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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Arzt

Tonne (5)

29 Sonntag Okt 2017

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Erzählung, Gedanken, Literatur

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Schlagwörter

Alkohol, Arzt, Depression, Freundschaft, Hund, Kind, Krankenhaus, Leben, Lehrerin, Schule

Fortsetzungsgeschichte

Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Karls Plan zu verreisen

Er hatte Hunger und suchte in der Küche nach Essbarem. Seit seine Mutter in der Klinik war, fühlte er sich ständig hungrig. Sein Vater versorgte sie beide so gut es ging. Er brachte aus dem Krankenhaus abgepackte Portionen mit, die ihnen beiden aber nicht so recht schmecken wollten. Irgendetwas fehlte, vermissten sie beide. Es lagen nun oft Kekspackungen herum, die ihren Heißhunger auf Süßes kurzfristig stillten.
So eine Packung suchte Karl. Während er ungeduldig Schranktüren öffnete, Geschirr verschob, in Schubladen wühlte, hielt er plötzlich Fahrkarten in der Hand. Zugfahrkarten. Er kannte sie inzwischen, war mehrmals mit seinem Vater und Tonne zu seiner Mutter gefahren, mit dem Zug. Von innerer Unruhe und Aufregung gepackt, schwenkte er die Karten hin und her. Auf einmal steckte er sie in seine Hosentasche, streichelte Tonne, der sich neugierig an ihm hochstemmte über den Schädel und sagte: „Wir fahren. Tonne, wir fahren zu Mama.“
Tonne, der nur das Wort „Mama“ verstanden hatte, wedelte aufgeregt und begeistert mit dem Schwanz und bellte kurz laut auf, als wolle er Karls Entschluss bekräftigen.

Fünfte Begegnung: Melanie mit Karl und Tonne auf dem Spielplatz

Am Nachmittag traf Karl Melanie auf dem Spielplatz. Er hatte sie schon ungeduldig erwartet und ging ihr rasch entgegen, als er sie kommen sah. Verwundert nahm Melanie Karls Unruhe wahr. Er, der sonst immer so unbeteiligt, so abwesend wirkte, erschien ihr heute aufgewühlt. Da war etwas passiert. Gespannt blickte sie ihm ins Gesicht, das plötzlich so lebendig wirkte, und dachte: „Es kann nichts Schlimmes sein.“
Karl wühlte in seiner Hosentasche und zog zwei Zugfahrkarten hervor, die er ihr freudestrahlend hinhielt. „Wir fahren nach N. Wir fahren zu Mama.“ Verwirrt nahm Melanie die Fahrkarten in die Hand und betrachtete sie genauer. Sie schienen echt zu sein, obwohl sie keine Ahnung davon hatte, war noch nie mit einem richtigen Zug gereist, außer mit der SBahn in die nächste Großstadt. „Wer fährt?“, wollte sie wissen. Karl sah sie überrascht an. „Karl und Melanie und Tonne“, sagte er entschlossen. „Aber wohin, Karl?“, bohrte sie nach, „und wann, und warum?“ Wieder wunderte sich Karl. Wusste Melanie denn nicht, dass sie zu seiner Mutter fahren würden? Endlich. Er würde sie mitnehmen. Seine Bettina, seinen Engel, der Mutter helfen würde, davon war er zutiefst in seinem Inneren überzeugt. Wenn seine Mutter ihren Engel wieder hätte, könnte sie Karl wieder lieben und käme bald zu ihm und seinem Vater zurück und Melanie würde bei ihnen bleiben. Aus Bettina war nun Melanie geworden. „Freitag. Wir fahren zu meiner Mama.“

Melanie war überrumpelt. Heute war Donnerstag. Sie sollte mit Karl im Zug wegfahren. Morgen schon war Freitag. Aber das war doch unmöglich. Sie musste in die Schule gehen. Auch am Freitag. Und ihre Mutter, was würde die wohl sagen, wenn sie nicht pünktlich nach Hause käme?
Ihre erste Freude war, kaum empfunden, schon verflogen.
„Nein, das geht nicht“, widersprach sie Karl. Entsetzt starrte Karl sie an. „Doch. Du musst“, behauptete er bestimmt. Melanie schüttelte traurig den Kopf.
„Mama braucht Engel“, schrie Karl verzweifelt. „Engel macht Mama gesund.“
Da war es wieder: Karl und seine Engelgeschichten, aus denen sie immer noch nicht richtig schlau geworden war.
„Du bist ja total verrückt.“
Karl zuckte zusammen, starrte sie mit einem Blick an, der durch sie hindurchging und doch tief in ihrem Inneren ankam. Ein Blick, der ihr unheimlich war. War er vielleicht wirklich verrückt, wie manche Leute behaupteten?
Plötzlich spürte sie seine kräftigen Hände schmerzhaft auf ihren Schultern, wurde heftig durchgerüttelt, hörte Tonne aufjaulen.
„Karl, hör auf. Du tust mir weh.“
Panik ergriff sie, als sie erkannte, dass in Karls Augen Entsetzen und Angst zu lesen waren. Wie wild begann sie verzweifelt um sich zu schlagen, wehrte Karl ab, aber der war stärker und schien sie nicht mehr zu kennen. Er befand sich plötzlich in einer anderen Welt, zu der sie keinen Zugang hatte.
„Karl, bitte, lass mich doch los“, schluchzte sie mit tränenüberströmtem Gesicht.
Karls Hände, die Melanies Hals packten, drückten langsam auf ihren Kehlkopf. „Karl“, flüsterte Melanie mit heiserer Stimme, neben sich hörte sie Tonne knurren.

Frau Linder
Freitag, 8 Uhr

Frau Linder blickte prüfend in ihre Klasse. Jemand fehlte doch. Melanies Platz war leer. „Wer weiß, was mit Melanie los ist?“, fragte sie.
Niemand meldete sich. Sie sah in ratlose, gleichgültige Gesichter. Frau Linder wurde bewusst, dass Melanie keine Freunde in der Klasse hatte. Sie war eine Einzelgängerin. Sehr zurückhaltend. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Melanie hatte noch nie unentschuldigt gefehlt.
„Petra, frag doch bitte im Büro nach, ob Melanie entschuldigt ist“, bat sie das Mädchen, das in der ersten Bank saß.
Kurz darauf wussten sie es: Melanie fehlte unentschuldigt.
Frau Linder gab den Kindern Stillarbeit und ging ins Büro, um Frau Ascher, Melanies Mutter anzurufen. Es könnte ja auch unterwegs etwas passiert sein, auf dem Schulweg. Das musste geklärt werden und zwar gleich. Frau Linder ließ das Telefon lange läuten, aber niemand nahm ab. Sie bat die Sekretärin Frau S. bei Frau Aschers Arbeitsstelle anrufen, erfuhr aber, dass Frau Ascher nicht mehr dort arbeiten würde, schon seit mehreren Monaten nicht. Frau Linder vereinbarte mit der Sekretärin, in kurzen Abständen bei Frau Ascher zuhause anzurufen und ihr dann Bescheid zu geben, falls sie sie erreicht hatte. Frau S. nickte und Frau Linder kehrte noch stärker beunruhigt als zuvor zurück in ihr Klassenzimmer, aus dem sie schon von weitem lautes Geschrei vernehmen konnte. Abrupt öffnete sie die Tür. Das Schreien verstummte. Schweigen herrschte im Raum. Erwartungsvoll starrten die Kinder ihre Lehrerin an. Auch sie begannen zu spüren, dass etwas am Fehlen Melanies ungewöhnlich war.
In der kleinen Pause, um 9:30 Uhr, fragte Frau Linder besorgt im Büro nach. Frau Ascher war immer noch nicht erreichbar. Niemand hatte eine Ahnung, wo Melanie war. Spurlos verschwunden, Mutter und Tochter. Waren sie beim Arzt oder waren beide gemeinsam verschwunden? Frau Linder fand das eher unwahrscheinlich, aber durchaus möglich.
Als bis 13:00 Uhr Frau Ascher immer noch nicht erreicht werden konnte, besprach sich Frau Linder mit ihrem Schulleiter. Sie schlug vor, bei Melanie daheim vorbeizufahren, um der Sache auf den Grund zu kommen. Ihr Chef war damit einverstanden.

Freitag, 15 Uhr

Frau Linder klingelte an der Tür auf der, schon etwas verblasst, der Name Ascher zu lesen war. Neugierig blickte sie sich um, während sie gespannt wartete. Ein ganz gewöhnliches Mietshaus mit vier Parteien. Wenig gepflegt die Fassade. Nur einzelne Balkone waren liebevoll mit Blumen bepflanzt. Nichts rührte sich. Sie klingelte noch einmal, ließ diesmal den Finger länger auf dem Klingelknopf, hoffte inständig, es möge jemand öffnen. Wieder blieb die Tür verschlossen. Nichts regte sich im Treppenhaus. Erneut wurde sie von ahnungsvoller Unruhe gepackt. Da stimmte doch etwas nicht.
„Hausieren ist bei uns verboten.“
Frau Linder drehte sich der unfreundlichen Stimme entgegen und stand plötzlich einer älteren Frau gegenüber, die soeben die Eingangstür aufsperren wollte und sie misstrauisch anblickte.
„Ich möchte zu Frau Ascher, aber es scheint niemand da zu sein.“
„Da können Sie lange klingeln, die macht oft nicht auf.“
„Ich bin Frau Linder, Melanies Lehrerin. Wissen Sie, wo Melanie ist?“, erwiderte Frau Linder
„Keine Ahnung. Die treibt sich doch überall herum.“ Die Frau griff mürrisch nach ihrer Tasche und schob sich an ihr vorbei ins Treppenhaus, aus dem ihr schale, abgestandene Luft entgegenschlug.
Frau Linder wurde erneut ergriffen von quälender Unruhe. Wo war Frau Ascher?
Sie griff nach ihrem Handy, wählte rasch die Nummer ihres Schulleiters Herrn Boger.

