabe des Antiserums.

Zu alldem äußert Dr. Wenz bei Kontrolle der Wunde auch noch den Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom: Gewebe schwillt nach der Bissverletzung an, kann sich aber nicht ausdehnen. Der Druck steigt, das Gewebe nimmt Schaden. Starke Schmerzen.

1 Uhr 45. Dr. Wenz entschließt sich nach kurzer Besprechung mit Dr. Jawara eine Fasziotomie durchzuführen. Er fordert kurzfristig ein Operationsteam an: Anästhesist und OP-Schwestern bereiten den Patienten vor.

2 Uhr 10. Durchführung der Fasziotomie ohne sofortigen kompletten Wundverschluss.

2 Uhr 40. Erfolgreiche Druckentlastung im Bein erkennbar, die Durchblutung und die Nervenleitung scheinen wieder zu funktionieren. Auch der Allgemeinzustand des Patienten hat sich stabilisiert, seine Schmerzen deutlich nachgelassen. Entwarnung – vorläufig.

Die Wachphasen des Operierten wurden im Laufe des Tages zusehends länger. Die weitere Beobachtung der Vitalfunktionen und die Kontrolle und Überwachung der Wunde ließen eine zunehmende Besserung erkennen. Endlich zeigte das Antivenin wohl auch seine eigentliche Wirkung, nicht nur die Nebenwirkungen.

Dr. Wenz war erleichtert: Sein Patient war außer Lebensgefahr, er würde wieder gesund werden, aber es würde dauern, lange Zeit. Ein endgültiger Verschluss der Wunde durch eine Naht würde in der Regel erst nach Ablauf von mehreren Wochen möglich sein. Er konnte also noch einige Zeit mit dem Unbekannten verbringen und er war fest entschlossen, mehr über diesen Mann zu erfahren.

Was hatte er in der Wüste erlebt? Würde er davon berichten können aufgrund seines Gedächtnisverlustes?

Endlich – der Arzt konnte aufatmen und sich von der anstrengenden Nacht erholen. Sein Dienst war bereits seit Samstagabend zu Ende. Noch wollte er die Klinik nicht verlassen. Das Tagebuch beschäftigte ihn ununterbrochen, aber er brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf, ehe er endlich weiter darin lesen konnte.

Tagebuch – Mittwoch 

Schwerer Notfall am frühen Morgen.

Paul hatte sich gleich nach Sonnenaufgang von unserem Lageplatz entfernt, er glaubte in einiger Entfernung einen Strauch entdeckt zu haben, dessen Wurzeln als Wasserquelle dienen könnten. Plötzlich ließ uns ein durchdringender Schrei auffahren. Erschrocken folgten wir Pauls Fußspuren im Sand und fanden ihn in einiger Entfernung keuchend auf dem Boden liegend, beide Hände auf den rechten Oberschenkel gepresst. „Schlange“, flüsterte er heiser. „Sie hat mich gebissen.“ Paul wollte schon aufstehen, aber das ließen wir nicht zu. War die Schlange giftig gewesen? Wir befürchteten es, also war Vorsicht geboten.

Hannes und Thomas setzten ihn auf und trugen ihn auf ihren Armen gemeinsam zurück in unser Lager. Dort betteten wir ihn im Schatten, redeten beruhigend auf ihn ein. Von dem wenigen Wasser, das wir noch hatten, flößten wir ihm in kurzen Abständen schluckweise etwas ein. Die Wunde wurde mit einem Tuch abgedeckt, das Bein ruhiggestellt. Wir versuchten Paul Mut zuzusprechen und machten ihm Hoffnung auf baldige Rettung. Innerhalb von wenigen Minuten schwoll das verletzte Bein stark an, Paul klagte über zunehmende Schmerzen und seine Stirn fühlte sich zunehmend heißer an. Unsere Befürchtung war zu bitterer Gewissheit geworden: Es war tatsächlich eine Giftschlange gewesen.

Am Nachmittag schrie Matthias plötzlich aufgebracht: „Tauben – da fliegen Tauben“ und deutete aufgeregt zum Himmel, an dem tatsächlich – kaum noch erkennbar zwei Tauben über uns flogen und allmählich aus unserem Blickfeld entschwanden. Waren das bereits erste Anzeichen beginnenden Wahnsinns? Hatten wir schon Halluzinationen?  

Wenige Stunden später – kurz vor Einbruch der Dunkelheit entdeckte Anna eine tote Taube im Sand.

Wir waren zunächst sprachlos, dann brach es aus uns heraus: „Wo Tauben waren, mussten Menschen in der Nähe sein … aber Tauben in einer Wüste, wer glaubt daran?“  

Bevor eine wilde Diskussion darüber losbrach, ob wir nun verrückt seien, an einer Einbildung litten oder ob es tatsächlich Tauben waren, versuchte uns Matthias zu beruhigen. „Es waren tatsächlich Tauben und ich weiß jetzt auch, wo wir uns ungefähr befinden: in Afrika in der Nähe von Johannesburg, denn dort findet jährlich ein Wettfliegen von Brieftauben statt, das unter Taubenzüchtern ganz berühmt ist. Mein Onkel hat mir davon berichtet, denn er wollte mit seinen Tauben schon lange daran teilnehmen.“ Wir starrten ihn ungläubig an und unsere Gedanken begannen wie wild zu kreisen, um sich über mögliche Folgen für unsere Rettung klar zu werden. 

„Wo Tauben sind, da sind auch Menschen und unterwegs der Flugstrecke befinden sich womöglich Funker, vielleicht auch Amateurfunker, die das Ganze beobachten und darüber Meldung geben. Funker – diese Leute könnten unseren Standpunkt herausfinden und uns Hilfe schicken.“ Erregtes Gemurmel brach aus, Wortfetzen flogen durch die Luft, alle waren in Bewegung, neue Hoffnung keimte auf. 

Obwohl die Nacht mit Kälte und Dunkelheit inzwischen hereingebrochen war, wollten alle noch darüber reden, was als nächstes zu tun sei. Funken – Amateurfunk, wer hatte da eine Ahnung? Vorerst niemand, aber noch hatten wir einige Sachbücher zur Verfügung, die eventuell weiterhelfen konnten. „Kein Leben ohne Bücher.“

Wir durften unseren Plan, mehr über die Möglichkeit des Funkens zu erfahren nicht länger aufschieben. Die Zeit drängte, Paul brauchte dringend Hilfe. Er hatte starke Schmerzen und Fieber.  Kaum einer konnte ruhig schlafen, jeder dachte an eine nahe Rettung, wälzte sich unruhig hin und her. 

Sie werden es kaum glauben, aber einigen – genauer gesagt unseren beiden Studenten der Elektrotechnik, Hannes und Thomas – gelang es noch in derselben Nacht, wichtige Informationen über das Amateurfunkwesen herauszufinden. Sie begannen unser Bücherraumschiff und unsere Handys nach verwertbaren Teilen zu durchsuchen, um eine Funkstation bauen zu können. Aber – alles war noch ungewiss: Würde das möglich sein? Würde das funktionieren? Und vor allem wann? 

Tagebuch – Donnerstag 

Irgendwann in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag schickten uns Hannes und Thomas zur Ruhe. Sie wollten weitermachen – abwechselnd – beschlossen sie. Ich bin mir sicher, dass in dieser Nacht keiner gut schlief. Wir legten uns hin und lauschten weiter angestrengt unseren angehenden Funkern und den Geräuschen, die zu vernehmen waren. Keine menschliche Stimme ertönte – nur Rauschen und Knacken waren zu hören. Kurz vor Sonnenaufgang klangen auch die Stimmen der Funker erschöpft und matt. Sie legten eine kurze Pause ein, ehe sie weiter machten mit ihren Versuchen, angetrieben von einer enormen Anspannung und der Hoffnung auf Erfolg.

Aber erst am frühen Nachmittag war es soweit: eine primitive Funkstation stand bereit, ein erster Versuch sollte unternommen werden. In erwartungsvollem Schweigen versammelten wir uns um Hannes und Thomas, unsere Funker.

Immer wieder wurde der Funkruf wiederholt:

„MAYDAY, MAYDAY – DIES IST EIN HILFERUF VON NEUN PERSONEN, WIR BEFINDEN UNS IN NOT, ÄRZTLICHE HILFE IST ERFORDERLICH, MANN WURDE VON EINER SCHLANGE GEBISSEN. WIR SIND AUS UNERKLÄRLICHEN GRÜNDEN IN DER WÜSTE GELANDET. WIR KONNTEN ZWEI TAUBEN AUF IHREM FLUG SEHEN, EINE TOTE TAUBE WURDE GEFUNDEN!“  

Erwartungsvolle Stille breitete sich unter uns aus: Alle warteten auf eine Antwort. Rauschen ertönte – Stille – Knacken – Knistern. 

Plötzlich änderten sich die Geräusche – menschliche Stimmfetzen waren zu vernehmen. Noch klangen die Stimmen undeutlich und die Sprache war fremd. Alle waren aufs äußerste gespannt, unsere Funker wiederholten ihren Hilferuf in verschiedenen Sprachen. Wieder gespanntes Warten. Sekundenlanges Schweigen. Funkstille. Rauschen. Knacken. Knistern. Und dann eine menschliche Stimme: 

„WIR HABEN DEN HILFERUF VERNOMMEN. ACHTUNG, WIR SUCHEN EURE POSITION. SOFORT STARTEN ZWEI HUBSCHRAUBER, UM EUCH ZU FINDEN. HALTET DURCH! MACHT EUCH BEMERKBAR!“ 

Da brach die Verbindung ab. Trotz mehrmals wiederholter Funkversuche konnten wir keine Antwort geben. Ich blickte auf meine Armbanduhr, die noch funktionierte: 15 Uhr. 

Stefan suchte schon seit Stunden verzweifelt nach einem Buch über Schlangen in Afrika, in der Wüstenregion, Giftschlangen.

Endlich. Stefan hielt einen Reiseführer in der Hand mit Fotos von gefährlichen Tieren, darunter auch Schlangen. „Welche Schlange war es?“, bedrängten wir Paul, der leise stöhnte, über starke Schmerzen klagte. Ich hielt ihm die Bilder vor die Augen. Nachdem er mehrmals den Kopf geschüttelt hatte, schrie er unerwartet auf: „Die – genau die war es.“ Er deutete auf das Bild einer afrikanischen Puffotter, einer gefährlichen Giftschlange.

Tagebuch – Während der Nacht von Donnerstag auf Freitag 

Wir hatten es geschafft! Es hatte geklappt. Hilfe würde kommen. Wir standen wie erstarrt, ein – zwei Sekunden lang, dann lagen wir uns erschöpft in den Armen, lachend und weinend – gleichzeitig. Die Angst fiel wie ein tonnenschweres Gewicht von uns ab. Eine einzige Nacht lag noch vor uns. Ich rannte zu Paul, wollte ihn beruhigen, „Paul, gerettet, wir werden gerettet, du schaffst das! Sie holen uns mit einem Hubschrauber!“

Stunden später. Mitten in der Nacht.

Ich schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Ungewohnter Lärm hatte mich geweckt. Hubschrauber. – Ein knatterndes Geräusch, das sich langsam näherte, die Nacht durchdrang, immer lauter wurde, bedrohlich laut. Ein unerklärliches Unbehagen überkam mich, da stimmte etwas nicht. Ich rannte zu Paul, warf rasch einige Jacken über ihn. Warum – ich konnte es mir nicht erklären. „Bleib ruhig“, flüsterte ich ihm zu, versteckte mein Buch und einen Stift unter seinen Jacken. „Schreib weiter, später.“ 

Intensivstation

Sonntag

Am Sonntagnachmittag besuchte Dr. Wenz den Kranken erneut. Das Tagebuch hatte er in der Hand und zeigte es dem Mann, der keine Ahnung zu haben schien, was das zu bedeuten hatte. Er las ihm aus dem Buch vor und beobachtete die Reaktion des Patienten. Gleichgültigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Immer wieder schloss er die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

Am späten Abend trat Dr. Wenz wieder vor das Bett. Er hielt das zerfetzte Bild einer Frau in der Hand, zeigte es dem Mann. „Diese Frau – war sie bei euch in der Wüste? Es müssen mehrere Personen gewesen sein. Denken Sie nach!“ Leichtes Kopfschütteln war die Antwort.

