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Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Josephine Sonnenschein – Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder

Schlagwort-Archiv: Alter

Entwurzelt – Pastellkreide auf Acrylabdruck

03 Sonntag Jul 2016

Posted by josephinesonnenschein in Allgemein, Bild, Bilder, Gemälde, Kunst, Malerei, Pastellkreide

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Schlagwörter

Alter, Ausdruck, Baum, Bäume, Erfahrung, Erinnerung, Freude, Gefühle, Landschaft, Natur, Wasser, Wurzeln

Entwurzelt_small

Entwurzelt – Maße 60 x 42 cm

November

01 Sonntag Nov 2015

Posted by josephinesonnenschein in Gedicht, Literatur, Lyrik

≈ 8 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Ausdruck, Einsamkeit, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen

Und wieder an Gräbern stehn
wie jedes Jahr
und wieder vor lauter Gräber
nichts als Namen sehn,
gepresst in Stein oder Holz,
geboren, gestorben, alles klar ablesbar,
gelebt aber, wie und wofür,
gehofft worauf, gebangt um, sich gefreut über,
geträumt von, geliebt  oder gehasst von wem,
wir wissen es nicht,
wir werden es nicht mehr wissen
zu lange haben wir gewartet, oft
zu wenig haben wir gefragt, manchmal
zu viel haben wir versäumt, fast immer
was also bleibt zu tun
Gräber pflegen,
nachträglich
Gräber schmücken,
an gewissen Tagen
Gräber besuchen,
in gleichen Abständen
kann das alles sein
mit starren Gesichtern unzählige Menschen um mich,
erkennen nicht den wahren Augenblick,
fühlen nicht unsere Gemeinsamkeit,
schenken sich kein Lächeln, kein Wort,
lassen ihre Blicke stumm über Gräber kreisen,
kontrollieren, vergleichen, werten,
erkennen nicht, was wichtig wäre,
jetzt aufeinander zu warten,
jetzt einander zu fragen,
jetzt miteinander zu leben
in diesem Meer von Menschen, dieser Kälte von Gleichgültigkeit
möchte ich nicht ertrinken
ich gehe

Josef

22 Mittwoch Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Gedanken, Kurzgeschichte, Literatur

≈ 7 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Bruder, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Flucht, Schicksal, Schuld, Tod, Verrat, Verzweiflung, Vorherbestimmung, Zweifel