Karls Vater
Freitag, 9 Uhr

Er kam am Freitagmorgen gut gelaunt nach Hause. Während der Nachtschicht im Krankenhaus, die er einmal im Monat übernahm, war es ruhig geblieben. Er hatte schlafen können. Jetzt freute er sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Karl. Außerdem war er neugierig, wie Karl eine Nacht ohne ihn verbracht hatte. Er hatte ihm ausführlich erklärt, dass er am Donnerstag allein sein würde, ihm sicherheitshalber jedoch eine Telefonnummer notiert, unter der er ihn erreichen konnte.
Als erstes fiel ihm die ungewohnte Stille auf, als er das Gartentor aufstieß. Normalerweise begann Tonne spätestens in dem Moment freudig sein Begrüßungsgebell anzustimmen, erwartete ihn bereits aufgeregt hinter der Haustür, um begeistert an ihm hochzuspringen.
Erwartungsvoll schloss er die Tür auf. Stille empfing ihn auch im Haus.
„Karl! Tonne! Guten Morgen!“
Sein Gruß verhallte ungehört. Sofort spürte er: Er war ganz allein. Das Haus war leer. Karl und Tonne waren nicht da. Nervöse Unruhe packte ihn, er riss die Küchentür auf, sah sich aufmerksam in der Küche um. Nichts war verändert seit Mittwochabend. Konzentriert wanderte er mit seinen Blicken noch einmal durch die Küche, verweilte auf der Sitzgruppe, dem Tisch mit der blauen Tischdecke, der Spüle, den Schränken und blieb schließlich hängen an der kleinen Anrichte deren Oberfläche ihm so nackt erschien. Da fehlte doch etwas. Die Fahrkarten. Die Zugtickets. Er hatte sie dort abgelegt.  Heute, am Freitag, wollte er seine Frau besuchen, mit Karl und Tonne natürlich. Die Fahrkarten waren verschwunden.
Sollte Karl sie genommen haben? Aber wozu? Beunruhigt lief er durch alle Zimmer, hoffte eine Spur zu finden, einen Hinweis auf Karls Abwesenheit.
Er versuchte sich zu beruhigen, als er alle Zimmer leer vorfand. Karl war oft alleine mit Tonne unterwegs. Vielleicht hatte er heute früh auf seiner Tour etwas Interessantes entdeckt, womit er sich längere Zeit beschäftigt hatte. Keine Panik, ermahnte er sich selbst. Enttäuscht legte er die Tüte mit den frischen Semmeln auf den Tisch und begann mechanisch den Tisch zu decken für zwei. Vielleicht kommt er ja gleich. Karl liebte Pfefferminztee. Er stellte eine Kanne mit Wasser auf den Herd, legte schon mal zwei Teebeutel bereit, blickte dabei immer wieder aus dem Fenster, horchte angestrengt auf Geräusche von draußen. Das Wasser sprudelte, automatisch schaltete er die Kochplatte ab, zog den Topf zur Seite und gab die Teebeutel ins heiße Wasser, blickte auf die Uhr, fünf Minuten ziehen lassen. Der Duft ofenfrischer Semmeln stieg ihm in die Nase, verstärkte sein Hungergefühl. Er zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor, fühlte sich auf einmal hungrig und müde, erschöpft. Wo blieb bloß Karl?
Nach fünf Minuten frühstückte er allein, ohne besonderen Appetit, einzig um seinen Hunger zu stillen und Zeit zu gewinnen, um darüber nachzudenken, wo Karl sich wohl befinden mochte.

Freitag, 10 Uhr
Er ging noch einmal in Karls Zimmer. Das Bett war unberührt. Vorher war ihm das gar nicht aufgefallen. Er schlug die Bettdecke zurück und entdeckte Hefte, Bücher und ein Federmäppchen. Da lagen ja Schulsachen. Aber sie gehörten Karl nicht, das erkannte er auf einen Blick. Verwundert nahm er ein Heft in die Hand, blickte auf das Namenschild. Melanie. Klasse 3 b. Deutsch. Erstaunt sah er sich die anderen Hefte und Bücher durch. Sie gehörten alle einem Mädchen namens Melanie. Melanie? Er kannte kein Mädchen, das so hieß. Und der Nachname? Er konnte ihn nirgends entdecken.
Wie kam Karl zu diesen Schulsachen? Hatte er sie etwa einem fremden Mädchen abgenommen? War Karl inzwischen gewalttätig geworden und hatte er das als Vater, beschäftigt mit seinen eigenen Problemen, nicht bemerkt?
Junger Behinderter überfällt Mädchen auf dem Schulweg
Ohne es zu wollen, entstand sie vor seinem geistigen Auge, diese Schlagzeile, geeignet, um die schonungslose Aufmerksamkeit der Leute auf seine Familie zu lenken, auf Karl, auf ihn, dem Vater und seiner Verantwortung dem behinderten Sohn gegenüber.
So einer darf nicht frei herumlaufen
Die Leute würden Karl nicht mehr unter sich dulden, seinen harmlosen Sohn, der mit dem Müllsack unterwegs war, der sich so kindlich freuen konnte über das, was andere wegwarfen.
Nein. So durfte er nicht denken. Karl konnte jeden Augenblick zurückkehren. Er horchte angestrengt. Da war nichts zu hören. Keine menschliche Stimme. Vogelgezwitscher und entfernter Motorenlärm.
Bis Mittag beschloss er zu warten, dann würde er sich mit dem Fahrrad auf die Suche nach seinem Sohn machen, alle Spielplätze ansteuern, würde ihn sicher finden, dachte er.
Bis dahin wollte er schlafen, sich beruhigen. Aber er konnte nicht schlafen. Innerlich aufgewühlt lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, aus dem er aufzuwachen hoffte, Karl und Tonne neben sich. Er lag und lauschte, versuchte sich abzulenken, sich zu entspannen, dachte an die Patienten im Krankenhaus, erinnerte sich an den neuen Fall, der gestern Abend eingeliefert worden war, eine Betrunkene, die sich beim Sturz auf der Treppe das Bein gebrochen hatte. Wenigstens trank Karl nicht, war kein Alkoholiker, war nur behindert. Kein Entzug konnte ihn von seiner Behinderung befreien. Er dachte an seine Frau, die weit von ihm entfernt in einer Klinik darum kämpfte, sich aus ihren Depressionen zu befreien.

Freitag, 11 Uhr 10
Ein Klingeln an der Tür riss ihn vom Sofa. Endlich. Schnell öffnete er die Tür. Der Postbote bat ihn, für seine Nachbarn ein Paket anzunehmen. Eine Unterschrift bitte. Mechanisch setzte er seinen Namen an die angewiesene Stelle, trug automatisch das fremde Paket in den Gang. Er musste Karl finden. Jetzt. Gleich. Entschlossen holte er sein Fahrrad aus der Garage.
Karl blieb verschwunden. Alle bekannten Spielplätze hatte er abgeklappert, war nur einzelnen Jugendlichen begegnet, einigen Obdachlosen, die ihre Nächte auf den Spielplätzen verbrachten. Alle hatte er gefragt. Niemand konnte sich erinnern an einen jungen Mann mit einem kleinen Hund, der auf den seltsamen Namen Tonne hörte. Enttäuscht war er zurück gefahren, beschloss, noch einmal im Haus zu suchen, ehe er wohl die Polizei einschalten musste. Und heute Nachmittag, da wollte er seine Frau besuchen, sie erwartete ihn und auch Karl und Tonne. Was sollte er ihr bloß sagen, ohne sie in Unruhe zu versetzen? Suchen, er musste irgendeinen Hinweis finden, er musste.

Freitag, 13 Uhr 20
In Karls Zimmer öffnete er jede einzelne Schachtel, registrierte deren Inhalt, ohne einen Hinweis auf Karls Verschwinden zu entdecken. Seine Verwunderung wuchs mit jeder weiteren Schachtel, die er öffnete. Wie wenig kannte er doch seinen Sohn. Hatte keine Ahnung, was ihm diese Schätze bedeuteten, die er so sorgsam hütete und hortete. Was ging in ihm vor, seinem Sohn, dem Sprachlosen, dem Unnahbaren?
Er öffnete seinen Schrank, wühlte zwischen den Kleidungsstücken, warf in verzweifelter Wut Pullis und T-Shirts auf den Boden, tastete suchend alle Winkel des Schrankes ab und erschrak, als er tatsächlich etwas in der Hand hielt, etwas, das nicht Karl gehörte. Ungläubig starrte er an, was er in der Hand hielt, ein Kleid von Bettina, zusammengerollt, zerknittert, er breitete es aus, wehmütig, Bettinas Bild vor seinen Augen. Bettina, sein Sonnenschein. Das Kleid wippte um ihre schmutzigen Knie, wenn sie auf ihn zulief, der Saum des Kleides stand ab wie eine Glocke, wenn sie sich drehte im Kreis, solange bis sie vor Lachen nach Luft japsend ins Gras fiel. Er drückte sein Gesicht in dieses Stück Stoff, glaubte noch eine Spur ihres Duftes, ihres Geruches wahrzunehmen, glaubte sie noch einmal in seinen Armen zu halten. Jäh riss er sich los von diesen unerwarteten Gefühlen. Was tat Karl mit diesem Kleid? Und was tat er mit Bettina? Plötzlich fühlte er sich schwach, überwältigt von der ungeheuren Vorstellung, dass Karl nicht nur Bettinas Spielkamerad gewesen war, sondern … Nein, das konnte, das durfte er nicht einmal denken. Aber sein Misstrauen, seine Furcht waren geweckt, entwickelten sich blitzschnell weiter, nahmen ungeheure Ausmaße an. Sein Sohn Karl, ein Kinderschänder? Verzweifelt wehrte er diese Gedanken ab, die ihn überrannten, ihn kaum atmen ließen,  immer neue, schrecklichere Ahnungen entstehen ließen.
Er suchte weiter, immer hektischer, suchte nach Beweisen und hoffte inständig, keine zu finden, griff in die Taschen der Hosen, der Jacken, die im Schrank hingen, atmete schon erleichtert auf, als ihm ein leises metallisches Klicken verriet, dass er etwas übersehen hatte. Er starrte auf den Boden, erkannte einen winzigen Ring, Bettinas Ring.
Fünf brennende Kerzen auf eine kleine Torte gesteckt leuchteten auf, fünf Flammen, die sich in Bettinas Augen widerspiegelten, unzählige Päckchen liebevoll auf dem Tisch hindrapiert, leuchtend bunte Luftballons und Bettina, die ihre Backen aufplusterte, um die Kerzen auszublasen unter dem Beifall ihrer großen und kleinen Gäste und Karl, der verzückt dabeistand, schweigend und stumm wie meist. Und Bettina, die stolz ihren Finger herzeigte, jedem, der ihn sehen wollte, den Finger mit dem winzigen Ring, der ihre Augen stolz strahlen ließen. Wie kam Karl an diesen Ring?
Und dann die Sache mit den Schulheften. Melanie. Angestrengt dachte er nach, aber er kannte wirklich keine Melanie. Dritte Klasse. Bettina wäre jetzt auch in der dritten Klasse. Plötzlich begann er zu begreifen. Der Tag, an dem Karl so verwirrt am Mittagstisch saß, der Tag an dem er behauptete, Bettina sei wieder da. Er spürte, dass es da einen Zusammenhang gab, den er entdecken musste. Melanie und Bettina. Zwei Mädchen, die Karl viel bedeuteten. Aber woher kannte Karl diese Melanie? Und was hatte dieses Mädchen mit Bettina zu tun?
Seine Unruhe wuchs sich in Angst aus, der er nicht ausweichen konnte. Er musste wohl die Polizei einschalten, fragte sich, wie lange er noch warten durfte, wie lange er noch hoffen konnte, dass Karl wieder auftauchen würde. Konnte es sein, dass Karl allein zu seiner Mutter unterwegs war? Die fehlenden Zugkarten, eindeutiger Beweis: Karl wollte weg. War er in der Lage, allein zu der Klinik zu finden? Oder war er vielleicht gar nicht allein unterwegs? Die Polizei würde ihm viele Fragen stellen, die verschwundenen Fahrkarten erleichterten sicher die Suche, gaben klare Anhaltspunkte. Und die Frage nach Melanie, darüber weigerte er sich nachzudenken.