Dr. Wenz blätterte immer wieder suchend in dem Tagebuch, als ob er etwas übersehen hätte. Auf einmal entdeckte er einige Wörter, nach vielen leeren Seiten, die in einer anderen Schrift geschrieben waren, schief hin gekritzelt, kaum zu entziffern, in unterschiedlicher Buchstabengröße. Hubschrauber – Nacht – Hilfeschreie – alle weg.

Das hatte ein anderer geschrieben.

Wieder las er dem Geretteten diese Wörter vor, ließ sie ihn selbst lesen, mehrmals. Da ertönte plötzlich das Propellergeräusch eines Rettungshubschraubers, der von der Klinik aus startete und in diesem Augenblick zuckte der Mann zusammen mit vor Angst geweiteten Augen. Panisch wollte er sich reflexartig die Decke über den Kopf ziehen, wollte unsichtbar sein. Aber vor wem und warum?

Dr. Wenz beruhigte ihn. „Keine Gefahr, das ist ein Rettungshubschrauber.“ Als wieder Stille eingekehrt war, setzte sich der Mann im Bett auf und griff nach dem Tagebuch. „Wo sind die anderen? Wo ist Rita?“, wollte er wissen.

Allmählich schienen einzelne Erinnerungsfetzen aus dem Nebel des Vergessens aufzutauchen. Der Arzt zeigte ihm das Bild der Frau erneut. „Rita“, murmelte der Mann „ich habe alles aufgeschrieben. Wo bist du?“ Er begann wieder unruhig zu werden. „Alles ist in Ordnung. Versuchen Sie zu schlafen, Sie sind bald wieder gesund. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Paul, Paul Grassner“, flüsterte er und schlief ein.

Nachdenklich verließ der Arzt das Zimmer, das Tagebuch fest in der Hand haltend.

Intensivstation

Die folgenden Wochen

Im Verlauf der folgenden Wochen besuchte Dr. Wenz täglich seinen Patienten, immer mit dem Buch in der Hand, immer mit der Hoffnung das Erinnerungsvermögen von Paul wieder aktivieren zu können. 

An folgenden Donnerstag blätterte er in seiner Mittagspause in einer Tageszeitung, wollte sie schon schließen, da fiel sein Blick auf einen Artikel mit einer Überschrift, die seine Aufmerksamkeit erregte:

„MYSTERIÖSES AUFTAUCHEN VON DEUTSCHEN PERSONEN IN DER AMBULANZ DES KRANKENHAUSES IN BUJUMBURA, BURUNDI.

Am Mittwoch erschienen acht Personen in der Ambulanz des Krankenhauses und baten um Hilfe. Sie waren auf der Suche nach einer weiteren Person und wussten nicht, wie sie auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus gelangt waren, konnten ihre Namen angeben und ihren Herkunftsort, sich jedoch nicht ausweisen, wirkten sehr verwirrt und sprachen von einem Aufenthalt in einem anderen Krankenhaus, von Operationen und Behandlungen. Genaueres war nicht zu erfahren. Eine der Personen hatte starke Schmerzen. Eine ärztliche Untersuchung ließ erkennen, dass alle Personen frische Operationsnarben aufwiesen, die auf eine Organentnahme hindeuteten. Weitere Untersuchungen ergaben bei fünf Personen, dass eine Niere fehlte und bei den drei anderen war ein Lungenflügel entfernt worden.

Wer waren diese mysteriösen Organspender? Trotz einer durchgeführten Nachfrage in allen Krankenhäusern, die Organverpflanzungen vornehmen, konnten in letzter Zeit nur wenige Organ-Empfänger ausfindig gemacht werden, die jedoch nachweislich andere Spender hatten.“

Unterhalb des Artikels befand sich ein kleines Foto der erwähnten Personen, die trotz der geringen Bildgröße deutlich zu erkennen waren. Es handelte sich um drei Frauen und fünf Männer, alle unterschiedlichen Alters. Eine Frau glaubte er bereits schon einmal gesehen zu haben: Rita, die Frau auf dem Foto, das an der Absturzstelle aufgetaucht war.

Dr. Wenz starrte wie elektrisiert auf das Foto und den Artikel, las ihn zum wiederholten Mal und spürte plötzlich, dass es da einen Zusammenhang gab mit Paul. Er begann das Ungeheuerliche zu ahnen, das da passiert sein könnte, wagte aber nicht, es zu glauben: Wehrlose Menschen als unfreiwillige Organspender missbraucht?

Minuten später nahm Dr. Wenz telefonischen Kontakt mit dem Chefarzt des Krankenhauses in Bujumbura auf und berichtete ihm von seinen Erfahrungen mit Paul Gassner, dem ungewöhnlichen Flugobjekt und seiner Vermutung aufgrund des Tagebuches: Menschen waren Opfer eines organisierten Organhandels geworden. Davon war er nun überzeugt und auch davon, dass es zwischen Paul und der Personengruppe einen Zusammenhang gab. Der Chefarzt versicherte ihm, er werde weitere Nachforschungen einleiten und ihn auf dem Laufenden halten.

Zwei Stunden später stand Dr. Wenz bei Paul am Krankenbett. Er zögerte, dann entschloss er sich zu einem Experiment. Er las den Zeitungsartikel vor, zeigte dem Kranken das Foto, der wie aus dem Nichts aufgetauchten Personen. Mehrmals. Paul ließ keinerlei Reaktion erkennen. Anschließend las der Arzt aus dem Tagebuch die Stelle vor, von der er annahm, dass Paul sie geschrieben hatte und beobachtete Pauls Gesicht dabei. Nichts veränderte sich in dessen Ausdruck. Danach reichte er ihm das ausgebleichte Bild der Frau, das an der Absturzstelle entdeckt worden war. „Rita. Sie hat Sie gerettet, sie hat Sie versteckt vor dem falschen Hubschrauber.“ Dr. Wenz legte auch das Zeitungsfoto auf Pauls Bettdecke und deutete auf das Gruppenbild. „Und hier ist wieder Rita“, erklärte er, indem er mit seinem Zeigefinger auf eine Frau verwies, deren Kopf er farbig umrahmt hatte.

Paul schaute den Arzt verwundert, aber interessiert an, betrachtete abwechselnd die beiden Bilder, dann griff er nach dem Buch. „Ich lasse Sie jetzt allein. Lesen Sie!“, forderte Dr. Wenz ihn freundlich, aber bestimmt auf. „Vielleicht kommt die Erinnerung zurück.“

Am nächsten Tag las ihm der Arzt erneut den Zeitungsartikel vor, zeigte ihm die Bilder. Mehrmals. Paul blieb stumm.

„Paul, ich glaube, ich weiß jetzt, wer Sie sind. Sie sind die gesuchte Person.“ Erst nach kurzem Zögern nickte Paul zustimmend. 

Der Arzt war inzwischen fest davon überzeugt, dass Pauls Erinnerungsvermögen zurückkehren würde. Allerdings brauchte das seine Zeit, er würde geduldig sein müssen. Aber noch war Paul im Krankenhaus, unter seiner ärztlichen Obhut. Leider zeigte er keine erkennbaren Reaktionen, die auf eine Rückkehr des Gedächtnisses schließen ließen. Seine körperliche Genesung machte dagegen deutliche Fortschritte, das Schlimmste hatte er wohl überstanden, aber wo sollte er nach seiner Heilung hin? Was ging in seinem Kopf vor? Sein Aufenthalt im Krankenhaus war begrenzt. Noch immer beunruhigte Dr. Wenz, dass Paul ihm nur seinen Namen gesagt hatte und auch den Namen seiner Heimatstadt, ihm aber keine Auskunft über seine Angehörigen geben konnte. Wohin sollte er sich nach seiner Entlassung wenden?

Eines Nachts – zwei Wochen nachdem Dr. Wenz Paul zum ersten Mal den Zeitungsauschnitt vorgelesen hatte – dröhnten wieder die Propeller eines Rettungshubschraubers durch die Stille. Wenige Minuten danach holte eine Schwester den Arzt an Pauls Bett. Er fand seinen Patienten in aufgewühlter Verfassung vor. Während Paul das Tagebuch in der einen Hand hielt, triumphierend wie eine Trophäe, winkte er ungeduldig mit der anderen Hand den Arzt zu sich heran.

„Hören Sie! Ich weiß wieder, was in der Nacht passiert ist!“, rief er aufgeregt.

„Der Hubschrauberlärm, das Rotorgeräusch! Ich erstarrte vor Schreck und Angst, vergaß in dem Augenblick meine Schmerzen, fragte mich: Was bedeutete dieser Höllenlärm? Die Hilfeschreie, laut, durchdringend, das Rotorgeräusch, das sich langsam entfernte und die Stille, die zurückkehrte und mich wieder umschloss wie einen Sarg. Ich fühlte es, jetzt war ich ganz allein. Warum hatten sie mich versteckt? Erschöpft schloss ich die Augen. ‚Schreib weiter!, hatte Rita geflüstert und mir ihr Tagebuch zugesteckt. Mühsam tastete ich nach dem Buch, in das sie jeden Tag geschrieben hatte, alles, was sie für wichtig befunden hatte, für die Nachwelt, hatte sie lächelnd hinzugefügt. Aber es war kein Scherz. Es gab nur noch mich. Allein – verletzt, ohne Hilfe. ‚Schreib weiter!‘ Also versuchte ich es, ehe ich zu schwach dazu wurde. Mit zitternden Fingern umklammerte ich den Stift, suchte  mühsam blätternd nach einer freien Seite und begann zu schreiben.“

 (Ende Teil 2)

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Danksagung 

An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem wunderbaren Sohn bedanken, der mir diesen Blog vor ungefähr einem Jahr erstellt hat und mich seitdem dabei unterstützt ihn zu verwalten. Er war der erste Leser meiner Kurzgeschichte „Das Experiment“ und hat mir wertvolle Tipps und Anregungen zum besseren Verständnis für alle weiteren Leserinnen und Leser gegeben.  

Mein besonderer Dank gilt meiner besten Freundin, von Beruf Ärztin. Sie hat sich konstruktiv mit dem Inhalt der Geschichte auseinandergesetzt und mich vor allem bei der Klärung der vorkommenden medizinischen Sachverhalte hervorragend und äußerst geduldig beraten. Von ihr habe ich sehr viel gelernt über die Behandlung von Schlangenbissen und die Vorgehensweise von Ärzten.

 

 

 

Das Experiment (Teil 1)

27 Mittwoch Apr 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Arzt, Aufbruch, Ausdruck, Bücher, Bücherausstellung, Charakter, Erfahrung, Experiment, Frauen, Gedanken, Gefühle, Giftschlange, Männer, Organe, Raumschiff, Schlange, Wüste

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich meine Kurzgeschichte „Das Experiment“ (Teil 1 und Teil 2)

 

In der Wüste

Der Arzt Dr. Wenz hielt ein zerfleddertes Notizbuch in der Hand und blickte ungläubig auf das Krankenbett, in dem der verletzte Mann lag. Diagnose: Schlangenbiss in den linken Oberschenkel. Der Mann befand sich in akuter Lebensgefahr. Er war bewusstlos und seine Stirn glühte vor Fieber.

Wie hatte dieser Mann überleben können? In der Hitze, im Sand der Wüste, ganz allein?

Er war der einzige Überlebende, der an der Absturzstelle eines geheimnisvollen Flugobjektes aufgefunden worden war. Er war allein und es waren in seiner näheren Umgebung keine weiteren Begleiter zu finden, obwohl gestern im eingegangenen Notruf beide Funker von neun Personen gesprochen hatten, von denen eine, wohl der Mann, von einer Schlange gebissen worden war.

Der ärztliche Notdienst war am Donnerstag, gegen 15 Uhr, alarmiert worden. Und sofort waren zwei Rettungshubschrauber gestartet, um sich auf die Suche zu machen. Einziger Anhaltspunkt: In der Nähe der Absturzstelle waren Brieftauben gefunden worden. Tot, wahrscheinlich vor Erschöpfung. Im Umkreis von Johannesburg, das der Austragungsort des bekannten „South African Million Dollar Pigeon Race“ war, bei dem mehr als 6000 Vögel aus aller Welt teilnehmen, hatten sie sich anscheinend verflogen, waren von ihrer Route abgekommen.

Alle möglichen Streckenverläufe wurden überflogen und der Wüstenboden genau kontrolliert. Es konnte in den nächsten Stunden trotz intensiver Bemühungen keine weitere Funkverbindung hergestellt werden. Aufgrund einer defekten Wärmebildkamera der Rettungshubschrauber musste die Suche während der Nacht eingestellt werden.