Freitag, 15 Uhr
Bis sieben Uhr wollte er noch warten, setzte sich noch eine letzte Frist, ehe er zur Polizei gehen wollte. In vier Stunden konnte noch viel geschehen, konnte Karl wieder heimkehren und alles wäre in Ordnung, beinahe, bis auf die Sache mit Melanie. Er stellte sich den Wecker auf 19 Uhr und legte sich erschöpft auf das Sofa. Er musste vorher noch in der Klinik Bescheid geben, dass er verhindert war, dringender Fall im Krankenhaus.

Frau Linder begegnet Herrn Kenter in der Bücherei
Freitag, 17 Uhr
Frau Linder hatte sich Bücher zurücklegen lassen. Sie brauchte sie am Wochenende. Melanies Fehlen beschäftigte sie immer noch. Herr Kenter, der Büchereimitarbeiter, suchte ihr die zurückgelegten Bücher heraus. Er wusste, dass sie Lehrerin war, deshalb sprach er sie wohl an. „Sie unterrichten doch hier an der Grundschule, nicht wahr?“, begann er freundlich. „Ja, Ja, in der dritten Klasse.“ Frau Linder wunderte sich etwas, da Herr Kenter sonst immer sehr zurückhaltend war.
„Ich habe einem Mädchen versprochen, die Bremsen an ihrem Fahrrad zu reparieren. Sie brachte das Rad gestern Nachmittag vorbei, wirkte etwas durcheinander und hatte keine Zeit zu bleiben. Ich sah, wie sie sich vor der Bücherei mit einem seltsamen jungen Mann traf, der einen kleinen Hund dabei hatte.“
„Melanie Ascher?“, platzte Frau Linder überrascht hervor.
„Genau, Melanie Ascher. Aber seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Mutter ist gestern unerwartet ins Krankenhaus gekommen.“
„Wissen Sie mehr darüber? Ich bin Melanies Lehrerin und heute fehlte sie unentschuldigt, ihre Mutter war auch nicht zu erreichen. Ich mache mir schon große Sorgen.“
„Ich tratsche sonst gewiss nicht, aber in diesem Fall sollten Sie wissen, dass Frau Ascher sich im Krankenhaus befindet, seit gestern Abend.“ (Donnerstagabend) Fragend schaute er die Frau an, die auf eine Erklärung wartete. „Sie haben keine Ahnung, oder?“, wollte er wissen. Verwirrt schüttelte Frau Linder den Kopf.
„Wovon sollte ich eine Ahnung haben? Ich verstehe nicht …“
Herrn Kenter war es sichtlich unangenehm darüber zur reden, aber auch er machte sich große Sorgen um Melanie. Zögernd begann er.
„Also, es ist so, dass Frau Ascher alleinstehend ist und dass sie gerne Alkohol trinkt, meistens Bier. Melanie versucht das immer zu vertuschen, entsorgt die Flaschen heimlich, aber ich habe sie zufällig dabei gesehen und auch die anderen im Haus wissen Bescheid. Wenn Melanie in der Schule ist, trinkt Frau Ascher eben auch und zwar auf dem Balkon, wo viele sie sehen können. Gestern aber, als Melanie nicht von der Schule nach Hause kam, dachte sie, ihre Tochter sei bei einer Geburtstagsfeier eingeladen. Melanie hätte ihr das so gesagt. Sie würde also später heimkommen. Frau Ascher nutzte die freie Zeit, um unbekümmert trinken zu können. Vergaß dann, dass sie Spätschicht hatte, wurde von ihrem Chef angerufen und stolperte, als sie – wohl schwer betrunken – das Haus verlassen wollte, um in die Arbeit zu gehen. Sie stürzte die Treppe hinunter, blieb dort liegen. Ich hatte Lärm gehört, ein lautes Poltern gefolgt von schmerzvollem Stöhnen, daraufhin rannte ich gleich hinaus, um helfen zu können. Frau Ascher lag seltsam verkrümmt im Treppenhaus, stöhnte immer wieder vor Schmerzen und lallte , dass sie in die Arbeit müsse, ihr neuer Chef käme sie sonst holen, er hätte schon angerufen. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Da rief ich den Notarzt, der einen offenen Beinbruch feststellte. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, musste allerdings erst wieder nüchtern werden, ehe sie operiert werden konnte.“ Nachdenklich machte Herr Kenter eine Pause.
„Aber Melanie, von ihr weiß ich nichts. Ich hatte ihr einen Zettel an die Wohnungstür geklebt und sie gebeten, sich bei mir zu melden, es wäre sehr wichtig. Der Zettel hing heute Morgen noch dort.“ Er zuckte ratlos mit den schmächtigen Schultern. Frau Linder wurde erneut gepackt von ihrer quälenden Unruhe.
„Melanie fehlte heute unentschuldigt in der Schule. Ich habe vor ein paar Stunden schon versucht mit ihrer Mutter in ihrer Wohnung zu reden. Leider öffnete dort niemand. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie im Krankenhaus liegt.“ „Sollen wir die Polizei anrufen?“, schlug Herr Kenter vor.
„Nein, ich rufe erst meinen Chef an, vielleicht weiß er inzwischen etwas über Melanie.“
Aufgeregt griff Frau Linder zum Handy. Ihr Chef war nicht erreichbar.
Sie hinterließ folgende Nachricht: Frau Ascher liegt seit gestern Abend im Krankenhaus. Keine Spur von Melanie. Polizei informieren?

Melanie
Karl ist doch verrückt. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über ihren Hals. Gott sei Dank, alles schien in Ordnung. Sie hatte schon gedacht, jetzt müsse sie sterben, sterben wie Bettina. Hatte Karl Bettina vielleicht doch umgebracht? Es schien ihr jetzt durchaus möglich. Sie meinte noch seine kräftigen Hände auf ihrem Hals zu spüren. Ohne Tonne wäre sie tot. Tonne hatte sie gerettet. Im letzten Moment musste er Karl angegriffen haben, der plötzlich aufschrie und sie so heftig wegstieß, dass sie erst auf die Knie fiel, ehe sie sich aufrappelte, immer noch entsetzt und davon stolperte, von dem einzigen Gedanken besessen: weg, weit weg.
Sie war gerannt, wollte nur heim, sich einschließen in ihrem Zimmer, wollte nur Sicherheit hinter verschlossenen Türen. Endlich, schweißgebadet, schloss sie die Wohnungstür auf, drehte gleich den Schlüssel wieder um, nachdem sie im Gang war. Ihre Mutter hatte Nachmittagsschicht, zum Glück, sie konnte jetzt nicht reden, unmöglich, ohne in Tränen auszubrechen, die sie nicht erklären wollte.
Es roch schon wieder nach abgestandenem Bier. Wie sie diesen Geruch hasste. Widerlich. Eilig riss sie ein Fenster auf, dabei entdeckte sie den Brief, der auf dem Fensterbrett lag. „Jugendamt“. Erschrocken griff sie danach. „Jugendamt“. Das Wort jagte ihr erneut Angst ein. Sie begann zu lesen, verstand wenige Sätze. „Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Tochter Melanie vorübergehend von einer Pflegefamilie betreut werden wird, sofern Sie nicht bereit sind, Ihren Alkoholkonsum einzuschränken. Das Sorgerecht für Ihre Tochter muss Ihnen dann entzogen werden …“
Aufgewühlt faltete Melanie den Brief zu einem winzigen Viereck und versteckte ihn in ihrem Geldbeutel. Das Briefkuvert zerriss sie in winzige Flocken, die sie ganz unten im Abfalleimer verbarg. Weinend warf sie sich auf ihr Bett, drückte ihr Gesicht in das weiche Fell ihres Stoffhundes, der sie schon oft getröstet hatte. Erschöpft schlief sie ein.

Melanies Mutter im Krankenhaus
Freitag, 17 Uhr
„Sie wissen also wirklich nicht, wo Ihre Tochter sich aufhält?“
Der Arzt sah Frau Ascher aufmerksam an. Sie war wieder nüchtern, hatte die Operation gut überstanden und war wieder ansprechbar.
„Melanie?“, flüsterte die Frau besorgt. „Was ist mit Melanie?“ Der Arzt griff nach ihrer Hand, ertastete unauffällig den Puls. „Sie ist nicht in der Wohnung. Seit gestern Abend hat sie niemand mehr gesehen.“
„Aber …“ Mühsam dachte die Frau nach. Der Arzt konnte an ihrem blassen Gesicht förmlich erkennen, wie sie klare Gedanken zu fassen versuchte.
„Sie war bei einer Geburtstagsfeier eingeladen, am Donnerstag.“
„Wissen Sie bei wem?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe den Namen vergessen.“
„Ihr Schulleiter wollte schon mit Ihnen sprechen. Ihre Tochter Melanie geht in die dritte Klasse, 3 b, nicht wahr?“
Frau Ascher nickte.
„Die Lehrerin hatte bei allen Kindern angerufen. Leider konnte sie nichts über Melanie erfahren.“
„Was machen wir jetzt?“,  fragte die Frau zaghaft.
„Wenn wir nichts erfahren, müssen wir die Polizei informieren. Aber Melanie taucht sicher bald wieder auf.“
Ihm war der Schreck nicht entgangen, der Frau Aschers Gesicht durchzuckte, als er das Wort „Polizei“ erwähnte. Sekunden später schlief sie ein. Das Beruhigungsmittel zeigte seine Wirkung. Im Schlaf entspannte sich ihr Gesicht. Grübelnd blickte der Arzt sie an.

Frau Linder – Arzt
Freitag, 20 Uhr
Telefonat

„Hier Linder.“
„Dr. Hauser. Haben Sie noch etwas erreichen können?“
„Nein. Nachdem ich alle Kinder der Klasse angerufen habe, weiß ich nur, dass niemand  am Donnerstag eine Geburtstagparty feierte. Merkwürdig. Einige Kinder haben auch seltsame Bemerkungen gemacht über Melanie und ihren komischen Freund, mit dem sie sich auf dem Spielplatz oft trifft. Genaueres wollten sie aber nicht rausrücken. Irgendetwas stimmt da nicht, ich habe so ein seltsames Gefühl. Was meinen Sie dazu?“
„Ich werde die Polizei benachrichtigen. Ich denke wir haben lange genug gewartet.“
„Ja, bitte, tun Sie das.“

Das Experiment (Teil 2)

29 Freitag Apr 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Schlagwörter

Afrika, Arzt, Aufbruch, Ausdruck, Bücher, Bücherausstellung, Charakter, Erfahrung, Frau, Frauen, Gedanken, Gefühle, Gift, Giftschlange, Intensivstation, Männer, Organe, Puffotter, Rettung, Rettungshubschrauber, Wüste

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich meine Kurzgeschichte “Das Experiment” (Teil 1 und Teil 2)

Tagebuch – Dienstag 

Am nächsten Tag in der Wüste schafften wir es, uns zu organisieren: Stefan, wir nannten ihn Chef, teilte die Gruppen nach Leistungsfähigkeit ein. Ältere und gesundheitlich angegriffene Personen wurden zu einfacher Tätigkeit aufgefordert: Sie hatten die Bücher zu sortieren. Es gab Stapel von Büchern, deren Inhalt der Entspannung und Ablenkung von unserer Situation dienen konnten und es gab Stapel von Büchern, die das nötige Sachwissen enthielten, um uns aus dieser aussichtslosen Lage befreien zu können. Und es gab Stapel von Büchern, die zum Verfeuern dienten. „Kein Leben ohne Bücher.“ Klang der Name der Bücherausstellung nicht wie eine Herausforderung? Wir wollten, ja mussten über-leben mit Büchern. Wir nahmen die Herausforderung an. 

Es gelang uns tatsächlich, mit allen möglichen Teilen, die wir in dem Bücherraumschiff fanden, einen besseren Sonnenschutz zu bauen, um Schatten zu haben und Schutz vor der vernichtenden Kraft der Sonne. Aus den Trümmern der bei der Landung zerborstenen Bücherregale machten wir bei anbrechender Dunkelheit ein Feuer, das Licht und Wärme spendete.

Wasser und Nahrung fehlten. Woher nehmen?  

„Kein Leben ohne Bücher.“ Zu unseren wichtigsten Büchern wurden diejenigen von Überlebenskünstlern, von Expeditionsteilnehmern, von Wüstenforschern. Zum Glück hatten wir eine kleine Auswahl dabei. Wir begannen zu studieren, wie man ohne jegliche Erfahrung in der Wüste überleben konnte. 

Erste Schwächeanfälle traten auf. Anna und Karin, fühlten sich nur noch schlapp und erschöpft, wollten sich nicht an unseren Plänen beteiligen. Das durfte Stefan nicht zulassen, denn das wäre ihr schneller Untergang und es würde auch zu Verweigerung bei den anderen führen. Also wurden Thomas und Hannes zu ihren Begleitern ernannt, die die Aufgabe hatten, sie zu unterstützen und zu ermutigen. Ebenso wie Robert wurden sie aufgefordert einfache Aufgaben zu erfüllen.

Die Wassergewinnung wurde zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Eine Gruppe von fünf Männern war dafür verantwortlich: Stefan, unser Chef, Matthias, Paul, Hannes und Thomas. Sie mussten sich aus den Büchern die notwendigen Informationen beschaffen und vor allem mit unseren minimalen Mitteln verschiedene Möglichkeiten ausprobieren.  

Fasziniert las Dr. Wenz wie die Überlebenden versucht hatten Wasser zu gewinnen. Er selbst hatte nie länger darüber nachgedacht, wie das möglich wäre in der Wüste zu Wasser zu gelangen. Unglaublich: Er überflog die Skizzen, die mit ungeübter Hand, aber durchaus nachvollziehbar angefertigt worden waren.

In den Sand wurden Mulden gegraben, die mit Planen oder ähnlichem abgedeckt wurden, an der tiefsten Stelle befand sich unter der Abdeckung ein Gefäß, das das gewonnene Wasser – entstanden aus Verdunstung und Kondensierung – sammelte. Das sollte möglich sein? Nun ja, er war kein Experte in Sachen Überlebenskunst, aber es klang realistisch und schien funktioniert zu haben. 

Nur geringe Wassermengen standen uns nun zur Verfügung. Wir durften sie nur äußerst sparsam verbrauchen. Jeden Abend mussten wir dieses Vorgehen wiederholen. Ein Schluck Wasser wurde zum Kostbarsten, was wir hatten. 

Keine unnötige Bewegung tagsüber, um Wasserverlust durch Schwitzen zu vermeiden! Schutz vor Hitze und Sonne suchen, erst am Abend bewegen. Das wurden unsere wichtigsten Regeln.

Schuhe, Kleidungsstücke ausschütteln, um sicher vor unliebsamen Überraschungen zu sein wie Skorpionen, Spinnen und Schlangen.

Aber wir mussten längerfristig auch Nahrung beschaffen. Insekten? Pflanzen? Wurzeln? 

„Kein Leben ohne Bücher.“ Wir nutzten die freie Zeit, um zu lesen, schöne Texte, Gedichte, Märchen, die alle ein gutes Ende fanden, Liebesgeschichten – jeder hatte seine besonderen Vorlieben. Die Bücher gaben uns Kraft, Mut und Zuversicht, wenigstens für ein paar Stunden. Wir versuchten ganze Textstellen auswendig zu lernen und sie einander vorzutragen, immer in der Hoffnung, unsere verzweifelte Lage dadurch zu vergessen, sie besser verdrängen zu können, um den nahenden Wahnsinn, der sich erahnen ließ abwenden zu können. Alle wussten es, jeden Tag mussten Bücher verbrannt werden, die Auswahl wurde immer geringer: Waren es zuerst scheinbar unnütze Bücher wie z. B. über Mode oder Gartenbau, so rückten unsere wirkungsvollsten Bücher allmählich dem Stapel der zu verbrennenden Bücher immer näher. Niemand sprach es aus, aber alle dachten: Was dann? Wie lange würden wir unsere Texte und Gedichte noch auswendig aufsagen können? 

Intensivstation

Samstag

Dr. Jawara bittet Dr. Wenz um Hilfe. 

1 Uhr 30. Endlich. Das Serum ist eingetroffen. Jetzt muss alles schnell gehen. Gemeinsam mit Dr. Jawara, der Dr. Wenz um Unterstützung gebeten hatte, wird dem Kranken das Antivenin mittels Infusion verabreicht.

Gleichzeitig weiteres Monitoring.

1 Uhr 40. Plötzlicher Blutdruckabfall als Hinweis auf eine allergische Reaktion, der seltenen aber gefürchteten Nebenwirkung auf das Anitvenin. Allergischer Schock. Zustand des Kranken verschlechtert sich; nur mit erneuten starken Mitteln gelingt es seine Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten, ihn zurückzuholen, zumindest in den Zustand wie vor der Gabe des Antiserums.

Zu alldem äußert Dr. Wenz bei Kontrolle der Wunde auch noch den Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom: Gewebe schwillt nach der Bissverletzung an, kann sich aber nicht ausdehnen. Der Druck steigt, das Gewebe nimmt Schaden. Starke Schmerzen.

1 Uhr 45. Dr. Wenz entschließt sich nach kurzer Besprechung mit Dr. Jawara eine Fasziotomie durchzuführen. Er fordert kurzfristig ein Operationsteam an: Anästhesist und OP-Schwestern bereiten den Patienten vor.

2 Uhr 10. Durchführung der Fasziotomie ohne sofortigen kompletten Wundverschluss.

2 Uhr 40. Erfolgreiche Druckentlastung im Bein erkennbar, die Durchblutung und die Nervenleitung scheinen wieder zu funktionieren. Auch der Allgemeinzustand des Patienten hat sich stabilisiert, seine Schmerzen deutlich nachgelassen. Entwarnung – vorläufig.

Die Wachphasen des Operierten wurden im Laufe des Tages zusehends länger. Die weitere Beobachtung der Vitalfunktionen und die Kontrolle und Überwachung der Wunde ließen eine zunehmende Besserung erkennen. Endlich zeigte das Antivenin wohl auch seine eigentliche Wirkung, nicht nur die Nebenwirkungen.

Dr. Wenz war erleichtert: Sein Patient war außer Lebensgefahr, er würde wieder gesund werden, aber es würde dauern, lange Zeit. Ein endgültiger Verschluss der Wunde durch eine Naht würde in der Regel erst nach Ablauf von mehreren Wochen möglich sein. Er konnte also noch einige Zeit mit dem Unbekannten verbringen und er war fest entschlossen, mehr über diesen Mann zu erfahren.

Was hatte er in der Wüste erlebt? Würde er davon berichten können aufgrund seines Gedächtnisverlustes?

Endlich – der Arzt konnte aufatmen und sich von der anstrengenden Nacht erholen. Sein Dienst war bereits seit Samstagabend zu Ende. Noch wollte er die Klinik nicht verlassen. Das Tagebuch beschäftigte ihn ununterbrochen, aber er brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf, ehe er endlich weiter darin lesen konnte.

Tagebuch – Mittwoch 

Schwerer Notfall am frühen Morgen.

Paul hatte sich gleich nach Sonnenaufgang von unserem Lageplatz entfernt, er glaubte in einiger Entfernung einen Strauch entdeckt zu haben, dessen Wurzeln als Wasserquelle dienen könnten. Plötzlich ließ uns ein durchdringender Schrei auffahren. Erschrocken folgten wir Pauls Fußspuren im Sand und fanden ihn in einiger Entfernung keuchend auf dem Boden liegend, beide Hände auf den rechten Oberschenkel gepresst. „Schlange“, flüsterte er heiser. „Sie hat mich gebissen.“ Paul wollte schon aufstehen, aber das ließen wir nicht zu. War die Schlange giftig gewesen? Wir befürchteten es, also war Vorsicht geboten.

Hannes und Thomas setzten ihn auf und trugen ihn auf ihren Armen gemeinsam zurück in unser Lager. Dort betteten wir ihn im Schatten, redeten beruhigend auf ihn ein. Von dem wenigen Wasser, das wir noch hatten, flößten wir ihm in kurzen Abständen schluckweise etwas ein. Die Wunde wurde mit einem Tuch abgedeckt, das Bein ruhiggestellt. Wir versuchten Paul Mut zuzusprechen und machten ihm Hoffnung auf baldige Rettung. Innerhalb von wenigen Minuten schwoll das verletzte Bein stark an, Paul klagte über zunehmende Schmerzen und seine Stirn fühlte sich zunehmend heißer an. Unsere Befürchtung war zu bitterer Gewissheit geworden: Es war tatsächlich eine Giftschlange gewesen.

Am Nachmittag schrie Matthias plötzlich aufgebracht: „Tauben – da fliegen Tauben“ und deutete aufgeregt zum Himmel, an dem tatsächlich – kaum noch erkennbar zwei Tauben über uns flogen und allmählich aus unserem Blickfeld entschwanden. Waren das bereits erste Anzeichen beginnenden Wahnsinns? Hatten wir schon Halluzinationen?  

Wenige Stunden später – kurz vor Einbruch der Dunkelheit entdeckte Anna eine tote Taube im Sand.

Wir waren zunächst sprachlos, dann brach es aus uns heraus: „Wo Tauben waren, mussten Menschen in der Nähe sein … aber Tauben in einer Wüste, wer glaubt daran?“  

Bevor eine wilde Diskussion darüber losbrach, ob wir nun verrückt seien, an einer Einbildung litten oder ob es tatsächlich Tauben waren, versuchte uns Matthias zu beruhigen. „Es waren tatsächlich Tauben und ich weiß jetzt auch, wo wir uns ungefähr befinden: in Afrika in der Nähe von Johannesburg, denn dort findet jährlich ein Wettfliegen von Brieftauben statt, das unter Taubenzüchtern ganz berühmt ist. Mein Onkel hat mir davon berichtet, denn er wollte mit seinen Tauben schon lange daran teilnehmen.“ Wir starrten ihn ungläubig an und unsere Gedanken begannen wie wild zu kreisen, um sich über mögliche Folgen für unsere Rettung klar zu werden. 