Erst am nächsten Tag entdeckten die Retter in den Nachmittagsstunden ein riesiges SOS-Zeichen im Sand, das auf die Absturzstelle verwies. Nach der Landung erkannten die Piloten und die Rettungsmannschaft, dass dieses Zeichen aus Büchern gebildet worden war. Büchern unterschiedlichster Art, zum Teil zerfetzt, verschmutzt, oft nur noch aus Buchdeckeln bestehend. Zunächst blieb keine Zeit für eine genauere Untersuchung.

Die Helfer erwarteten neun Personen und fanden nach intensivem Suchen – fast verborgen hinter einer Art notdürftig errichtetem Schutzzelt – eine einzige Person, den Mann mit dem Schlangenbiss, bedeckt mit mehreren Jacken. In der Brusttasche seines Hemdes steckte ein zerknittertes Blatt Papier mit einem Foto: vermutlich eine Seite aus einem Reiseführer, schlampig, scheinbar in Eile herausgerissen, als ob sie dort in letzter Sekunde entdeckt worden wäre.

Überrascht stellte der Arzt fest: „Puffotter. Der Biss stammt von einer gefährlichen Giftschlange.“ Dr. Wenz drückte dem Piloten rasch das Handy in die Hand: „Rufen Sie in der Klinik in S. an. Schnell, wir brauchen sofort das passende Antiserum. Der Biss stammt von einer Puffotter. Kümmern Sie sich darum. Das ist ein Notfall!“

Dem Arzt kam es wie eine Ewigkeit vor, ehe mitgeteilt wurde, dass das benötigte Serum von einer anderen Klinik angefordert werden müsste. Momentan sei keines zur Verfügung. „Notfall, das ist ein Notfall!“, rief Dr. Wenz aufgebracht ins Handy. „Wir brauchen das Serum – so schnell wie möglich!“

Ein prüfender Blick des Arztes genügte, um festzustellen, dass der Mann neben dem Schlangenbiss deutliche Symptome einer Exsikkose zeigte:

Trockene aufgesprungene Haut der Lippen und Nase. Die Zunge war dick und geschwollen, der Mann konnte kaum reden.

Dr. Wenz untersuchte die Bisswunde und versorgte sie mit Hilfe seines Helfers. Desinfektion – Anlegen eines sterilen Verbandes – Tetanusspritze – Ruhigstellung des Beines.

Mit großer Anstrengung gelang es dem Verletzten die Augen kurz zu öffnen. Er versuchte den Rettern mit letzter Kraft etwas mitzuteilen, war aber unfähig einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Obwohl sich der Sanitäter und der Arzt nahe zu seinem Mund neigten, konnten sie schwer verstehen, was der Mann mit heiserer Stimme flüsterte: „Zu spät … Hubschrauber war schon da – Hilfeschreie – alle jetzt weg.“ Für Dr. Wenz, der aus einer deutschen Familie in Namibia stammte, war es kein Problem, dass der Mann deutsch sprach. Er hatte ihn verstanden.

„Keine Angst, wir kümmern uns um Sie“, versuchte Dr. Wenz den Mann zu beruhigen, während er eine Infusion anlegte und sein Helfer Atmung, Bewusstsein und Herzfunktion überprüfte. Der Verletzte hörte seine Worte nicht mehr, er versank im Schweigen tiefer Bewusstlosigkeit.

Die Helfer legten den Verletzten behutsam auf eine Liege und brachten ihn in das Innere des Hubschraubers. Dort wurde sofort ein EKG geschrieben und Notfallmedikamente zur Herzstützung und Entzündungshemmung gegeben. Im Sofortlabor wurden u. a. Blutzucker und Gerinnung überprüft. Der Patient schien einen gefährlichen Blutverlust erlitten zu haben. Sein Zustand war äußerst kritisch.

Dr. Wenz warf einen besorgten Blick auf den Verletzten und beschloss, kein Risiko einzugehen und keine Sekunde länger zu warten. Er ließ sofort das Krankenhaus, an dem er arbeitete ansteuern, es war das nächstgelegene, auch  wenn es nicht besonders modern ausgestattet war, so musste es doch genügen, den Mann zunächst außer Lebensgefahr zu bringen. Sein Rettungsassistent kündigte sie dort über Funk an. Auf der Intensivstation wurde für die Ankunft und Weiterversorgung inzwischen alles Nötige vorbereitet.

Während der vierzigminütigen Flugdauer wurde der Zustand des Patienten weiterhin beobachtet und kontrolliert. Nach der Ankunft im Krankenhaus erfolgte dann sofort die Überwachung auf der Intensivstation und ständige Anpassung der Therapie abhängig von den auftretenden Symptomen.

Dr. Wenz legte dem Verletzten einen Blasenkatheter zur Kontrolle der Harnausscheidung. So war es möglich, ein drohendes akutes Nierenversagen aufgrund nierenschädigender, blut- und muskelzerstörender Gifteffekte rechtzeitig erkennen zu können. 

Der zweite Hubschrauber blieb vor Ort. Das Rettungsteam, bestehend aus einem weiteren Arzt, einem Sanitäter und dem Piloten durchsuchten zum wiederholten Mal die Umgebung der Absturzstelle und auch das Innere dieses seltsamen Flugobjektes, das einem querliegenden Raumschiff glich. Sie fotografierten das ungewöhnliche Flugobjekt sowie das SOS-Zeichen, geformt aus auf dem Boden verstreuten Büchern. Seltsamerweise waren keine Spuren aufzufinden. Trotz intensiver Suche war nichts zu erkennen, was auf die Anwesenheit mehrerer Personen schließen ließ. Die Landung – woher auch immer – war wohl nicht problemlos verlaufen. Das Flugobjekt lag der Länge nach im Sand und war teilweise zerstört.

Was war passiert? Sie versuchten sich an die Worte des verletzten Mannes zu erinnern. Was sagte er? „Zu spät … Hubschrauber war schon da – Hilfeschreie – alle jetzt weg.“

Es war eindeutig von mehreren Menschen die Rede, das stand fest. Wo aber waren sie geblieben?

Sobald der Mann wieder aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde, könnte er ihnen vielleicht weitere Auskünfte geben.

Der Pilot bestand darauf, noch einmal das Innere des seltsamen Raumschiffes genau zu durchsuchen. Es musste doch etwas zu finden sein. Menschen hinterlassen Spuren, Abfälle. Irgendwo musste doch etwas zu erkennen sein. Irgendetwas. Noch einmal begaben sich die drei Männer in das Innere und blickten sich aufmerksam um: Teile von Büchern lagen verstreut auf dem Boden, gesplittertes Holz kaputter Regale, Glassplitter zertrümmerter Fensterluken.

Plötzlich fiel der wachsame Blick des Piloten auf unscheinbare schwarze Punkte, die sich emsig am Boden bewegten. Ameisen? Eine Ameisenstraße war deutlich zu erkennen. Die Männer verfolgten den Weg der Ameisen, suchten unter den Büchern. Tatsächlich – die Tiere transportierten unermüdlich winzige Krümel, Papierteilchen, Stofffäden, kaum erkennbare Holzsplitter. Unbeirrbar steuerten sie ihr Ziel an: Sie verschwanden wie ferngesteuert in einem Spalt im Boden.

Kurz darauf entdeckten die Männer unter einem Haufen Glasscherben ein Bild, darauf war – kaum noch zu erkennen, von der Sonne ausgebleicht – das Gesicht einer jungen Frau zu sehen. Dunkle Haare, kurz geschnitten, freundliches Lächeln, helle Augen.

Als Dr. Wenz seinen Patienten fürs Erste versorgt wusste, fiel etwas von der Daueranspannung von ihm ab, die er nur zu gut von anderen Notfalleinsätzen kannte. Er schlug das Notizbuch auf.

Tagebuch – Montag 

Diese Zeilen sind eine letzte Nachricht, eine letzte Hoffnung einiger, die es gewagt haben sich noch zu Büchern zu bekennen. Sie werden lachen, sollten Sie jemals von dieser Botschaft zu hören bekommen. Sie werden ungläubig den Kopf schütteln, sie nicht glauben wollen, ja nicht glauben können, so unfassbar erscheint sie. Und doch behaupte ich, dass ich nichts als die Wahrheit sage, die Wahrheit soweit sie mir bewusst ist. Was soll das alles, werden Sie fragen und sich mit anderen Dingen beschäftigen wollen. Ich aber rate Ihnen, obwohl es unbequem ist, lesen Sie meine Botschaft, vielleicht können Sie uns noch retten oder aber sich selbst und viele andere, die ebenso bedroht sind wie wir alle.

Welche Bedrohung, wollen Sie wissen. Sie leben schon lange genug angesichts drohender Umweltkatastrophen, angesichts des über uns schwebenden Damoklesschwertes der Atombombe und selbst der Kriege in unserer Nachbarschaft, die ihre furchteinflößende Wirkung auf uns längst verloren haben. Welche Bedrohung nun also?

Neben all den bekannten Bedrohungen, an die wir uns schon fast gewöhnt haben solange sie uns nicht selbst betreffen, wächst noch völlig unbemerkt mitten in unserem Land eine neue, noch nie dagewesene Gefahr. Aber nun genug, ich muss meine Kräfte einteilen, um noch ein paar Tage überleben zu können, in der Hoffnung auf Hilfe von irgendwoher in irgendeiner Form. 

Wie es genau passierte, daran habe ich keine Erinnerung mehr. An den Tag allerdings kann ich mich genau erinnern, denn noch habe ich die Eintrittskarte samt Datum und sogar Uhrzeit aufbewahrt: Montag, 5. April, 14 Uhr. Die Fahrkarte ins Unglück sozusagen. Mit vielen anderen besuchte ich damals die seit langem angekündigte Bücherausstellung in unserer Stadt. „Kein Leben ohne Bücher“, so stand es in riesigen bunten Buchstaben auf den Plakaten mit denen überall in unserer Stadt für diese Ausstellung geworben worden war. Einmalig, unvergesslich sollte sie sein.

Das Wetter war denkbar schlecht, aber Leute, die gerne lesen, störte das nicht. Es regnete heftig. Immer wieder neu herabprasselnde Regenschauer, gemischt mit Hagelkörnern und starke Windböen trieben die Besucher, die sich in die Ausstellung gewagt hatten in die Ausstellungszelte und vor allem in die „Attraktion“: Zum ersten Mal war zu diesem Zweck ein raumschiffähnliches Gebäude geschaffen worden, das der Länge nach auf dem Boden liegend einem Buch glich, das mit der weithin sichtbaren Aufschrift „Kein Leben ohne Bücher“ einen Menschenstrom anzog und ihn einlud, sich in sein Inneres zu begeben, um die ausgestellten Bücher bewundern zu können.  

Eine enge Wendeltreppe führte in sein Inneres. Zu beiden Seiten schmaler Gänge waren Bücher ausgestellt, seltsamerweise völlig ungeordnet, was mir aber nicht gleich auffiel. Die Enge in dieser Bücherrakete erinnerte mich an das Innere eines U-Bootes, sie erdrückte mich fast und erzeugte ein be­klemmendes Gefühl in mir, so als ob ich in einer Blechdose gefangen wäre. Plötzlich konnte ich kaum mehr schlucken und verspürte das gierige Verlangen nach einem Schluck Wasser und kühler Luft. Das war meine letzte Erinnerung und was dann geschah, wie es geschah, ja überhaupt möglich war, bleibt für mich im Ungewissen. 

Tatsache aber ist, nach unbestimmter Zeit befanden wir uns alle noch in diesem Bücherraumschiff, allerdings an einem anderen Ort, in einem anderen Land. Wir starrten benommen aus den schmalen Luken, die bei der Landung zum Teil zerstört worden waren und konnten es nicht glauben, wollten nicht erkennen, was wir mit eigenen Augen wahrnahmen: Wüste. Wüste um uns herum. Sand, heißer gelbrot glühender Sand, ein unermesslicher Reichtum an Sand umgab uns. Heiße Luft strömte durch die zerstörten Luken, nahm uns den Atem, drohte uns zu ersticken. Wir fühlten uns innerhalb von Sekunden wie in einem heißen Backofen. Schweiß bedeckte uns am ganzen Körper, klebte an uns, rann unaufhörlich unseren Körper hinab. Wir rissen uns die Regenkleidung vom Leib, wollten vorerst nur eines: Abkühlung und frische Luft. Stolperten unsicher aus dem Raumschiff, versammelten uns in dem wenigen Schatten, den es uns bot. 