„Wo Tauben sind, da sind auch Menschen und unterwegs der Flugstrecke befinden sich womöglich Funker, vielleicht auch Amateurfunker, die das Ganze beobachten und darüber Meldung geben. Funker – diese Leute könnten unseren Standpunkt herausfinden und uns Hilfe schicken.“ Erregtes Gemurmel brach aus, Wortfetzen flogen durch die Luft, alle waren in Bewegung, neue Hoffnung keimte auf. 

Obwohl die Nacht mit Kälte und Dunkelheit inzwischen hereingebrochen war, wollten alle noch darüber reden, was als nächstes zu tun sei. Funken – Amateurfunk, wer hatte da eine Ahnung? Vorerst niemand, aber noch hatten wir einige Sachbücher zur Verfügung, die eventuell weiterhelfen konnten. „Kein Leben ohne Bücher.“

Wir durften unseren Plan, mehr über die Möglichkeit des Funkens zu erfahren nicht länger aufschieben. Die Zeit drängte, Paul brauchte dringend Hilfe. Er hatte starke Schmerzen und Fieber.  Kaum einer konnte ruhig schlafen, jeder dachte an eine nahe Rettung, wälzte sich unruhig hin und her. 

Sie werden es kaum glauben, aber einigen – genauer gesagt unseren beiden Studenten der Elektrotechnik, Hannes und Thomas – gelang es noch in derselben Nacht, wichtige Informationen über das Amateurfunkwesen herauszufinden. Sie begannen unser Bücherraumschiff und unsere Handys nach verwertbaren Teilen zu durchsuchen, um eine Funkstation bauen zu können. Aber – alles war noch ungewiss: Würde das möglich sein? Würde das funktionieren? Und vor allem wann? 

Tagebuch – Donnerstag 

Irgendwann in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag schickten uns Hannes und Thomas zur Ruhe. Sie wollten weitermachen – abwechselnd – beschlossen sie. Ich bin mir sicher, dass in dieser Nacht keiner gut schlief. Wir legten uns hin und lauschten weiter angestrengt unseren angehenden Funkern und den Geräuschen, die zu vernehmen waren. Keine menschliche Stimme ertönte – nur Rauschen und Knacken waren zu hören. Kurz vor Sonnenaufgang klangen auch die Stimmen der Funker erschöpft und matt. Sie legten eine kurze Pause ein, ehe sie weiter machten mit ihren Versuchen, angetrieben von einer enormen Anspannung und der Hoffnung auf Erfolg.

Aber erst am frühen Nachmittag war es soweit: eine primitive Funkstation stand bereit, ein erster Versuch sollte unternommen werden. In erwartungsvollem Schweigen versammelten wir uns um Hannes und Thomas, unsere Funker.

Immer wieder wurde der Funkruf wiederholt:

„MAYDAY, MAYDAY – DIES IST EIN HILFERUF VON NEUN PERSONEN, WIR BEFINDEN UNS IN NOT, ÄRZTLICHE HILFE IST ERFORDERLICH, MANN WURDE VON EINER SCHLANGE GEBISSEN. WIR SIND AUS UNERKLÄRLICHEN GRÜNDEN IN DER WÜSTE GELANDET. WIR KONNTEN ZWEI TAUBEN AUF IHREM FLUG SEHEN, EINE TOTE TAUBE WURDE GEFUNDEN!“  

Erwartungsvolle Stille breitete sich unter uns aus: Alle warteten auf eine Antwort. Rauschen ertönte – Stille – Knacken – Knistern. 

Plötzlich änderten sich die Geräusche – menschliche Stimmfetzen waren zu vernehmen. Noch klangen die Stimmen undeutlich und die Sprache war fremd. Alle waren aufs äußerste gespannt, unsere Funker wiederholten ihren Hilferuf in verschiedenen Sprachen. Wieder gespanntes Warten. Sekundenlanges Schweigen. Funkstille. Rauschen. Knacken. Knistern. Und dann eine menschliche Stimme: 

„WIR HABEN DEN HILFERUF VERNOMMEN. ACHTUNG, WIR SUCHEN EURE POSITION. SOFORT STARTEN ZWEI HUBSCHRAUBER, UM EUCH ZU FINDEN. HALTET DURCH! MACHT EUCH BEMERKBAR!“ 

Da brach die Verbindung ab. Trotz mehrmals wiederholter Funkversuche konnten wir keine Antwort geben. Ich blickte auf meine Armbanduhr, die noch funktionierte: 15 Uhr. 

Stefan suchte schon seit Stunden verzweifelt nach einem Buch über Schlangen in Afrika, in der Wüstenregion, Giftschlangen.

Endlich. Stefan hielt einen Reiseführer in der Hand mit Fotos von gefährlichen Tieren, darunter auch Schlangen. „Welche Schlange war es?“, bedrängten wir Paul, der leise stöhnte, über starke Schmerzen klagte. Ich hielt ihm die Bilder vor die Augen. Nachdem er mehrmals den Kopf geschüttelt hatte, schrie er unerwartet auf: „Die – genau die war es.“ Er deutete auf das Bild einer afrikanischen Puffotter, einer gefährlichen Giftschlange.

Tagebuch – Während der Nacht von Donnerstag auf Freitag 

Wir hatten es geschafft! Es hatte geklappt. Hilfe würde kommen. Wir standen wie erstarrt, ein – zwei Sekunden lang, dann lagen wir uns erschöpft in den Armen, lachend und weinend – gleichzeitig. Die Angst fiel wie ein tonnenschweres Gewicht von uns ab. Eine einzige Nacht lag noch vor uns. Ich rannte zu Paul, wollte ihn beruhigen, „Paul, gerettet, wir werden gerettet, du schaffst das! Sie holen uns mit einem Hubschrauber!“

Stunden später. Mitten in der Nacht.

Ich schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Ungewohnter Lärm hatte mich geweckt. Hubschrauber. – Ein knatterndes Geräusch, das sich langsam näherte, die Nacht durchdrang, immer lauter wurde, bedrohlich laut. Ein unerklärliches Unbehagen überkam mich, da stimmte etwas nicht. Ich rannte zu Paul, warf rasch einige Jacken über ihn. Warum – ich konnte es mir nicht erklären. „Bleib ruhig“, flüsterte ich ihm zu, versteckte mein Buch und einen Stift unter seinen Jacken. „Schreib weiter, später.“ 

Intensivstation

Sonntag

Am Sonntagnachmittag besuchte Dr. Wenz den Kranken erneut. Das Tagebuch hatte er in der Hand und zeigte es dem Mann, der keine Ahnung zu haben schien, was das zu bedeuten hatte. Er las ihm aus dem Buch vor und beobachtete die Reaktion des Patienten. Gleichgültigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Immer wieder schloss er die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

Am späten Abend trat Dr. Wenz wieder vor das Bett. Er hielt das zerfetzte Bild einer Frau in der Hand, zeigte es dem Mann. „Diese Frau – war sie bei euch in der Wüste? Es müssen mehrere Personen gewesen sein. Denken Sie nach!“ Leichtes Kopfschütteln war die Antwort.

Dr. Wenz blätterte immer wieder suchend in dem Tagebuch, als ob er etwas übersehen hätte. Auf einmal entdeckte er einige Wörter, nach vielen leeren Seiten, die in einer anderen Schrift geschrieben waren, schief hin gekritzelt, kaum zu entziffern, in unterschiedlicher Buchstabengröße. Hubschrauber – Nacht – Hilfeschreie – alle weg.

Das hatte ein anderer geschrieben.

Wieder las er dem Geretteten diese Wörter vor, ließ sie ihn selbst lesen, mehrmals. Da ertönte plötzlich das Propellergeräusch eines Rettungshubschraubers, der von der Klinik aus startete und in diesem Augenblick zuckte der Mann zusammen mit vor Angst geweiteten Augen. Panisch wollte er sich reflexartig die Decke über den Kopf ziehen, wollte unsichtbar sein. Aber vor wem und warum?

Dr. Wenz beruhigte ihn. „Keine Gefahr, das ist ein Rettungshubschrauber.“ Als wieder Stille eingekehrt war, setzte sich der Mann im Bett auf und griff nach dem Tagebuch. „Wo sind die anderen? Wo ist Rita?“, wollte er wissen.

Allmählich schienen einzelne Erinnerungsfetzen aus dem Nebel des Vergessens aufzutauchen. Der Arzt zeigte ihm das Bild der Frau erneut. „Rita“, murmelte der Mann „ich habe alles aufgeschrieben. Wo bist du?“ Er begann wieder unruhig zu werden. „Alles ist in Ordnung. Versuchen Sie zu schlafen, Sie sind bald wieder gesund. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Paul, Paul Grassner“, flüsterte er und schlief ein.

Nachdenklich verließ der Arzt das Zimmer, das Tagebuch fest in der Hand haltend.

Intensivstation

Die folgenden Wochen

Im Verlauf der folgenden Wochen besuchte Dr. Wenz täglich seinen Patienten, immer mit dem Buch in der Hand, immer mit der Hoffnung das Erinnerungsvermögen von Paul wieder aktivieren zu können. 

An folgenden Donnerstag blätterte er in seiner Mittagspause in einer Tageszeitung, wollte sie schon schließen, da fiel sein Blick auf einen Artikel mit einer Überschrift, die seine Aufmerksamkeit erregte:

„MYSTERIÖSES AUFTAUCHEN VON DEUTSCHEN PERSONEN IN DER AMBULANZ DES KRANKENHAUSES IN BUJUMBURA, BURUNDI.

Am Mittwoch erschienen acht Personen in der Ambulanz des Krankenhauses und baten um Hilfe. Sie waren auf der Suche nach einer weiteren Person und wussten nicht, wie sie auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus gelangt waren, konnten ihre Namen angeben und ihren Herkunftsort, sich jedoch nicht ausweisen, wirkten sehr verwirrt und sprachen von einem Aufenthalt in einem anderen Krankenhaus, von Operationen und Behandlungen. Genaueres war nicht zu erfahren. Eine der Personen hatte starke Schmerzen. Eine ärztliche Untersuchung ließ erkennen, dass alle Personen frische Operationsnarben aufwiesen, die auf eine Organentnahme hindeuteten. Weitere Untersuchungen ergaben bei fünf Personen, dass eine Niere fehlte und bei den drei anderen war ein Lungenflügel entfernt worden.

Wer waren diese mysteriösen Organspender? Trotz einer durchgeführten Nachfrage in allen Krankenhäusern, die Organverpflanzungen vornehmen, konnten in letzter Zeit nur wenige Organ-Empfänger ausfindig gemacht werden, die jedoch nachweislich andere Spender hatten.“

Unterhalb des Artikels befand sich ein kleines Foto der erwähnten Personen, die trotz der geringen Bildgröße deutlich zu erkennen waren. Es handelte sich um drei Frauen und fünf Männer, alle unterschiedlichen Alters. Eine Frau glaubte er bereits schon einmal gesehen zu haben: Rita, die Frau auf dem Foto, das an der Absturzstelle aufgetaucht war.