Dann erst blickten wir uns an, um zu erkennen, mit wem wir denn da gefangen waren an einem Ort, der einer Verbannung gleichkam. Mit wem wir denn nun unser Leben teilen mussten, mit wem wir die vielleicht letzten Tage verbringen mussten.

Fassungslose, erwartungsvolle Blicke wurden getauscht. Jeder schien auf eine Erklärung des anderen zu warten. Das konnte doch nicht wahr sein, sich plötzlich in der Wüste zu befinden, das durfte so nicht sein. Angst, Empörung, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung brachen aus, äußerten sich in aufkommender Panik. 

Intensivstation

Freitag

Der Patient bewegte sich, murmelte undeutlich. Aufmerksam beobachtete ihn Dr. Wenz. Rasch schloss er das Notizbuch, das er in der Hand gehalten hatte. Die Seiten fleckig, teilweise eingerissen und zerknittert, viele Wörter unleserlich, ausgebleicht. Wer hatte das geschrieben? Was war da passiert?

Später. Später, zwang er sich zu denken. Zuerst musste dem Mann geholfen werden. 

Trotz der eingeleiteten Maßnahmen zur Notfallversorgung versank der Kranke immer wieder in Bewusstlosigkeit. Haben wir etwas übersehen, überlegte der Arzt. Lag es am Zustand der Austrocknung? Er besprach sich mit einem Kollegen, der Erfahrung mit Schlangenbissen hatte. Vorerst war kein Versäumnis zu erkennen.

Die Wunde dagegen bereitete dem Mediziner Sorgen: Schwellung und fortschreitende Rötung am Oberschenkel, die gesamte Region wegen der starken Entzündung offensichtlich sehr schmerzhaft und äußerst berührungsempfindlich, Ödeme mit Blasenbildung um die Bissstelle herum, wahrscheinlich beginnende Nekrosen.

Nach weiteren Stunden der genauen Beobachtung und erneuten Kontrolle, auch der Laborwerte, konnte (gegen 22 Uhr) eine leichte Tendenz zur Stabilisierung festgestellt werden. Es gelang auch, den Patienten stündlich aufzuwecken und kurze Zeit wachzuhalten. Allerdings konnte er sich immer noch nicht zusammenhängend äußern.

Dr. Wenz nützte jede freie Minute, in der er nicht gebraucht wurde, um in dem Tagebuch weiter lesen zu können.

Als die ersten, zwei ältere Frauen, durchdringend zu schreien begannen, taten die beiden jungen Männer neben ihnen das einzig Richtige, sie hielten ihnen den Mund zu, versuchten es wenigstens, brauchten aber die Hilfe der anderen. Ratlos blickten die Helfer um sich, denn schon zeichneten sich auf einigen Gesichtern weitere Panikreaktionen ab.  

So durften wir nicht reagieren, das wäre für alle zu gefährlich. Ich blickte mich um, suchte mir schnell einige noch unbekannte Gesichter aus, nickte ihnen aufmunternd zu und stellte mich neben einen älteren Herrn, der ganz langsam immer heftiger zu zittern begann. Um ihn zu beruhigen, legte ich ihm sanft meine Hand auf den Arm.

Endlich sprach da einer, zerschnitt mit seiner wohltuenden Stimme den Vorhang der Angst und Düsternis, der uns zu ersticken drohte. Endlich übernahm da einer die Führung und somit die Verantwortung, war da einer bereit zu helfen. Alle atmeten auf. Die Gesichter entspannten sich, glätteten sich wie das Meer nach einem Sturm. Alle Augen blickten vertrauensvoll auf den einen, der sprach, ein hochgewachsener schlanker Mann, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte: „Ich bin Stefan Koller, 54 Jahre alt, verheiratet und arbeite seit zwanzig Jahren als Filialleiter in einer Sparkasse. Dort bin ich unter anderem auch verantwortlich für die Weiterbildung unserer Mitarbeiter. Keine Sorge. Wir werden diese Situation gemeinsam durchstehen, wenn wir gemeinsam bereit sind, alles Mögliche zu tun. Wir sind zusammen“, er zählte rasch die Anwesenden „neun Personen. Wir dürfen nicht verzweifeln, denn wir können uns die Ideen von neun Gehirnen, die Erfahrungen ebenso vieler zu Nutze machen. Und“, er drehte sich um und deutete lächelnd auf das Innere des Flugobjektes, in dem die Bücher, wild durcheinander auf dem Boden lagen, „wir haben noch viele Helfer um uns. Am allerwichtigsten ist es, Panik zu vermeiden, darüber muss sich jeder von uns klar sein. Jeder.“ Mit Nachdruck sah er uns fest in die Augen, jedem einzelnen von uns, bis er durch ein Nicken die Bestätigung eingeholt hatte. 

In den nächsten Stunden machten wir uns miteinander bekannt. Unser Chef forderte uns zu einer Vorstellungsrunde auf.  

Thomas, 25 Jahre und Hannes 27 Jahre, zwei Studenten der Elektrotechnik, kannten sich vom gemeinsamen Studium an der gleichen Universität, wirkten ruhig und gefasst, als ob sie unsere Notlage nicht erschüttern könnte. Anna, 62 Jahre, gab an Hausfrau zu sein. Sie war Oma von drei Enkelkindern im Alter von drei, fünf und acht Jahren um die sie sich große Sorgen machte, weil sie befürchtete, sie nicht mehr wiedersehen zu können. Karin, alleinstehend, 58 Jahre, arbeitete als Altenpflegerin in einem Altenheim. Robert, 69 Jahre, ehemaliger Versicherungsangestellter, seit fünf Jahren im Ruhestand. Paul, 43 Jahre, verheiratet, eine erwachsene Tochter, war als Landschaftsgärtner bei der Stadtverwaltung angestellt. Matthias, 17 Jahre, angehender Bürokaufmann, befand sich im dritten Ausbildungsjahr. Als letzte stellte ich mich vor: Rita, 32 Jahre, Kindergärtnerin. 

Wir bestimmten Gruppen, die zu wachen hatten, während andere schliefen. Wir teilten uns ein in körperlich kräftige und geschwächte Personen. Wir durchsuchten unsere Taschen nach brauchbaren Dingen. Sonderbarerweise funktionierte keines der vorhandenen Handys mehr. Kein Empfang. Funkstille. Wir kontrollierten unseren Proviant, was sehr wenig war, denn keiner hatte damit gerechnet, in der Wüste zu landen und das für ungewisse Zeit.

Nur wenige hatten überhaupt Essensvorräte dabei, die sie nach kurzem Zögern mit den anderen teilten: einige Äpfel, ein Sandwich, mehrere Packungen Kekse und einige Powerriegel. Fast alle hatten dagegen Trinkflaschen, die zum Teil noch mit Wasser gefüllt waren.

Wir versuchten Bücher zu sortieren, die uns nützlich sein konnten. Aber die ungewohnte Hitze drang in unser Raumschiff, lähmte uns, ließ all unsere eben gewonnene Hoffnung schmelzen, Tropfen für Tropfen im Sand versickern. Wir mussten uns vor der Hitze schützen, auf den Abend, die Nacht mit ihrer Kühle warten. Aus allen geeigneten Kleidungsstücken – Regenmänteln und Jacken – und den zerbrochenen Teilen von Bücherregalen sowie der Bespannung der vorhandenen Regenschirme gelang es einigen von uns, vor dem Bücherraumschiff ein notdürftiges Zeltdach zu errichten, das ein wenig Schutz vor der Hitze gewährte. Reglos und stumm erwarteten wir unsere erste Nacht im Freien in der Hoffnung auf Abkühlung. 

Es dauerte. Stunde um Stunde wehrte sich zu vergehen. Zeit, die sonst immer kostbar, kaum verfügbar war, Zeit umgab uns nun in ungewolltem Ausmaß. Wir saßen, lagen hilflos herum, wühlten in dieser freien Zeit mit unseren Gedanken wie Maulwürfe in der Erde, schütteten Fragen auf, die beantwortet werden wollten – und immer noch blieb ein Übermaß von Zeit.  

Rilke. In dieser Lage an Rilke zu denken schien verrückt. Und doch fielen mir einzelne Wortfetzen seiner Gedichte ein, die ich genoss wie ein Stück Schokolade, ganz langsam auf der Zunge zergehend. „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem …“ 

Endlich war die Temperatur erträglich und es war möglich, unsere erste Nachtsitzung abzuhalten. Wir sprachen über unsere Vorstellungen, wie wir überleben könnten. Wie lange, danach wagte keiner zu fragen, aber ich machte mir wenig Hoffnung. Dreißig Tage ohne Nahrung, drei Tage ohne Wasser. Aber diese Frage musste ignoriert werden, um Panik zu vermeiden.

Heute war Montag, der erste Tag. Heute bekam noch jeder etwas zu trinken. Heute noch … 

Intensivstation

Freitag

Die Schwester rief Dr. Wenz plötzlich. „Der Blutdruck fällt! Blutungen an der Bissstelle sind aufgetreten.“

Eilig warf Dr. Wenz das Buch auf seinen Stuhl und rannte in das Zimmer seines unbekannten Patienten. Die Schwester hatte die Blutung beim Verbandswechsel bemerkt. Der Arzt untersuchte die Wunde und das Gewebe im Umfeld. Bis auf die Blutung war der Zustand der Wunde unverändert. Die neuerlichen Laborwerte deuteten dazu passend auf eine Gerinnungsstörung hin, die Niere arbeitete allerdings noch gut.

„Wo bleibt das Antivenin?“, der Arzt wandte sich an eine weitere Schwester. „Rufen Sie bitte noch einmal in der Klinik in S. an. Wir brauchen es dringend. Es könnte seine Rettung sein.“

Der Patient befand sich wieder in einem Dämmerzustand, bewegte sich jedoch immer wieder und wirkte sehr unruhig. Ab und zu gab er undeutliche Laute von sich, fuchtelte aufgeregt mit den Armen, als wehrte er eine ihm drohende Gefahr ab. Die Schwester strich ihm beruhigend über die Stirn. Plötzlich bäumte der Mann sich auf, stieß einen gellenden Schrei aus und sank erschöpft wieder zurück. Der Arzt und die Schwester blickten sich an. „Glauben Sie, dass er Alpträume hat? Fieberphantasien?“, fragte die Schwester. Stumm nickte der Arzt.

Und erneut fragte er sich: Was war da passiert? Was haben wir übersehen? 

Schichtwechsel

Freitagabend 

Vor Beendigung seiner Dienstzeit besprach sich Dr. Wenz mit seinem Kollegen Dr. Jawara, der Nachtdienst hatte. „Denken Sie bitte daran: Kontrolle in kurzen Abständen! – Beibehaltung aller Intensivmaßnahmen, auch wenn es dem Patienten besser zu gehen scheint! Ich bleibe in der Klinik. Sie können mich bei Verschlechterung des Zustandes rufen. Jederzeit.“ 

Das zerfledderte Buch ließ Dr. Wenz nicht zur Ruhe kommen. Er hoffte auf eine Aufklärung dieser seltsamen Geschichte und begann im Arztzimmer weiter darin zu lesen. 

Noch war es möglich miteinander zu diskutieren, gemeinsam Ideen zu sammeln und erste Pläne für die nächsten Tage zu entwickeln, erste aufkeimende Ängste zu ersticken. Aber wie lange würde das funktionieren? Die lang ersehnte Nacht brachte uns eine unangenehme Kälte, die uns am Schlafen hinderte wie vorher die unerträgliche Hitze des Tages. Allen war klar, wir mussten irgendwie dafür sorgen, ein Feuer machen zu können und dazu geeignetes Brennmaterial finden. Voll wirrer Gedanken im Kopf ließ mich schließlich die Erschöpfung für einige Stunden in einen unruhigen Schlaf fallen, um wenigstens kurz dieser unglaublichen Situation zu entfliehen.   