Dr. Wenz starrte wie elektrisiert auf das Foto und den Artikel, las ihn zum wiederholten Mal und spürte plötzlich, dass es da einen Zusammenhang gab mit Paul. Er begann das Ungeheuerliche zu ahnen, das da passiert sein könnte, wagte aber nicht, es zu glauben: Wehrlose Menschen als unfreiwillige Organspender missbraucht?

Minuten später nahm Dr. Wenz telefonischen Kontakt mit dem Chefarzt des Krankenhauses in Bujumbura auf und berichtete ihm von seinen Erfahrungen mit Paul Gassner, dem ungewöhnlichen Flugobjekt und seiner Vermutung aufgrund des Tagebuches: Menschen waren Opfer eines organisierten Organhandels geworden. Davon war er nun überzeugt und auch davon, dass es zwischen Paul und der Personengruppe einen Zusammenhang gab. Der Chefarzt versicherte ihm, er werde weitere Nachforschungen einleiten und ihn auf dem Laufenden halten.

Zwei Stunden später stand Dr. Wenz bei Paul am Krankenbett. Er zögerte, dann entschloss er sich zu einem Experiment. Er las den Zeitungsartikel vor, zeigte dem Kranken das Foto, der wie aus dem Nichts aufgetauchten Personen. Mehrmals. Paul ließ keinerlei Reaktion erkennen. Anschließend las der Arzt aus dem Tagebuch die Stelle vor, von der er annahm, dass Paul sie geschrieben hatte und beobachtete Pauls Gesicht dabei. Nichts veränderte sich in dessen Ausdruck. Danach reichte er ihm das ausgebleichte Bild der Frau, das an der Absturzstelle entdeckt worden war. „Rita. Sie hat Sie gerettet, sie hat Sie versteckt vor dem falschen Hubschrauber.“ Dr. Wenz legte auch das Zeitungsfoto auf Pauls Bettdecke und deutete auf das Gruppenbild. „Und hier ist wieder Rita“, erklärte er, indem er mit seinem Zeigefinger auf eine Frau verwies, deren Kopf er farbig umrahmt hatte.

Paul schaute den Arzt verwundert, aber interessiert an, betrachtete abwechselnd die beiden Bilder, dann griff er nach dem Buch. „Ich lasse Sie jetzt allein. Lesen Sie!“, forderte Dr. Wenz ihn freundlich, aber bestimmt auf. „Vielleicht kommt die Erinnerung zurück.“

Am nächsten Tag las ihm der Arzt erneut den Zeitungsartikel vor, zeigte ihm die Bilder. Mehrmals. Paul blieb stumm.

„Paul, ich glaube, ich weiß jetzt, wer Sie sind. Sie sind die gesuchte Person.“ Erst nach kurzem Zögern nickte Paul zustimmend. 

Der Arzt war inzwischen fest davon überzeugt, dass Pauls Erinnerungsvermögen zurückkehren würde. Allerdings brauchte das seine Zeit, er würde geduldig sein müssen. Aber noch war Paul im Krankenhaus, unter seiner ärztlichen Obhut. Leider zeigte er keine erkennbaren Reaktionen, die auf eine Rückkehr des Gedächtnisses schließen ließen. Seine körperliche Genesung machte dagegen deutliche Fortschritte, das Schlimmste hatte er wohl überstanden, aber wo sollte er nach seiner Heilung hin? Was ging in seinem Kopf vor? Sein Aufenthalt im Krankenhaus war begrenzt. Noch immer beunruhigte Dr. Wenz, dass Paul ihm nur seinen Namen gesagt hatte und auch den Namen seiner Heimatstadt, ihm aber keine Auskunft über seine Angehörigen geben konnte. Wohin sollte er sich nach seiner Entlassung wenden?

Eines Nachts – zwei Wochen nachdem Dr. Wenz Paul zum ersten Mal den Zeitungsauschnitt vorgelesen hatte – dröhnten wieder die Propeller eines Rettungshubschraubers durch die Stille. Wenige Minuten danach holte eine Schwester den Arzt an Pauls Bett. Er fand seinen Patienten in aufgewühlter Verfassung vor. Während Paul das Tagebuch in der einen Hand hielt, triumphierend wie eine Trophäe, winkte er ungeduldig mit der anderen Hand den Arzt zu sich heran.

„Hören Sie! Ich weiß wieder, was in der Nacht passiert ist!“, rief er aufgeregt.

„Der Hubschrauberlärm, das Rotorgeräusch! Ich erstarrte vor Schreck und Angst, vergaß in dem Augenblick meine Schmerzen, fragte mich: Was bedeutete dieser Höllenlärm? Die Hilfeschreie, laut, durchdringend, das Rotorgeräusch, das sich langsam entfernte und die Stille, die zurückkehrte und mich wieder umschloss wie einen Sarg. Ich fühlte es, jetzt war ich ganz allein. Warum hatten sie mich versteckt? Erschöpft schloss ich die Augen. ‚Schreib weiter!, hatte Rita geflüstert und mir ihr Tagebuch zugesteckt. Mühsam tastete ich nach dem Buch, in das sie jeden Tag geschrieben hatte, alles, was sie für wichtig befunden hatte, für die Nachwelt, hatte sie lächelnd hinzugefügt. Aber es war kein Scherz. Es gab nur noch mich. Allein – verletzt, ohne Hilfe. ‚Schreib weiter!‘ Also versuchte ich es, ehe ich zu schwach dazu wurde. Mit zitternden Fingern umklammerte ich den Stift, suchte  mühsam blätternd nach einer freien Seite und begann zu schreiben.“

 (Ende Teil 2)

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Danksagung 

An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem wunderbaren Sohn bedanken, der mir diesen Blog vor ungefähr einem Jahr erstellt hat und mich seitdem dabei unterstützt ihn zu verwalten. Er war der erste Leser meiner Kurzgeschichte „Das Experiment“ und hat mir wertvolle Tipps und Anregungen zum besseren Verständnis für alle weiteren Leserinnen und Leser gegeben.  

Mein besonderer Dank gilt meiner besten Freundin, von Beruf Ärztin. Sie hat sich konstruktiv mit dem Inhalt der Geschichte auseinandergesetzt und mich vor allem bei der Klärung der vorkommenden medizinischen Sachverhalte hervorragend und äußerst geduldig beraten. Von ihr habe ich sehr viel gelernt über die Behandlung von Schlangenbissen und die Vorgehensweise von Ärzten.

 

 

 

Das Experiment (Teil 1)

27 Mittwoch Apr 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur, Phantasiegeschichte

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Schlagwörter

Arzt, Aufbruch, Ausdruck, Bücher, Bücherausstellung, Charakter, Erfahrung, Experiment, Frauen, Gedanken, Gefühle, Giftschlange, Männer, Organe, Raumschiff, Schlange, Wüste

Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich meine Kurzgeschichte „Das Experiment“ (Teil 1 und Teil 2)

 

In der Wüste

Der Arzt Dr. Wenz hielt ein zerfleddertes Notizbuch in der Hand und blickte ungläubig auf das Krankenbett, in dem der verletzte Mann lag. Diagnose: Schlangenbiss in den linken Oberschenkel. Der Mann befand sich in akuter Lebensgefahr. Er war bewusstlos und seine Stirn glühte vor Fieber.

Wie hatte dieser Mann überleben können? In der Hitze, im Sand der Wüste, ganz allein?

Er war der einzige Überlebende, der an der Absturzstelle eines geheimnisvollen Flugobjektes aufgefunden worden war. Er war allein und es waren in seiner näheren Umgebung keine weiteren Begleiter zu finden, obwohl gestern im eingegangenen Notruf beide Funker von neun Personen gesprochen hatten, von denen eine, wohl der Mann, von einer Schlange gebissen worden war.

Der ärztliche Notdienst war am Donnerstag, gegen 15 Uhr, alarmiert worden. Und sofort waren zwei Rettungshubschrauber gestartet, um sich auf die Suche zu machen. Einziger Anhaltspunkt: In der Nähe der Absturzstelle waren Brieftauben gefunden worden. Tot, wahrscheinlich vor Erschöpfung. Im Umkreis von Johannesburg, das der Austragungsort des bekannten „South African Million Dollar Pigeon Race“ war, bei dem mehr als 6000 Vögel aus aller Welt teilnehmen, hatten sie sich anscheinend verflogen, waren von ihrer Route abgekommen.

Alle möglichen Streckenverläufe wurden überflogen und der Wüstenboden genau kontrolliert. Es konnte in den nächsten Stunden trotz intensiver Bemühungen keine weitere Funkverbindung hergestellt werden. Aufgrund einer defekten Wärmebildkamera der Rettungshubschrauber musste die Suche während der Nacht eingestellt werden.

Erst am nächsten Tag entdeckten die Retter in den Nachmittagsstunden ein riesiges SOS-Zeichen im Sand, das auf die Absturzstelle verwies. Nach der Landung erkannten die Piloten und die Rettungsmannschaft, dass dieses Zeichen aus Büchern gebildet worden war. Büchern unterschiedlichster Art, zum Teil zerfetzt, verschmutzt, oft nur noch aus Buchdeckeln bestehend. Zunächst blieb keine Zeit für eine genauere Untersuchung.

Die Helfer erwarteten neun Personen und fanden nach intensivem Suchen – fast verborgen hinter einer Art notdürftig errichtetem Schutzzelt – eine einzige Person, den Mann mit dem Schlangenbiss, bedeckt mit mehreren Jacken. In der Brusttasche seines Hemdes steckte ein zerknittertes Blatt Papier mit einem Foto: vermutlich eine Seite aus einem Reiseführer, schlampig, scheinbar in Eile herausgerissen, als ob sie dort in letzter Sekunde entdeckt worden wäre.

Überrascht stellte der Arzt fest: „Puffotter. Der Biss stammt von einer gefährlichen Giftschlange.“ Dr. Wenz drückte dem Piloten rasch das Handy in die Hand: „Rufen Sie in der Klinik in S. an. Schnell, wir brauchen sofort das passende Antiserum. Der Biss stammt von einer Puffotter. Kümmern Sie sich darum. Das ist ein Notfall!“

Dem Arzt kam es wie eine Ewigkeit vor, ehe mitgeteilt wurde, dass das benötigte Serum von einer anderen Klinik angefordert werden müsste. Momentan sei keines zur Verfügung. „Notfall, das ist ein Notfall!“, rief Dr. Wenz aufgebracht ins Handy. „Wir brauchen das Serum – so schnell wie möglich!“

Ein prüfender Blick des Arztes genügte, um festzustellen, dass der Mann neben dem Schlangenbiss deutliche Symptome einer Exsikkose zeigte:

Trockene aufgesprungene Haut der Lippen und Nase. Die Zunge war dick und geschwollen, der Mann konnte kaum reden.

Dr. Wenz untersuchte die Bisswunde und versorgte sie mit Hilfe seines Helfers. Desinfektion – Anlegen eines sterilen Verbandes – Tetanusspritze – Ruhigstellung des Beines.