(Ende Teil 1)

Vogelfrei – Acryl auf Leinwand

24 Dienstag Nov 2015

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Aufbruch, Ausdruck, Bäume, Berge, Flug, Leichtigkeit, Vogel

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Vogelfrei (Maße 60 x 50 cm)

November

01 Sonntag Nov 2015

Posted by josephinesonnenschein in Gedicht, Literatur, Lyrik

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Alter, Aufbruch, Ausdruck, Einsamkeit, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen

Und wieder an Gräbern stehn
wie jedes Jahr
und wieder vor lauter Gräber
nichts als Namen sehn,
gepresst in Stein oder Holz,
geboren, gestorben, alles klar ablesbar,
gelebt aber, wie und wofür,
gehofft worauf, gebangt um, sich gefreut über,
geträumt von, geliebt  oder gehasst von wem,
wir wissen es nicht,
wir werden es nicht mehr wissen
zu lange haben wir gewartet, oft
zu wenig haben wir gefragt, manchmal
zu viel haben wir versäumt, fast immer
was also bleibt zu tun
Gräber pflegen,
nachträglich
Gräber schmücken,
an gewissen Tagen
Gräber besuchen,
in gleichen Abständen
kann das alles sein
mit starren Gesichtern unzählige Menschen um mich,
erkennen nicht den wahren Augenblick,
fühlen nicht unsere Gemeinsamkeit,
schenken sich kein Lächeln, kein Wort,
lassen ihre Blicke stumm über Gräber kreisen,
kontrollieren, vergleichen, werten,
erkennen nicht, was wichtig wäre,
jetzt aufeinander zu warten,
jetzt einander zu fragen,
jetzt miteinander zu leben
in diesem Meer von Menschen, dieser Kälte von Gleichgültigkeit
möchte ich nicht ertrinken
ich gehe

Auf dem Weg – Mischtechnik auf Papier

19 Montag Okt 2015

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Aufbruch, Ausdruck, Erwartung, Menschen, Weg, Ziel

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Auf dem Weg (2015)

Im sicheren Hafen – Pastellkreide auf Acrylabdruck

17 Samstag Okt 2015

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Ankunft, Aufbruch, Ausdruck, Hafen, Meer, Reise, Schiff, Segel, Segelschiff, Wasser

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Im sicheren Hafen  (2015)

Saxophonspieler – Pastellkreide auf Acrylabdruck

16 Freitag Okt 2015

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Acryl, Aufbruch, Ausdruck, Charakter, Großstadt, Musik, Musiker, Saxophon, Straßenmusikant

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Saxophonspieler (2012)

Blue Energy – Kreide und Tusche auf Papier

05 Montag Okt 2015

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Aufbruch, Ausdruck, Beweglichkeit, Bewegung, Energy, Kraft, Power

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Blue Energy (2010)

Unterwegs zu Freiheit

14 Freitag Aug 2015

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Abenteuer, Afrika, Aufbruch, Ausdruck, Charakter, Elefant, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Flaschenpost, Freiheit, Freude, Freundschaft, Herz, Phantasie, Reise, Tiere

Der kleine Elefant lag im Tor zum Licht. Tagein, tagaus lag er da, beobachtete Plitsch-Platsch, die lustigen Delphine, die miteinander spielten, sich unter den Gischtkronen der Wellen versteckten und – kaum waren sie untergetaucht – elegant aus dem Wasser sprangen, um sich gleich darauf wieder unermüdlich zu jagen. Da sehnte er sich danach in die weite Welt zu wandern, um einen Freund zu finden. Stundenlang starrte er in die Meerestiefe, wartete und wusste selbst nicht worauf. So vergingen endlos die Tage bis er eines Morgens, gleich nach dem Aufwachen, als er die Traumtropfen der letzten Nacht energisch abgeschüttelt hatte, auf einmal wusste, ja mit deutlicher Sicherheit sogar fühlte: Heute ist ein besonderer Tag. Heute ist mein Tag. Aufgeregt starrte er in das geheimnisvolle grünblaue Dunkel unter Wasser – und plötzlich stutzte er: eine Flasche stieg geheimnisvoll aus der Tiefe des Meeres empor, schaukelte oben in den Wellen, wiegte sich und trieb ganz langsam auf ihn zu.

Er streckte seinen Rüssel aus, tauchte in das kalte Wasser, fasste behutsam die Flasche am Hals, zog sie an Land und betrachtete sie genauer. Er drehte und wendete sie. Sie war mit winzigen glitzernden Muscheln bedeckt und etwas Helles schimmerte durch den trüben Flaschenhals. A message in a bottle?

Eine kleine Papierrolle fiel heraus, nachdem er den Verschluss geöffnet hatte. Aber abgrundtief war die Enttäuschung, als er feststellte, dass er nicht lesen konnte, was da in geheimnisvollen Zeichen geschrieben stand, versehen mit Pfeilen und verziert mit Zauberblumen, die einen betörenden Duft ausströmten und seine Sehnsucht weckten nach Ferne, nach der weiten Welt, nach Reisen und Ankommen, nach Gemeinschaft und Freundschaft. Ihm wurde ganz schwindlig, als er den Duft einatmete, dabei die Augen schloss und wunderbare Bilder vor seinem inneren Auge auftauchten. Da wusste er, was zu tun war: Er musste sich auf die Reise machen, um den Absender der geheimnisvollern Botschaft zu finden, denn er war sich sicher, dass dieser so fühlte wie er und irgendwo in der weiten Welt auf ihn wartete. Neue Kräfte, die ihn zum Fortgehen drängten, durchströmten seinen Körper und der kleine Elefant spürte großen Mut in ihm aufsteigen. Entschlossen verließ er am nächsten Tag das Tor zum Licht und machte sich auf zu einer Reise ins Unbekannte.

Kurz darauf begegnete er einer winzigen Elfe, die verträumt auf einer Wiese lag und schon früh am Morgen mit glitzernden Tautropfen spielte, die sie in die Luft warf und geschickt wieder auffing mit ihren zierlichen Händen. Fasziniert beobachtete der Elefant sie, während er ausruhte und frisches Grün genoss. „Hallo, kleine Elfe“, sprach der Elefant das zarte Wesen an und versuchte seine laute Stimme zu dämpfen, um es nicht zu erschrecken. „Du willst doch sicher von mir wissen, was auf dem Papier steht, das du in einer Flasche mit dir herumträgst?“, plapperte die Elfe mit einem hellen Stimmchen, das ganz unerschrocken klang.

„Woher weißt du denn das?“, wunderte sich der Elefant und sprach vor Überraschung wieder mit seiner lauten Stimme.

„Ach du, ich fürchte mich nicht vor dir. Du kannst ruhig mit deiner tiefen Stimme reden. Ich kenne dich doch schon so lange. Auf meinen Phantasiereisen bist du mir schon oft begegnet. Ehrlich – ich warte schon seit einiger Zeit auf dich.“

„Ja, wenn das so ist“, wunderte sich der kleine Elefant, „dann kannst du mir vielleicht weiterhelfen.“

„Aber klar: Überquere die große Zauberwiese, gehe vorbei an den Tulpen, geradewegs auf den großen Roten Mohn zu, biege dort links ab zur Weißen Orchidee, und marschiere weiter zu den Zauberblumen, die so stark duften, dass du den Weg nicht verfehlen kannst, du brauchst nur deinen Rüssel in die Luft zu strecken, er wird dir die Richtung weisen. Dort musst du dann weiter fragen“, wisperte die kleine Elfe und warf verspielt mit ein paar Tautropfen nach ihm, die auf seiner schuppigen rauen Elefantenhaut kleben blieben und seine Stirn schmückten – genau zwischen den großen Ohren. Es sah aus, als trüge er Diamanten.

„Danke, danke, du hast mir sehr geholfen.“

„Keine Ursache und viel Glück unterwegs“, sprach die Elfe, kuschelte sich ins Gras, zog sich ein Löwenzahnblatt über das Gesicht und – der Elefant glaubte sich verhört zu haben – schnarchte tatsächlich in leisen Tönen.

Erleichtert machte sich der Elefant auf den Weg, den ihm die Elfe geschildert hatte. Stundenlang marschierte er über die große Wiese, die sich immer weiter ausdehnte, kaum glaubte er am Ziel zu sein, vorbei an den Tulpen, dem Roten Mohn, da endlich drang ihm ein unbeschreiblicher Duft in seinen Rüssel. Das mussten sie sein, die Zauberblumen, endlich, er konnte seine Beine kaum mehr bewegen, spürte eine bleischwere Müdigkeit in seinen Gliedern und einen quälenden Durst. Mühsam kämpfte er sich Schritt um Schritt voran. Die Sonne war längst schon untergegangen und am Himmel leuchteten die ersten Sterne.

„Wasser. Nur ein paar Tropfen Wasser“, murmelte er vor sich hin und torkelte schon leicht vor Erschöpfung. Sein Körper begann zu schwanken und er sehnte sich zurück in das Tor zum Licht, wo er sich den ganzen Tag nicht so anzustrengen brauchte.

Schon hatte er vergessen, wie langweilig ihm da oft war, schon wollte er nichts mehr wissen von seiner Reise um die Welt, vergaß die geheimnisvolle Botschaft und wünschte sich nur Ruhe und Erholung. Urlaub in der Toskana – das wäre jetzt etwas! Ab in den Süden! Vor Müdigkeit glaubte er schon zu phantasieren. Unzählige Turmspitzen und Kuppeln tauchten vor seinem Auge auf, aber das war nicht die Toskana, nein, er befand sich in einer Stadt aus 1001 Nacht.

„Hilfe!“, schrie da in seiner Nähe jemand, der sich in höchster Not befand. Erschrocken blickte sich der Elefant suchend um, aber er konnte niemanden entdecken. „Hilfe!“ Noch lauter gellte der Ruf, noch dringender. Wer brauchte da seine Hilfe? Und wo? Der Elefant drehte sich aufgeregt im Kreis und blickte dabei hinter sich. Vor Staunen und Verblüffung riss er seine Augen weit auf, als er plötzlich erkannte, wer da so verzweifelt schrie.

Ein winzige Katze hing an einem Seil, das zwischen zwei niedrigen Pfosten gespannt war, klammerte sich ganz entsetzt mit den Pfoten daran fest, um nicht herunterzufallen – was übrigens kein Unglück gewesen wäre. Angst stand in ihren weit aufgerissenen kullerförmigen Augen, die in der Dunkelheit grün wie Edelsteine leuchteten.

„Na, na“, sprach der Elefant beruhigend auf das Kätzchen ein, fasste es vorsichtig am Kragen mit seinem Rüssel und setzte es behutsam auf dem Boden ab.

„Was ist denn mit dir los?“ Das Kätzchen zitterte am ganzen Körper, erholte sich aber rasch wieder, putzte sein Fell erst ganz ausgiebig, bevor es flüsterte: „Ich wollte beweisen, dass ich mutig bin.“

„Wem wolltest du das beweisen?“, erkundigte sich der Elefant neugierig.

„Dem kleinen Hamster.“

„Wieso dem denn?“

„Er hat behauptet, dass ich ein Feigling bin, weil ich mich nicht traue auf Bäume zu klettern, obwohl das doch alle Katzen machen. Aber ich traue mich das wirklich nicht. Bäume sind doch so entsetzlich hoch, da bekomme ich Höhenangst, aber das glaubt mir keiner und ich werde immer ausgelacht.“

„Und der Hamster? Ist der mutig?“, wollte der Elefant wissen.

„Weiß ich nicht. Er sagt immer: Komm doch mal rüber, wenn er auf der anderen Seite eines Grabens steht, denn er weiß genau, dass ich mich das nicht traue.“

„Mir geht das auch so“, flüsterte da ein unbekanntes Stimmchen in der Nähe. Beide – die Katze und der Elefant – beugten sich hinter den grauen Stein am Wegrand und scheue Hundeblicke begegneten ihren Blicken. „Dir auch?“, maunzte die Katze erstaunt, „aber du bist doch ein Hund und musst nicht auf Bäume klettern.“ „Das nicht, aber ich soll die Hasen jagen, die mein Herr fangen will, wenn er auf die Jagd geht und das bringe ich nicht fertig, weil sie mir so Leid tun. Und ich kann auch keine Katzen jagen“, fügte er noch schnell hinzu, als er bemerkte, wie die kleine Katze sich mächtig anstrengte und einen Katzenbuckel machte, um ihn einzuschüchtern. „Dann bin ich ja beruhigt“, schnurrte das Kätzchen und die beiden beschnupperten sich vorsichtig.

„Aber was ist denn mit dir los?“ Wie aus einem Munde schrien die beiden entsetzt auf, als der Elefant neben ihnen in die Knie ging und stöhnte „ich kann nicht mehr.“

„Er ist erschöpft“, meinte das Kätzchen.

„Wir müssen ihm helfen“, sagte der Hund.

„Aber wie?“ Beide überlegten und dachten angestrengt nach.

Über ihren Köpfen spürten sie auf einmal einen kühlen Lufthauch und erschraken.