Mit großer Anstrengung gelang es dem Verletzten die Augen kurz zu öffnen. Er versuchte den Rettern mit letzter Kraft etwas mitzuteilen, war aber unfähig einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Obwohl sich der Sanitäter und der Arzt nahe zu seinem Mund neigten, konnten sie schwer verstehen, was der Mann mit heiserer Stimme flüsterte: „Zu spät … Hubschrauber war schon da – Hilfeschreie – alle jetzt weg.“ Für Dr. Wenz, der aus einer deutschen Familie in Namibia stammte, war es kein Problem, dass der Mann deutsch sprach. Er hatte ihn verstanden.

„Keine Angst, wir kümmern uns um Sie“, versuchte Dr. Wenz den Mann zu beruhigen, während er eine Infusion anlegte und sein Helfer Atmung, Bewusstsein und Herzfunktion überprüfte. Der Verletzte hörte seine Worte nicht mehr, er versank im Schweigen tiefer Bewusstlosigkeit.

Die Helfer legten den Verletzten behutsam auf eine Liege und brachten ihn in das Innere des Hubschraubers. Dort wurde sofort ein EKG geschrieben und Notfallmedikamente zur Herzstützung und Entzündungshemmung gegeben. Im Sofortlabor wurden u. a. Blutzucker und Gerinnung überprüft. Der Patient schien einen gefährlichen Blutverlust erlitten zu haben. Sein Zustand war äußerst kritisch.

Dr. Wenz warf einen besorgten Blick auf den Verletzten und beschloss, kein Risiko einzugehen und keine Sekunde länger zu warten. Er ließ sofort das Krankenhaus, an dem er arbeitete ansteuern, es war das nächstgelegene, auch  wenn es nicht besonders modern ausgestattet war, so musste es doch genügen, den Mann zunächst außer Lebensgefahr zu bringen. Sein Rettungsassistent kündigte sie dort über Funk an. Auf der Intensivstation wurde für die Ankunft und Weiterversorgung inzwischen alles Nötige vorbereitet.

Während der vierzigminütigen Flugdauer wurde der Zustand des Patienten weiterhin beobachtet und kontrolliert. Nach der Ankunft im Krankenhaus erfolgte dann sofort die Überwachung auf der Intensivstation und ständige Anpassung der Therapie abhängig von den auftretenden Symptomen.

Dr. Wenz legte dem Verletzten einen Blasenkatheter zur Kontrolle der Harnausscheidung. So war es möglich, ein drohendes akutes Nierenversagen aufgrund nierenschädigender, blut- und muskelzerstörender Gifteffekte rechtzeitig erkennen zu können. 

Der zweite Hubschrauber blieb vor Ort. Das Rettungsteam, bestehend aus einem weiteren Arzt, einem Sanitäter und dem Piloten durchsuchten zum wiederholten Mal die Umgebung der Absturzstelle und auch das Innere dieses seltsamen Flugobjektes, das einem querliegenden Raumschiff glich. Sie fotografierten das ungewöhnliche Flugobjekt sowie das SOS-Zeichen, geformt aus auf dem Boden verstreuten Büchern. Seltsamerweise waren keine Spuren aufzufinden. Trotz intensiver Suche war nichts zu erkennen, was auf die Anwesenheit mehrerer Personen schließen ließ. Die Landung – woher auch immer – war wohl nicht problemlos verlaufen. Das Flugobjekt lag der Länge nach im Sand und war teilweise zerstört.

Was war passiert? Sie versuchten sich an die Worte des verletzten Mannes zu erinnern. Was sagte er? „Zu spät … Hubschrauber war schon da – Hilfeschreie – alle jetzt weg.“

Es war eindeutig von mehreren Menschen die Rede, das stand fest. Wo aber waren sie geblieben?

Sobald der Mann wieder aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde, könnte er ihnen vielleicht weitere Auskünfte geben.

Der Pilot bestand darauf, noch einmal das Innere des seltsamen Raumschiffes genau zu durchsuchen. Es musste doch etwas zu finden sein. Menschen hinterlassen Spuren, Abfälle. Irgendwo musste doch etwas zu erkennen sein. Irgendetwas. Noch einmal begaben sich die drei Männer in das Innere und blickten sich aufmerksam um: Teile von Büchern lagen verstreut auf dem Boden, gesplittertes Holz kaputter Regale, Glassplitter zertrümmerter Fensterluken.

Plötzlich fiel der wachsame Blick des Piloten auf unscheinbare schwarze Punkte, die sich emsig am Boden bewegten. Ameisen? Eine Ameisenstraße war deutlich zu erkennen. Die Männer verfolgten den Weg der Ameisen, suchten unter den Büchern. Tatsächlich – die Tiere transportierten unermüdlich winzige Krümel, Papierteilchen, Stofffäden, kaum erkennbare Holzsplitter. Unbeirrbar steuerten sie ihr Ziel an: Sie verschwanden wie ferngesteuert in einem Spalt im Boden.

Kurz darauf entdeckten die Männer unter einem Haufen Glasscherben ein Bild, darauf war – kaum noch zu erkennen, von der Sonne ausgebleicht – das Gesicht einer jungen Frau zu sehen. Dunkle Haare, kurz geschnitten, freundliches Lächeln, helle Augen.

Als Dr. Wenz seinen Patienten fürs Erste versorgt wusste, fiel etwas von der Daueranspannung von ihm ab, die er nur zu gut von anderen Notfalleinsätzen kannte. Er schlug das Notizbuch auf.

Tagebuch – Montag 

Diese Zeilen sind eine letzte Nachricht, eine letzte Hoffnung einiger, die es gewagt haben sich noch zu Büchern zu bekennen. Sie werden lachen, sollten Sie jemals von dieser Botschaft zu hören bekommen. Sie werden ungläubig den Kopf schütteln, sie nicht glauben wollen, ja nicht glauben können, so unfassbar erscheint sie. Und doch behaupte ich, dass ich nichts als die Wahrheit sage, die Wahrheit soweit sie mir bewusst ist. Was soll das alles, werden Sie fragen und sich mit anderen Dingen beschäftigen wollen. Ich aber rate Ihnen, obwohl es unbequem ist, lesen Sie meine Botschaft, vielleicht können Sie uns noch retten oder aber sich selbst und viele andere, die ebenso bedroht sind wie wir alle.

Welche Bedrohung, wollen Sie wissen. Sie leben schon lange genug angesichts drohender Umweltkatastrophen, angesichts des über uns schwebenden Damoklesschwertes der Atombombe und selbst der Kriege in unserer Nachbarschaft, die ihre furchteinflößende Wirkung auf uns längst verloren haben. Welche Bedrohung nun also?

Neben all den bekannten Bedrohungen, an die wir uns schon fast gewöhnt haben solange sie uns nicht selbst betreffen, wächst noch völlig unbemerkt mitten in unserem Land eine neue, noch nie dagewesene Gefahr. Aber nun genug, ich muss meine Kräfte einteilen, um noch ein paar Tage überleben zu können, in der Hoffnung auf Hilfe von irgendwoher in irgendeiner Form. 

Wie es genau passierte, daran habe ich keine Erinnerung mehr. An den Tag allerdings kann ich mich genau erinnern, denn noch habe ich die Eintrittskarte samt Datum und sogar Uhrzeit aufbewahrt: Montag, 5. April, 14 Uhr. Die Fahrkarte ins Unglück sozusagen. Mit vielen anderen besuchte ich damals die seit langem angekündigte Bücherausstellung in unserer Stadt. „Kein Leben ohne Bücher“, so stand es in riesigen bunten Buchstaben auf den Plakaten mit denen überall in unserer Stadt für diese Ausstellung geworben worden war. Einmalig, unvergesslich sollte sie sein.

Das Wetter war denkbar schlecht, aber Leute, die gerne lesen, störte das nicht. Es regnete heftig. Immer wieder neu herabprasselnde Regenschauer, gemischt mit Hagelkörnern und starke Windböen trieben die Besucher, die sich in die Ausstellung gewagt hatten in die Ausstellungszelte und vor allem in die „Attraktion“: Zum ersten Mal war zu diesem Zweck ein raumschiffähnliches Gebäude geschaffen worden, das der Länge nach auf dem Boden liegend einem Buch glich, das mit der weithin sichtbaren Aufschrift „Kein Leben ohne Bücher“ einen Menschenstrom anzog und ihn einlud, sich in sein Inneres zu begeben, um die ausgestellten Bücher bewundern zu können.  

Eine enge Wendeltreppe führte in sein Inneres. Zu beiden Seiten schmaler Gänge waren Bücher ausgestellt, seltsamerweise völlig ungeordnet, was mir aber nicht gleich auffiel. Die Enge in dieser Bücherrakete erinnerte mich an das Innere eines U-Bootes, sie erdrückte mich fast und erzeugte ein be­klemmendes Gefühl in mir, so als ob ich in einer Blechdose gefangen wäre. Plötzlich konnte ich kaum mehr schlucken und verspürte das gierige Verlangen nach einem Schluck Wasser und kühler Luft. Das war meine letzte Erinnerung und was dann geschah, wie es geschah, ja überhaupt möglich war, bleibt für mich im Ungewissen. 

Tatsache aber ist, nach unbestimmter Zeit befanden wir uns alle noch in diesem Bücherraumschiff, allerdings an einem anderen Ort, in einem anderen Land. Wir starrten benommen aus den schmalen Luken, die bei der Landung zum Teil zerstört worden waren und konnten es nicht glauben, wollten nicht erkennen, was wir mit eigenen Augen wahrnahmen: Wüste. Wüste um uns herum. Sand, heißer gelbrot glühender Sand, ein unermesslicher Reichtum an Sand umgab uns. Heiße Luft strömte durch die zerstörten Luken, nahm uns den Atem, drohte uns zu ersticken. Wir fühlten uns innerhalb von Sekunden wie in einem heißen Backofen. Schweiß bedeckte uns am ganzen Körper, klebte an uns, rann unaufhörlich unseren Körper hinab. Wir rissen uns die Regenkleidung vom Leib, wollten vorerst nur eines: Abkühlung und frische Luft. Stolperten unsicher aus dem Raumschiff, versammelten uns in dem wenigen Schatten, den es uns bot. 

Dann erst blickten wir uns an, um zu erkennen, mit wem wir denn da gefangen waren an einem Ort, der einer Verbannung gleichkam. Mit wem wir denn nun unser Leben teilen mussten, mit wem wir die vielleicht letzten Tage verbringen mussten.

Fassungslose, erwartungsvolle Blicke wurden getauscht. Jeder schien auf eine Erklärung des anderen zu warten. Das konnte doch nicht wahr sein, sich plötzlich in der Wüste zu befinden, das durfte so nicht sein. Angst, Empörung, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung brachen aus, äußerten sich in aufkommender Panik. 

Intensivstation

Freitag

Der Patient bewegte sich, murmelte undeutlich. Aufmerksam beobachtete ihn Dr. Wenz. Rasch schloss er das Notizbuch, das er in der Hand gehalten hatte. Die Seiten fleckig, teilweise eingerissen und zerknittert, viele Wörter unleserlich, ausgebleicht. Wer hatte das geschrieben? Was war da passiert?