„Keine Angst“, erklang da aus der Luft eine schnarrige Stimme. „Ich bin Federleicht und möchte euch helfen.“ Ein seltsamer Vogel ließ sich auf dem Boden neben ihnen nieder und begutachtete den Elefanten, der kaum vernehmbar seufzte: „Hunger – Durst“.

„Nur ein paar Meter von hier, da sitzt ein Mann, der kann dir helfen. Steh auf, du schaffst das, wir schieben dich hoch, nur ein paar Meter, dann bist du gerettet.“ Federleicht pickte energisch mit seinem spitzen Schnabel in das Hinterteil des Elefanten, so dass dieser vor Schreck schnell aufsprang und automatisch weiter lief, geradeaus, direkt auf den nackten Mann zu, der sich gerade eine Flasche Wasser über Gesicht und Rücken kippte. Endlich. Wasser. Der Mann lächelte, als er die Tiere auf sich zukommen sah und bot dem Elefanten seine Flasche an, die dieser mit dem Rüssel ergriff und sich über den Kopf leerte, wie vorher der Mann. Ein wohliger Seufzer drang aus seiner Kehle. „Ah, das tut gut. Erfrischend. Mehr Wasser, bitte“. Der Mann ließ an einem langen Seil einen Eimer in den Brunnen hinab, zog ihn gefüllt mit dem köstlichen Nass wieder nach oben und reichte ihn dem Elefanten, der seinen Rüssel eintauchte und gierig trank.

„Danke. Vielen Dank“, dröhnte der Elefant. Der nackte Mann nickte freundlich, „gern geschehen“, antwortete er, hüllte sich in sein Gewand, das er vorher abgelegt hatte, und verschwand lautlos in der Dunkelheit.

„Geht es dir jetzt wieder besser?“, fragten die Tiere den kleinen Elefanten, nachdem er sich die letzten Wassertropfen von seinem Rüssel geschüttelt hatte.

„Ich bin wieder topfit und sogar mein Hunger ist wie weggeblasen“, lachte der Elefant.

„Steigt alle auf meinen Rücken, damit wir gemeinsam weitergehen können.“

Die ängstliche Katze und der schüchterne Hund schauten ihn hilflos an.

„Ach, ihr traut euch ja nicht“, kicherte der Elefant, schlang seinen Rüssel behutsam um die Tiere und setzte sie auf seinen Rücken.

Über der Stadt erstrahlten immer mehr unzählige Sterne, die glänzten und funkelten wie Perlen auf dunkelblauem Samt. Der aufsteigende Vollmond goss sein blassgelbes Licht in dichten Strahlen über die Stadt und leuchtete ihnen den Weg. Vor Staunen hielt der Elefant inne.

Unter einem Baum saß eine Frau, die ihren blau schimmernden Körper im Mondlicht badete und sich nicht von den neugierigen Blicken fremder Augen stören ließ. Sie hielt die Augen geschlossen, blickte nur kurz auf, nachdem sie die Schritte des Elefanten vernommen hatte, hob grüßend die Hand und lächelte ihnen freundlich zu. „Entspannung“, flüsterte die kleine Reisegruppe.

„Ihr wollt den Weg wissen, den euer großer Freund nehmen muss, nicht wahr?“, sagte die blaue Frau. „Woher …“, setzte der Elefant überrascht an. „Ich warte schon lange auf dich, wundere dich nicht“, lachte die Frau. „Erhaben wartet auch schon auf dich“, fuhr sie fort. Verwundert blickten sich die Tiere an. Aus der Krone des Baumes herab flog ein Papagei, dessen buntes Federkleid im Mondlicht aufblitzte, landete neben der Frau und stellte sich vor. „Gestatten, mein Name ist Erhaben.“

Federleicht und Erhaben schienen miteinander bekannt zu sein, denn sie begrüßten sich Schnabel wetzend, ehe Federleicht sie einander vorstellte:

„Mein Freund Erhaben. Meine Freunde, der kleine Elefant, die ängstliche Katze und der schüchterne Hund.“ Erhaben nickte ihnen zu und sprach den Elefanten an. „Ich soll dir helfen hat mir die blaue Frau aufgetragen. Was kann ich für dich tun?“

„Ich habe eine Nachricht in einer Flaschenpost erhalten und bin auf der Suche nach dem Absender. Leider kann ich die Zeichen nicht entziffern und weiß daher nicht, welcher Weg mich zu ihm führt.“

„Kein Problem“, meinte der Papagei. „Zeig mir doch mal den Plan.“ Die Flasche wurde geöffnet, der Plan vorsichtig entrollt. Von allen Seiten begutachtete Erhaben die Zeichen und

Ziffern. „Ich hab’ s. Du kannst ihn wieder einpacken“, krächzte er. „Folgt mir. Ich fliege euch voraus.“

Der Elefant mit der Katze und dem Hund auf seinem Rücken machte sich auf den Weg, dem Papagei hinterher. Er marschierte durch ein Gewirr von kleinen verwinkelten Gässchen, vorbei an unzähligen Häusern, marmornen weißen Palästen mit üppigen Gärten, überquerte mehrere steinerne Brücken, passierte einen Marktplatz, begegnete geheimnisvollen schweigenden Gestalten, deren Gesichter verschleiert waren bis auf schmale Schlitze, spürte neugierige Blicke aus fremden Augen, die sie aufmerksam beobachteten, war endlich am Stadtrand angekommen, wanderte einen Hügel hinauf und hatte einen wunderbaren Blick auf die Kuppeln der vielen Paläste, die im Mondlicht golden schimmerten und glänzten. „Wie romantisch“, flüsterten die Tiere andächtig und konnten sich lange nicht satt sehen.

Der Papagei ließ sich auf einem Baum nieder. „Stopp“, meinte er energisch. „Siesta. Bis zum Sonnenaufgang wird jetzt ausgeruht. Ihr habt euch ein Nickerchen verdient.“ Ohne Widerspruch ließ sich der Elefant in das kühle Gras gleiten und fiel augenblicklich mit seinen Begleitern in einen tiefen Schlaf.

Eine blaue Traumgestalt tauchte schwebend aus einem unterirdischen Gang auf, der hinaus in eine unendliche Weite führte. Die Gestalt in dem wallenden Kleid zeigte auf eine Zauberblume und einen Schmetterling, der den Blütenkelch umkreiste. Da fühlte der Elefant wie Hoffnung ihn umhüllte und Zuversicht ihn erfüllte. Er tauchte immer weiter hinein in diese zauberhafte und unergründliche Seeelenlandschaft bis tiefes Blau – Deep Blue – am Horizont erschien und zartblaue Wolken ihn umnebelten.

Lautes Hufgetrappel schreckte den kleinen Elefanten und die kleine Katze und den schüchternen Hund am nächsten Morgen aus ihrem tiefen Schlaf. Erschrocken richteten sie sich auf, blickten verwirrt umher, wussten im ersten Moment nicht, wo sie waren. Staub wirbelte in ihrer Nähe auf, als ein blaues Pferd in wildem Tempo auf sie zu galoppierte, plötzlich stehen blieb und sich aufbäumte zu beeindruckender Größe.

„Hilfe“, miaute die kleine Katze erschrocken und der schüchterne Hund versteckte sich hinter ihrem Katzenbuckel.

„Keine Sorge“, wieherte das Pferd. „Ich bin Cavallo Azzuro, das blaue Pferd und werde euch helfen, den richtigen Weg zu finden. Meine Freunde Eleganz, Temperamentvoll und Ungezähmt werden uns dabei begleiten.“ Kaum hatte der Hengst zu Ende gesprochen, tauchten aus der Ferne drei wunderschöne Pferde auf, die sich in rasendem Galopp näherten und eine aufsteigende riesige Staubwolke hinter sich ließen.

Erwartungsvoll warteten der Elefant und seine Begleiter auf die Ankunft der Pferde.

„Ihr könnt nun ohne mich weiterreisen“, krächzte Erhaben. „Vertraut Cavallo Azzuro und seinen Freunden, denn sie kennen den Weg. Gute Reise und auf Wiedersehen!“ Sprach’ s, breitete seine Flügel aus und flog zurück in die Stadt.

Cavallo Azzurro, der Anführer der Pferde, neigte seinen Kopf Richtung Süden. Der Weg führte den Berg hinunter über die weite sonnenbeschienene Ebene, die sich bis zum Horizont auszudehnen schien. „Dorthin müssen wir“, wieherte der Hengst. „Aber ich bin nicht so schnell wie du und deine Freunde“, gab der Elefant zu bedenken. „Keine Sorge. Wir werden schneller unser Ziel erreichen als du ahnst“, versicherte Cavallo Azzurro und Eleganz, Temperamentvoll und Ungezähmt nickten bestätigend und stellten sich zu beiden Seiten und hinter dem Elefanten auf, während Cavallo Azzurro vor dem Elefanten Stellung bezog.

„Bin ich gefährlich?“, tönte da eine helle Stimme aus der Krone des Baumes, unter dessen Schutz sie die letzte Nacht verbracht hatten. Niemand hörte die Stimme des kleinen Leoparden, der sich träge in eine Astgabel schmiegte und aus der Höhe, im sicheren Schutz grüner Blätter, die Tiere beobachtete. Lautes Hufgetrappel übertönte sie und so antwortete ihm niemand. Fasziniert blickte der kleine Leopard den dahingaloppierenden Pferden nach, in deren Mitte der kleine Elefant mit der ängstlichen Katze und dem schüchternen Hund auf dem Rücken wie von Zauberhand fort getragen wurden. Der Leopard starrte ihnen so lange hinterher, bis nur noch eine wandernde Staubwolke zu erkennen war.

„Du hast ja einen prächtigen Ausblick“, sprach ihn ein bunter Vogel an. Vor Überraschung hätte der kleine Leopard beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre aus dem Baum gepurzelt wie ein reifer Apfel. „Wo kommst du denn her?“ „Von ganz oben, denn dort habe ich den besten Überblick und kann bis zum Horizont alles wunderbar beobachten.“

„Und, ist der Elefant mit seinen Freunden schon am Ziel angekommen?“, wollte der kleine Leopard wissen. „Am Ziel? Wer weiß schon, wo das ist? Ich sehe nur, dass sie wohlbehalten Afrika verlassen haben und Richtung Indien weiterziehen“, antwortete der bunte Vogel etwas

herablassend. „Afrika“ seufzte der kleine Leopard sehnsuchtsvoll. „Afrika, da wärst du doch wohl auch gerne?“ fragte ihn der Vogel. „ Aber ja!“ Plötzlich aber sprang der kleine Leopard auf wie von einer Tarantel gestochen. „Du Spinner“, fauchte er wütend, „wir sind doch alle in Afrika. Das ist doch unsere Heimat.“ „Haha“, lachte der bunte Vogel spöttisch. „Hereingefallen.“

Beleidigt sprang der Leopard vom Baum und stolzierte majestätisch davon, ohne den Vogel noch eines Blickes zu würdigen. Er bemerkte auch nicht, dass sich in einiger Entfernung bunt gekleidete Gestalten rasch in Sicherheit brachten, nachdem sie seine geschmeidige Gestalt entdeckten hatten. Immer noch wütend auf den hochnäsigen Vogel, ganz versunken in unsinnige Rachegedanken, achtete er nicht weiter auf den Weg.

Der kleine Elefant, die ängstliche Katze und der schüchterne Hund hatten vor Angst ihre Augen fest geschlossen, nachdem die wilde Reise mit den Pferden begonnen hatte. Sie wagten lange Zeit nicht die Augen zu öffnen. Erst nachdem sie fühlten, dass sie sich nicht mehr in rasendem Tempo bewegten, blinzelten sie vorsichtig mit den Augenlidern und schließlich überwand Neugier ihre Furcht und sie öffneten mutig die Augen. In ihrer Nähe erholten sich ihre Begleiter, die Zauberpferde. Sie grasten ganz gemächlich auf einer Wiese, deren frisches Grün wie gemalt wirkte.

Nach einiger Zeit begann sich der Elefant beobachtet zu fühlen. Verunsichert blickte er um sich. Einige Meter vor ihm begegnete sein aufmerksamer Blick den unerschrockenen Blicken mehrerer Tiger, die ihn belustigt beobachteten und ihm gelassen entgegensahen. Respektvoll blieb der Elefant in sicherer Entfernung vor ihnen stehen und blickte bewundernd auf die riesigen Gestalten, deren Fell in goldenen und schwarzen Streifen in der Sonne glänzte. Königliche Würde umgab die kräftigen geschmeidigen Körper, die friedlich in der Savanne ruhten.