Später. Später, zwang er sich zu denken. Zuerst musste dem Mann geholfen werden. 

Trotz der eingeleiteten Maßnahmen zur Notfallversorgung versank der Kranke immer wieder in Bewusstlosigkeit. Haben wir etwas übersehen, überlegte der Arzt. Lag es am Zustand der Austrocknung? Er besprach sich mit einem Kollegen, der Erfahrung mit Schlangenbissen hatte. Vorerst war kein Versäumnis zu erkennen.

Die Wunde dagegen bereitete dem Mediziner Sorgen: Schwellung und fortschreitende Rötung am Oberschenkel, die gesamte Region wegen der starken Entzündung offensichtlich sehr schmerzhaft und äußerst berührungsempfindlich, Ödeme mit Blasenbildung um die Bissstelle herum, wahrscheinlich beginnende Nekrosen.

Nach weiteren Stunden der genauen Beobachtung und erneuten Kontrolle, auch der Laborwerte, konnte (gegen 22 Uhr) eine leichte Tendenz zur Stabilisierung festgestellt werden. Es gelang auch, den Patienten stündlich aufzuwecken und kurze Zeit wachzuhalten. Allerdings konnte er sich immer noch nicht zusammenhängend äußern.

Dr. Wenz nützte jede freie Minute, in der er nicht gebraucht wurde, um in dem Tagebuch weiter lesen zu können.

Als die ersten, zwei ältere Frauen, durchdringend zu schreien begannen, taten die beiden jungen Männer neben ihnen das einzig Richtige, sie hielten ihnen den Mund zu, versuchten es wenigstens, brauchten aber die Hilfe der anderen. Ratlos blickten die Helfer um sich, denn schon zeichneten sich auf einigen Gesichtern weitere Panikreaktionen ab.  

So durften wir nicht reagieren, das wäre für alle zu gefährlich. Ich blickte mich um, suchte mir schnell einige noch unbekannte Gesichter aus, nickte ihnen aufmunternd zu und stellte mich neben einen älteren Herrn, der ganz langsam immer heftiger zu zittern begann. Um ihn zu beruhigen, legte ich ihm sanft meine Hand auf den Arm.

Endlich sprach da einer, zerschnitt mit seiner wohltuenden Stimme den Vorhang der Angst und Düsternis, der uns zu ersticken drohte. Endlich übernahm da einer die Führung und somit die Verantwortung, war da einer bereit zu helfen. Alle atmeten auf. Die Gesichter entspannten sich, glätteten sich wie das Meer nach einem Sturm. Alle Augen blickten vertrauensvoll auf den einen, der sprach, ein hochgewachsener schlanker Mann, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte: „Ich bin Stefan Koller, 54 Jahre alt, verheiratet und arbeite seit zwanzig Jahren als Filialleiter in einer Sparkasse. Dort bin ich unter anderem auch verantwortlich für die Weiterbildung unserer Mitarbeiter. Keine Sorge. Wir werden diese Situation gemeinsam durchstehen, wenn wir gemeinsam bereit sind, alles Mögliche zu tun. Wir sind zusammen“, er zählte rasch die Anwesenden „neun Personen. Wir dürfen nicht verzweifeln, denn wir können uns die Ideen von neun Gehirnen, die Erfahrungen ebenso vieler zu Nutze machen. Und“, er drehte sich um und deutete lächelnd auf das Innere des Flugobjektes, in dem die Bücher, wild durcheinander auf dem Boden lagen, „wir haben noch viele Helfer um uns. Am allerwichtigsten ist es, Panik zu vermeiden, darüber muss sich jeder von uns klar sein. Jeder.“ Mit Nachdruck sah er uns fest in die Augen, jedem einzelnen von uns, bis er durch ein Nicken die Bestätigung eingeholt hatte. 

In den nächsten Stunden machten wir uns miteinander bekannt. Unser Chef forderte uns zu einer Vorstellungsrunde auf.  

Thomas, 25 Jahre und Hannes 27 Jahre, zwei Studenten der Elektrotechnik, kannten sich vom gemeinsamen Studium an der gleichen Universität, wirkten ruhig und gefasst, als ob sie unsere Notlage nicht erschüttern könnte. Anna, 62 Jahre, gab an Hausfrau zu sein. Sie war Oma von drei Enkelkindern im Alter von drei, fünf und acht Jahren um die sie sich große Sorgen machte, weil sie befürchtete, sie nicht mehr wiedersehen zu können. Karin, alleinstehend, 58 Jahre, arbeitete als Altenpflegerin in einem Altenheim. Robert, 69 Jahre, ehemaliger Versicherungsangestellter, seit fünf Jahren im Ruhestand. Paul, 43 Jahre, verheiratet, eine erwachsene Tochter, war als Landschaftsgärtner bei der Stadtverwaltung angestellt. Matthias, 17 Jahre, angehender Bürokaufmann, befand sich im dritten Ausbildungsjahr. Als letzte stellte ich mich vor: Rita, 32 Jahre, Kindergärtnerin. 

Wir bestimmten Gruppen, die zu wachen hatten, während andere schliefen. Wir teilten uns ein in körperlich kräftige und geschwächte Personen. Wir durchsuchten unsere Taschen nach brauchbaren Dingen. Sonderbarerweise funktionierte keines der vorhandenen Handys mehr. Kein Empfang. Funkstille. Wir kontrollierten unseren Proviant, was sehr wenig war, denn keiner hatte damit gerechnet, in der Wüste zu landen und das für ungewisse Zeit.

Nur wenige hatten überhaupt Essensvorräte dabei, die sie nach kurzem Zögern mit den anderen teilten: einige Äpfel, ein Sandwich, mehrere Packungen Kekse und einige Powerriegel. Fast alle hatten dagegen Trinkflaschen, die zum Teil noch mit Wasser gefüllt waren.

Wir versuchten Bücher zu sortieren, die uns nützlich sein konnten. Aber die ungewohnte Hitze drang in unser Raumschiff, lähmte uns, ließ all unsere eben gewonnene Hoffnung schmelzen, Tropfen für Tropfen im Sand versickern. Wir mussten uns vor der Hitze schützen, auf den Abend, die Nacht mit ihrer Kühle warten. Aus allen geeigneten Kleidungsstücken – Regenmänteln und Jacken – und den zerbrochenen Teilen von Bücherregalen sowie der Bespannung der vorhandenen Regenschirme gelang es einigen von uns, vor dem Bücherraumschiff ein notdürftiges Zeltdach zu errichten, das ein wenig Schutz vor der Hitze gewährte. Reglos und stumm erwarteten wir unsere erste Nacht im Freien in der Hoffnung auf Abkühlung. 

Es dauerte. Stunde um Stunde wehrte sich zu vergehen. Zeit, die sonst immer kostbar, kaum verfügbar war, Zeit umgab uns nun in ungewolltem Ausmaß. Wir saßen, lagen hilflos herum, wühlten in dieser freien Zeit mit unseren Gedanken wie Maulwürfe in der Erde, schütteten Fragen auf, die beantwortet werden wollten – und immer noch blieb ein Übermaß von Zeit.  

Rilke. In dieser Lage an Rilke zu denken schien verrückt. Und doch fielen mir einzelne Wortfetzen seiner Gedichte ein, die ich genoss wie ein Stück Schokolade, ganz langsam auf der Zunge zergehend. „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem …“ 

Endlich war die Temperatur erträglich und es war möglich, unsere erste Nachtsitzung abzuhalten. Wir sprachen über unsere Vorstellungen, wie wir überleben könnten. Wie lange, danach wagte keiner zu fragen, aber ich machte mir wenig Hoffnung. Dreißig Tage ohne Nahrung, drei Tage ohne Wasser. Aber diese Frage musste ignoriert werden, um Panik zu vermeiden.

Heute war Montag, der erste Tag. Heute bekam noch jeder etwas zu trinken. Heute noch … 

Intensivstation

Freitag

Die Schwester rief Dr. Wenz plötzlich. „Der Blutdruck fällt! Blutungen an der Bissstelle sind aufgetreten.“

Eilig warf Dr. Wenz das Buch auf seinen Stuhl und rannte in das Zimmer seines unbekannten Patienten. Die Schwester hatte die Blutung beim Verbandswechsel bemerkt. Der Arzt untersuchte die Wunde und das Gewebe im Umfeld. Bis auf die Blutung war der Zustand der Wunde unverändert. Die neuerlichen Laborwerte deuteten dazu passend auf eine Gerinnungsstörung hin, die Niere arbeitete allerdings noch gut.

„Wo bleibt das Antivenin?“, der Arzt wandte sich an eine weitere Schwester. „Rufen Sie bitte noch einmal in der Klinik in S. an. Wir brauchen es dringend. Es könnte seine Rettung sein.“

Der Patient befand sich wieder in einem Dämmerzustand, bewegte sich jedoch immer wieder und wirkte sehr unruhig. Ab und zu gab er undeutliche Laute von sich, fuchtelte aufgeregt mit den Armen, als wehrte er eine ihm drohende Gefahr ab. Die Schwester strich ihm beruhigend über die Stirn. Plötzlich bäumte der Mann sich auf, stieß einen gellenden Schrei aus und sank erschöpft wieder zurück. Der Arzt und die Schwester blickten sich an. „Glauben Sie, dass er Alpträume hat? Fieberphantasien?“, fragte die Schwester. Stumm nickte der Arzt.

Und erneut fragte er sich: Was war da passiert? Was haben wir übersehen? 

Schichtwechsel

Freitagabend 

Vor Beendigung seiner Dienstzeit besprach sich Dr. Wenz mit seinem Kollegen Dr. Jawara, der Nachtdienst hatte. „Denken Sie bitte daran: Kontrolle in kurzen Abständen! – Beibehaltung aller Intensivmaßnahmen, auch wenn es dem Patienten besser zu gehen scheint! Ich bleibe in der Klinik. Sie können mich bei Verschlechterung des Zustandes rufen. Jederzeit.“ 

Das zerfledderte Buch ließ Dr. Wenz nicht zur Ruhe kommen. Er hoffte auf eine Aufklärung dieser seltsamen Geschichte und begann im Arztzimmer weiter darin zu lesen. 

Noch war es möglich miteinander zu diskutieren, gemeinsam Ideen zu sammeln und erste Pläne für die nächsten Tage zu entwickeln, erste aufkeimende Ängste zu ersticken. Aber wie lange würde das funktionieren? Die lang ersehnte Nacht brachte uns eine unangenehme Kälte, die uns am Schlafen hinderte wie vorher die unerträgliche Hitze des Tages. Allen war klar, wir mussten irgendwie dafür sorgen, ein Feuer machen zu können und dazu geeignetes Brennmaterial finden. Voll wirrer Gedanken im Kopf ließ mich schließlich die Erschöpfung für einige Stunden in einen unruhigen Schlaf fallen, um wenigstens kurz dieser unglaublichen Situation zu entfliehen.   

(Ende Teil 1)

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