Der Elefant wusste jedoch, dass ihre Ruhe durchaus täuschen konnte und war sich der Schnelligkeit und Kraft dieser Tiger bewusst. Wild Life. Wildes Leben, das war es, was sie bevorzugten. Wild lebten sie und gefährlich waren sie für alle jene, die sie sich zur Beute auserkoren hatten. Die kleine Katze und der ängstliche Hund auf seinem Rücken wussten das allerdings auch und sie begannen jämmerlich zu klagen, als sie die Tiger erblickten.

„Ihr braucht euch nicht zu fürchten“, beruhigte sie der größte der Tiger mit dunkler Stimme. „Bald seid ihr am Ziel eurer Reise angelangt. Folgt uns, wir werden euch weiter führen.“ Die Tiger erhoben sich zu ihrer vollen Gestalt, reckten und streckten sich und dehnten genüsslich ihre Glieder. Sie wendeten ihre herrlichen Köpfe nach Süden. Dorthin führte nun ihr Weg. Der Elefant bedankte sich bei den Pferden und Cavallo azzurro wünschte ihm und seinen kleinen Freunden eine gute Weiterreise und versprach, ihn mit den anderen Pferden eines Tages zu besuchen.

Erwartungsvoll marschierte der Elefant den Tigern hinterher. Er verspürte einen nie gekannten Bewegungsdrang, der seine Beine unaufhörlich und in immer rasenderem Tempo vorwärts laufen ließ. Nach einigen Stunden ballten sich in der Ferne gefährlich schwarze Wolken am Horizont zusammen, eine finstere Wand türmte sich vor ihnen auf. Sie vernahmen leises Grollen, das in Sekundenschnelle zu bedrohlicher Lautstärke anstieg. Grelle Blitze zuckten wie Feuerschwerter aus der dunklen Wolkenwand, gefolgt von ohrenbetäubenden Donnerschlägen. Schwere Regentropfen prasselten unaufhörlich auf sie nieder. Der Elefant glaubte für Sekunden sich in einem Bild von Picasso, dem berühmten Maler, zu befinden. Erschrocken wollte er stehen bleiben, aber er konnte nicht anhalten. Orkanartige Windböen peitschten ihn mit wütender Gewalt vorwärts. Wie von Zauberhand bewegt musste er weiterlaufen, immer den Tigern hinterher, deren goldene Streifen im Licht der Blitze, die unaufhörlich nieder zuckten, aufleuchteten und ihm den Weg wiesen. Die ängstliche Katze und der schüchterne Hund krallten sich in Todesangst verzweifelt an seinem Rücken fest.

Endlich. Weiße Häuser tauchten wie aus dem Nichts vor ihnen auf, vom Regen blank gewaschen, letzte Blitze leuchteten auf, die Donnerschläge verstummten allmählich. Der Regen ließ nach und der Wind beruhigte sich. Der Elefant und seine kleinen Freunde atmeten erleichtert auf. Das Donnerwetter war überstanden.

Sie ließen die weißen Häuser zurück und bewegten sich mühelos vorwärts, verspürten weder Hunger noch Durst, weder Erschöpfung noch Müdigkeit.

In der Morgendämmerung erkannten sie, dass sich das Land um sie herum verändert hatte. Erstaunt blickten sie sich um. Vor ihnen erhoben sich riesige Bäume, die Schatten und Kühle spendeten. Ein frischer Wind hatte sich erhoben und begleitete sie auf ihrem kaum erkennbaren Weg durch den dichten Wald, der bald einem undurchdringbaren grünen Dschungel glich. Unbekannte Geräusche ließen die Freunde immer wieder zusammenzucken. Alle Tiere, die die gefährliche Nacht überlebt hatten, freuten sich so darüber, dass sie das jeden Morgen lautstark allen Dschungelbewohnern kundgaben. Ein Gezwitscher, Gefiepe, Gegrunze und Geraune brach los und für kurze Zeit herrschte ein Höllenspektakel.

„Wahre Lebensfreude“, erklärte der Anführer der Tiger gelassen und gähnte herzhaft. Die ängstliche Katze und der schüchterne Hund warfen einen schnellen Blick in das riesige Maul des Tigers und klammerten sich ängstlich aneinander. Der Tiger lachte. „Nur noch ein kurzes Stück“, versprach er dem Elefanten.

Seltsame Gefühle beschlichen diesen, so kurz vor dem Ziel – er wusste nicht, was ihn erwartete. Vielleicht wäre er besser doch bei den Delphinen geblieben? Angst wollte ihn packen und Zweifel ihn verunsichern, da hörte er, wie die kleinen Freunde auf seinem Rücken überrascht aufschrien. „Schau doch!“ Aufgeregt sprangen sie auf seinem Rücken hin und her und deuteten dabei in eine bestimmte Richtung.

Es dauerte einen langen Moment, ehe der Elefant seinen Artgenossen erblickte: Ein weißer Elefant stand reglos im Schatten eines riesigen Baumes, starrte ihn unentwegt an und plötzlich – wie auf ein unsichtbares Kommando – rasten die beiden aufeinander zu, stießen laute Freudenschreie aus, erhoben ihre Rüssel und begrüßten sich liebevoll.

„Willkommen meine Freunde“, trompetete der weiße Elefant fröhlich. „Endlich seid ihr bei mir angekommen. Mein Name ist Freiheit und ich erwarte euch schon lange.“

Der kleine Elefant wollte seinem neuen Freund die Flasche mit der geheimnisvollen Botschaft, die ihnen den Weg gewiesen hatte, überreichen. Verwundert stellte er fest, dass die Flasche mit einem Mal so schwer war, dass er sie nicht mehr halten konnte. Sie plumpste auf den Boden und zersprang in Tausende von Scherben, die sich im Nu in bunt schillernde Schmetterlinge verwandelten, die um ihre Köpfe tanzten und allmählich wie eine farbige Wolke in den Himmel aufstiegen. Zurück auf dem Boden aber blieb etwas liegen, das alle fasziniert anblickten: Ein faustgroßes Herz, gebrannt aus rotem Lehm, durchzogen von tiefen Furchen.

„Das sind die Spuren des Lebens, die euch zu mir geführt haben“, erklärte der weiße Elefant glücklich.

Josef

22 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

≈ 7 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Bruder, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Flucht, Schicksal, Schuld, Tod, Verrat, Verzweiflung, Vorherbestimmung, Zweifel

Josef-small

Jetzt sind sie beide tot. Endlich kann ich dir schreiben, denn mein Zorn ist verraucht und geblieben ist die Trauer über den Tod unserer Söhne. Du wirst dich fragen, woher mein Zorn kommt. Ich werde dir antworten:
Es war dein Sohn, der mir meinen Sohn entfremdet hat. Plötzlich war ich allein, ohne Hilfe, die ich so nötig hatte. Aber dir ging es ja nicht anders. Auch du warst allein. Ich habe lange nachgedacht und versucht mich in deine Lage zu versetzen. Wie hast du es ertragen können, einen Sohn aufzuziehen, von dem nicht bekannt war, dass du ihn gezeugt hast? Ein Sohn, der dich nicht zum Vorbild nahm. Du sahst ihn aufwachsen, umsorgt von der Liebe deiner Frau. Wie oft haben dich wohl Zweifel geplagt über seine Herkunft? Ein Kuckucksei, das man dir ins Nest gelegt hatte. Wie stark hast du wohl geglaubt an deine Frau? Es gingen vielerlei Gerüchte um, die ein schales Licht auf dich und deine Familie warfen. Es ist bekannt, dass du immer zu deiner Frau und deinem Sohn gehalten hast. Mir und meiner Frau erschien das lange Zeit unerklärlich. Wie waren wir doch stolz auf unseren einzigen Sohn, der neben mir in der Werkstatt stand und mir von klein auf  bei meinem Handwerk zusah, begierig es möglichst schnell zu erlernen, was ihm auch gelang. Wir beide wissen, was es bedeutet für den eigenen Handwerksbetrieb den richtigen Nachfolger zu haben, einen, für den es sich lohnt, die ganze Mühe auf sich zu nehmen,  seine Kräfte zu verschwenden, um dann im Greisenalter von den Früchten der eigenen Arbeit zehren zu können. Ich hatte wohl die besten Aussichten auf ein ruhiges Dasein im Alter mit meinem Sohn als Nachfolger, der sich um unsere Familie kümmern würde. Du aber? Wie man so hörte, fiel dein Sohn ganz aus der Reihe. Er war nicht zum Handwerker bestimmt, weigerte sich die Hände schmutzig zu machen, wollte sich nicht plagen mit schweren Arbeiten und lehnte es ab, in der Hitze seinen Schweiß zu vergießen, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Dein Sohn trieb sich stattdessen in der Gegend herum, hielt kluge Reden und fand sogar einige Anhänger, die dem Faulenzen nicht abgeneigt waren und sich ihm anschlossen zum Ärger derer Familien.
Du bist stumm geblieben, hast einfach mehr gearbeitet, nie ein böses Wort verloren, sagt man. Aber mal ehrlich: Was hast du wirklich gedacht, gefühlt? Von deiner Frau verwöhnt, ohne jede Rücksicht auf dich und dein Alter, in dem die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht, zog dein Sohn frei nach seinem Geschmack herum, sorglos, rücksichtslos. Viele haben sich damals gefragt, hinter vorgehaltener Hand, wie kann Josef, das Familienoberhaupt dieses respektlose Verhalten dulden? Viele zweifelten an deinem Verstand, erwarteten ein strengeres Vorgehen, einen Beweis deiner Autorität dem Sohn und seiner Mutter gegenüber. Die Mutter war vielleicht zu jung, zu jung für dich, Josef und zu jung für dieses schwierige Kind, das schon in frühen  Jahren selbstständige Wege ging.
Hatte dein Sohn Freunde in seinem Alter? War er schon von klein auf ein Rebell? Ich habe ihn erst später kennen gelernt, zu spät. Da hatte ich keinen Einfluss mehr auf meinen Sohn, der doch mein ganzer Stolz war. Kräftig gewachsen, arbeitsam, geschickt und willig, meinen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Ohne Rücksicht auf seine alten Eltern verließ er uns eines Tages. Seine Mutter leidet noch immer unter dem Verlust ihres einzigen Sohnes, der sich von uns abgewandt hatte trotz der Fürsorge, die er von uns erhalten hatte. Sie ist krank und lebt seitdem in einer dunklen Welt ohne Freude und Sinn. Sie hat sich zurückgezogen und hofft in einer Ecke ihres Herzens wohl noch immer auf seine Rückkehr. Ich aber war wütend und traurig zugleich. Du hast deinen Sohn in seiner Entwicklung nicht gebremst, du hast es zugelassen, so aus der Art zu schlagen, hast ihn unterstützt und ihm Freiheiten gewährt, die dir zum Nachteil gereichten und nicht nur dir, auch uns. Und dein  Sohn bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus und Judas Iskariot, der ihn überliefert hat. Unser Sohn schloss sich deinem an und wir, seine Eltern, zählten nicht mehr für ihn. Wir waren nicht die einzigen, die durch deinen Sohn unsere Söhne verloren, aber wir waren die einzigen, die den Tod unseres Sohnes zu beklagen hatten. Geschützt vor ihm waren die Frauen, die Töchter, von denen nur wenige es wagten, mit seiner Gruppe zu gehen. Er verkehrte auch mit den übelsten Kreisen, sank wohl immer tiefer, rief Unverständnis und Abneigung hervor, gab sich mit Menschen ab, die von unserer Gesellschaft ausgestoßen und verachtet wurden. Er legte sich mit den geistigen Führern an, verkündete seine Lehren und begeisterte immer wieder neue Anhänger, die mit ihm zogen und ihre Familien im Stich ließen. Wie hast du dich da wohl gefühlt, Josef? Wie schwer war es zu ertragen, Lästerungen über deinen Sohn zu hören? Ist das nicht … der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus, Jose, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern verächtlich mit den Fingern. Seht, auch sein Sohn ist hier bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Hast du dich innerlich von ihm abgewandt oder konntest du seine Reden verstehen? Und seine Mutter, deine junge Frau, wie konnte sie es ertragen, ihren geliebten Sohn an die Menge zu verlieren? Viele Gerüchte waren im Umlauf. Und er begann sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden und von den Hohenpriestern  und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Das sprach er ganz offen aus. Wir hörten nicht richtig hin, waren zu beschäftigt mit dem Verlust unseres Sohnes. Erst allmählich erkannten wir die Gefahr, in der sie alle schwebten. Dein Sohn entwickelte sich zum Gegner des Regimes und die Geheimpolizei wurde hellhörig. Seine Reden wurden aufgeschrieben, seine Auftritte genau beobachtet und protokolliert. Meine ursprüngliche Wut verwandelte sich in Sorge. Was, wenn mein Sohn im Gefängnis landen würde? Widerstand gegen die Regierung, Mitläufertum, das alles könnte sein Todesurteil bedeuten. Seine Mutter betete Tag und Nacht für ihn, hoffte inständig auf seine Rückkehr und sprach mit keinem anderen mehr. Ich arbeitete und versuchte auf diese Weise meine Sorgen und Ängste zu verdrängen, aber die Leute ließen es nicht zu. Ständig erfuhr ich Neuigkeiten über die Gruppe dieser Aufständischen, der Rebellen, wie sie auch von vielen genannt wurden. Aus meinem Stolz wurde Scham. Auch auf meinen Sohn zeigten nun andere ein Anhänger von Josefs Sohn. Seht, auch er wagt es, seine Eltern im Stich zu lassen. Ich schwieg und verschloss mich den anderen gegenüber.

Nun aber, da beide tot sind, sehe ich vieles anders. Ich habe mit vielen seinen Anhängern gesprochen und mir seine Reden noch einmal durchdacht. Er kündigte sein Ende ganz klar an und mein Sohn spielte dabei eine entscheidende Rolle, ohne sich dieser vorher bewusst zu sein. Ja, ich wage jetzt zu behaupten, mein Sohn war unbedingt notwendig für deinen Sohn, um seine Prophezeiungen wahr werden zu lassen. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert, und sie werden ihn töten. Und wenn er getötet worden ist, wird er nach drei Tagen auferstehen.“ Leider war es eine schmähliche Rolle, die er meinem Sohn zugedacht hatte, aber auch diese musste übernommen werden. Keine leichte Rolle, das wirst du zugeben müssen. Ein Rolle, die ihm einen schlechten Ruf über den Tod hinaus einbringen würde, nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. Er brachte Schande über seine Eltern, die ihm stets Ehrlichkeit und Wahrheitsstreben zu vermitteln suchten. Nun trat unser Sohn als feiger Verräter an die Öffentlichkeit und deinem Sohn, der wohl auch mit dem Tod bezahlen musste, gereichte dies zum nachträglichen Ruhm, wenn man es so sehen will. Sicher, auch für deine Familie war es nicht leicht, seinen Tod anzunehmen, aber er hatte somit seine Ankündigungen erfüllt und galt nicht länger als Lügner. Das mag dir vielleicht Genugtuung bedeuten, aber den Schmerz lindert es sicher nicht. Mir aber bleibt die Schande über meinen Sohn, die nicht mehr zu tilgen sein wird. Und Judas Iskariot, der eine von den Zwölfen, ging zu den Hohepriestern hin, um ihn ihnen zu überliefern. Die aber freuten sich, als sie das hörten, und versprachen, ihm Geld zu geben; und er suchte, wie er bei guter Gelegenheit ihn überliefern könnte.

Du willst wissen, warum ich dir diesen Brief schreibe? Eine Hoffnung, die ich noch habe drängt mich dazu, die Hoffnung, das Licht der Wahrheit auf seinen Tod scheinen zu lassen. Es hängt nun von dir ab, ob du bereit bist, diesen Brief mit meiner Erkenntnis weiter zu verbreiten unter den Anhängern deines Sohnes.

Ich konnte nicht glauben, dass mein Sohn als Verräter in die Geschichte eingehen würde, also wollte ich näheres erfahren und habe Nachforschungen betrieben. Nachdem man ihn tot aufgefunden hatte, hatte man mir seine Kleidungsstücke überbracht. Ich durchwühlte sie immer wieder, in der Hoffnung, wenigstens ein Zeichen, einen Hinweis auf seine Unschuld zu finden, denn nach wie vor war ich davon überzeugt: er hatte nicht aus böser Absicht so gehandelt.

Tatsächlich entdeckte ich, eingenäht in seinen Kleidern ein Stück Leinen, auf dem er seine Not, die ihn zum Verräter werden ließ, geschildert hatte.

„Ich war entsetzt und gleichzeitig wie gebannt. Wie konnte mein Freund und Meister, den ich so schätzte und verehrte, behaupten: Wahrlich, ich sage euch. Einer von euch wird mich überliefern, einer, der mit mir isst. Da begannen wir traurig zu werden und fragten ihn nacheinander: Ich bin es doch nicht? Er aber antwortete: Einer von den Zwölfen, der mit mir die Hand in die Schüssel taucht. Zwar geht der Menschensohn dahin, so wie es von ihm geschrieben steht. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren.

Plötzlich wusste ich es: Jesus meinte mich. Ich starrte sekundenlang auf meine Hand, die neben seiner in die Schüssel tauchte, ich konnte nicht mehr schlucken und auch nicht reden. Ich fiel lautlos aus der Gemeinschaft seiner Jünger und keiner schien es zu bemerken. Selbst Jesus wandte sich von mir ab. Sein Urteil war gesprochen, ich hatte es verstanden, aber ich schrie in meinem Innersten: Nein. Dieser wollte ich nicht sein, von dem gesagt wurde, es wäre besser, er wäre nie geboren. Das machte mein ganzes bisheriges Leben sinnlos, das machte mich zum Verräter,  ja zum Mörder eines Unschuldigen. Diese Last der Schuld wollte ich nicht tragen ein Leben lang. Warum blieben die anderen, die es doch auch vernommen hatten, so gleichgültig? Sie aßen weiter, als wäre nichts geschehen. Doch in diesem Augenblick war mein Schicksal bestimmt worden von dem Menschen, den ich so liebte, dem ich vertraut hatte bis zu dieser Stunde, mit dem ich bei Tische lag, zum letzten Mal, Seite an Seite, stolz darauf, ihm nahe zu sein, näher als den anderen. Was hatte ich verbrochen, um ein Verbrecher werden zu müssen? Warum wählte er gerade mich dazu aus, die Schrift zur Erfüllung zu bringen? Warum? Am liebsten hätte ich geschrien, getobt, ihn geschüttelt um eine Antwort zu erfahren. Aber ich blieb stumm, wie gelähmt und besessen von dem einzigen Gedanken: Es muss eine andere Lösung geben, so kann es nicht sein.
In der Finsternis, an einen Baumstamm gelehnt kam ich wieder zu mir. Was war passiert? Ich sollte Jesus verraten? Nein, dazu war ich nicht bereit. Warum flüchtete Jesus nicht? Noch bot sich günstige Gelegenheit. Er blieb, also musste ich wohl gehen. Flucht in die Einsamkeit. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die uns stark gemacht hatte, den Feinden gegenüber. Kein zurück wäre mehr möglich. Geflohen, um kein Verräter sein zu müssen und doch einer zu sein, der sich geweigert hatte, seinen Auftrag anzunehmen, damit sich Jesu Schicksal erfüllen könne. Um mich nur Dunkelheit, ein Loch, in das ich fiel, unaufhaltsam, immer schneller, atemlos. Nie zuvor war ich so allein gewesen, so verzweifelt. Ich warf mich auf den Boden und flehte zu meinem Gott, er solle mich nicht verlassen, sondern mir einen Weg, einen Ausweg weisen, den ich gehen könnte. Ich raufte mir die Haare und schlug mir Steine vor die Brust, wollte Schmerz fühlen, um aus meiner Erstarrung aufzuwachen.

Da wurde ich grob von fremden Händen gepackt und hochgerissen, der Schein einer Fackel leuchtete mir ins Gesicht und höhnische Stimmen drangen in mein Ohr. Das ist einer von den Zwölfen, haltet ihn fest, er kann uns zu ihm führen. Ich wehrte mich und wollte flüchten, aber es waren zu viele und sie trugen Waffen und meine Angst war zu groß. Die Angst, hier und jetzt sofort sterben zu müssen. Verzeih mir, mein Gott, wenn dies der erflehte Ausweg war, habe ich ihn aus Feigheit nicht angenommen und bin schuldig geworden. Sie drückten mir einen Sack mit 30 Silbermünzen in die Hand, den ich erzürnt wegschleuderte, sie aber hoben ihn erneut auf und banden ihn an meinen Gürtel und mir die Arme auf den Rücken. Nun sollte es also doch geschehen, was mir prophezeit worden war? Sie schoben mich durch die Straßen und verlangten, ich solle sie zu meinem Meister führen. Ich bewegte mich wie in Trance, immer noch auf einen Ausweg hoffend, eine günstige Gelegenheit, ihnen zu entkommen. Wie ein Schlafwandler führte ich sie ziellos durch die kleinen Gassen, um Zeit zu gewinnen, dem Schicksal zu entkommen. Bald bemerkten sie meine Absicht und wurden grober, begannen mich mit ihren Schwertern heftig zu berühren, drängten mich so in die von ihnen gewünschte Richtung. Woher aber wussten sie, wo sich Jesus mit den Jüngern aufhielt? Ahnten sie es, oder wussten sie es? Warum aber musste ich sie dann führen? Brauchten auch sie einen Sündenbock, um ihre Schuld abladen zu können, wohlwissend, dass mit Jesus ein Unschuldiger festgehalten wurde? Wirkten sie als die Besetzer unseres Landes glaubwürdiger, wenn unser Meister von einem aus den eigenen Reihen bloßgestellt werden würde? Hatten sie etwa Angst vor das jüdische Volk zu treten? Befürchteten sie gar einen Aufstand der wütenden Massen und Pilger im Ort?

Ehe ich noch eine Antwort fand, betraten wir den Garten, in dem Jesus sich aufhielt, auch er gepackt von tiefer Angst, auch er in großer Einsamkeit und Verzweiflung, aber er war bereit, sein Schicksal anzunehmen. War auch ich bereit? Und er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: „Schlaft ihr weiter und ruht!“ Es ist  genug. Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überliefert. Steht auf, wir wollen gehen. Siehe, der mich überliefert ist nahe.“ Durchflutet von einem Gefühl unbeschreibbarer Nähe, geistig und körperlich spürbar, trat ich meinen letzten Schritt auf ihn zu. Rabbi,  ein letztes Mal, diesem Gesicht so nahe, ein letztes mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dieses vertraute Gesicht, diese sanften Augen, dieser Mund, der so wunderliche und heilsame Worte sprach. Sollte ich es also sein, der ihn auslieferte? Hatte er es so gewollt? Vielleicht erwies ich ihm einen Dienst, vielleicht befand er mich am stärksten, als seinen Freund, der ihm dazu verhalf, seinen schwierigen Weg zu gehen, damit sich die Schrift erfüllen könne? Konnte ich ihm in dieser Sekunde einen kleinen Beistand bieten? Überwältigt von dieser neuen Erkenntnis trat ich auf ihn zu und küsste ihn, ein Liebeskuss. Ein Abschiedskuss, ein Versöhnungskuss. Täuschte ich mich oder entdeckte ich in seinen Augen ein wohlwollendes Leuchten? Er verzieh mir, er war der einzige, der mich verstanden hatte, nachdem wir uns nach qualvollen Stunden, ausgeschlossen von jeglicher Gemeinschaft wieder trafen. Mehr konnte ich nicht tun. Schon rissen sie ihn mit sich und den Jüngern gebot Jesus Einhalt. Ich aber gepackt von Scham und Schuld jenen gegenüber, die von nichts ahnten, entfloh den Soldaten, die sich nun nicht mehr um mich kümmerten. Ich raste durch die Dunkelheit erneut von Entsetzen gepackt, dem Wahnsinn nahe. Das Säckchen mit den Münzen riss ich von meinem Gürtel, stürzte zu Pilatus und warf es ihm vor die Füße. Er ist unschuldig, schreiend so laut ich konnte. Nehmt mich und lasst ihn laufen. Die Wachen aber lachten, warfen mich hinaus und sprachen. Was kümmerst du uns? Wieder vernahm ich meines Meisters Worte. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren. Ununterbrochen vernahm ich diese Worte, sie ließen mich nicht mehr los. Auch sie mussten sich erfüllen. Ein letzter Schritt noch.

Bevor ich diesen Schritt aus dem Leben gehe, habe ich aufgeschrieben, was mich bewegte, in der Hoffnung, nach meinem Tod, wenigstens einen Menschen zu finden, der für mich betet, damit Gott mir meine Schuld, die er mir bestimmt hatte, vergeben wird.

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