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Jetzt sind sie beide tot. Endlich kann ich dir schreiben, denn mein Zorn ist verraucht und geblieben ist die Trauer über den Tod unserer Söhne. Du wirst dich fragen, woher mein Zorn kommt. Ich werde dir antworten:
Es war dein Sohn, der mir meinen Sohn entfremdet hat. Plötzlich war ich allein, ohne Hilfe, die ich so nötig hatte. Aber dir ging es ja nicht anders. Auch du warst allein. Ich habe lange nachgedacht und versucht mich in deine Lage zu versetzen. Wie hast du es ertragen können, einen Sohn aufzuziehen, von dem nicht bekannt war, dass du ihn gezeugt hast? Ein Sohn, der dich nicht zum Vorbild nahm. Du sahst ihn aufwachsen, umsorgt von der Liebe deiner Frau. Wie oft haben dich wohl Zweifel geplagt über seine Herkunft? Ein Kuckucksei, das man dir ins Nest gelegt hatte. Wie stark hast du wohl geglaubt an deine Frau? Es gingen vielerlei Gerüchte um, die ein schales Licht auf dich und deine Familie warfen. Es ist bekannt, dass du immer zu deiner Frau und deinem Sohn gehalten hast. Mir und meiner Frau erschien das lange Zeit unerklärlich. Wie waren wir doch stolz auf unseren einzigen Sohn, der neben mir in der Werkstatt stand und mir von klein auf  bei meinem Handwerk zusah, begierig es möglichst schnell zu erlernen, was ihm auch gelang. Wir beide wissen, was es bedeutet für den eigenen Handwerksbetrieb den richtigen Nachfolger zu haben, einen, für den es sich lohnt, die ganze Mühe auf sich zu nehmen,  seine Kräfte zu verschwenden, um dann im Greisenalter von den Früchten der eigenen Arbeit zehren zu können. Ich hatte wohl die besten Aussichten auf ein ruhiges Dasein im Alter mit meinem Sohn als Nachfolger, der sich um unsere Familie kümmern würde. Du aber? Wie man so hörte, fiel dein Sohn ganz aus der Reihe. Er war nicht zum Handwerker bestimmt, weigerte sich die Hände schmutzig zu machen, wollte sich nicht plagen mit schweren Arbeiten und lehnte es ab, in der Hitze seinen Schweiß zu vergießen, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Dein Sohn trieb sich stattdessen in der Gegend herum, hielt kluge Reden und fand sogar einige Anhänger, die dem Faulenzen nicht abgeneigt waren und sich ihm anschlossen zum Ärger derer Familien.
Du bist stumm geblieben, hast einfach mehr gearbeitet, nie ein böses Wort verloren, sagt man. Aber mal ehrlich: Was hast du wirklich gedacht, gefühlt? Von deiner Frau verwöhnt, ohne jede Rücksicht auf dich und dein Alter, in dem die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht, zog dein Sohn frei nach seinem Geschmack herum, sorglos, rücksichtslos. Viele haben sich damals gefragt, hinter vorgehaltener Hand, wie kann Josef, das Familienoberhaupt dieses respektlose Verhalten dulden? Viele zweifelten an deinem Verstand, erwarteten ein strengeres Vorgehen, einen Beweis deiner Autorität dem Sohn und seiner Mutter gegenüber. Die Mutter war vielleicht zu jung, zu jung für dich, Josef und zu jung für dieses schwierige Kind, das schon in frühen  Jahren selbstständige Wege ging.
Hatte dein Sohn Freunde in seinem Alter? War er schon von klein auf ein Rebell? Ich habe ihn erst später kennen gelernt, zu spät. Da hatte ich keinen Einfluss mehr auf meinen Sohn, der doch mein ganzer Stolz war. Kräftig gewachsen, arbeitsam, geschickt und willig, meinen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Ohne Rücksicht auf seine alten Eltern verließ er uns eines Tages. Seine Mutter leidet noch immer unter dem Verlust ihres einzigen Sohnes, der sich von uns abgewandt hatte trotz der Fürsorge, die er von uns erhalten hatte. Sie ist krank und lebt seitdem in einer dunklen Welt ohne Freude und Sinn. Sie hat sich zurückgezogen und hofft in einer Ecke ihres Herzens wohl noch immer auf seine Rückkehr. Ich aber war wütend und traurig zugleich. Du hast deinen Sohn in seiner Entwicklung nicht gebremst, du hast es zugelassen, so aus der Art zu schlagen, hast ihn unterstützt und ihm Freiheiten gewährt, die dir zum Nachteil gereichten und nicht nur dir, auch uns. Und dein  Sohn bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus und Judas Iskariot, der ihn überliefert hat. Unser Sohn schloss sich deinem an und wir, seine Eltern, zählten nicht mehr für ihn. Wir waren nicht die einzigen, die durch deinen Sohn unsere Söhne verloren, aber wir waren die einzigen, die den Tod unseres Sohnes zu beklagen hatten. Geschützt vor ihm waren die Frauen, die Töchter, von denen nur wenige es wagten, mit seiner Gruppe zu gehen. Er verkehrte auch mit den übelsten Kreisen, sank wohl immer tiefer, rief Unverständnis und Abneigung hervor, gab sich mit Menschen ab, die von unserer Gesellschaft ausgestoßen und verachtet wurden. Er legte sich mit den geistigen Führern an, verkündete seine Lehren und begeisterte immer wieder neue Anhänger, die mit ihm zogen und ihre Familien im Stich ließen. Wie hast du dich da wohl gefühlt, Josef? Wie schwer war es zu ertragen, Lästerungen über deinen Sohn zu hören? Ist das nicht … der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus, Jose, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern verächtlich mit den Fingern. Seht, auch sein Sohn ist hier bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Hast du dich innerlich von ihm abgewandt oder konntest du seine Reden verstehen? Und seine Mutter, deine junge Frau, wie konnte sie es ertragen, ihren geliebten Sohn an die Menge zu verlieren? Viele Gerüchte waren im Umlauf. Und er begann sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden und von den Hohenpriestern  und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Das sprach er ganz offen aus. Wir hörten nicht richtig hin, waren zu beschäftigt mit dem Verlust unseres Sohnes. Erst allmählich erkannten wir die Gefahr, in der sie alle schwebten. Dein Sohn entwickelte sich zum Gegner des Regimes und die Geheimpolizei wurde hellhörig. Seine Reden wurden aufgeschrieben, seine Auftritte genau beobachtet und protokolliert. Meine ursprüngliche Wut verwandelte sich in Sorge. Was, wenn mein Sohn im Gefängnis landen würde? Widerstand gegen die Regierung, Mitläufertum, das alles könnte sein Todesurteil bedeuten. Seine Mutter betete Tag und Nacht für ihn, hoffte inständig auf seine Rückkehr und sprach mit keinem anderen mehr. Ich arbeitete und versuchte auf diese Weise meine Sorgen und Ängste zu verdrängen, aber die Leute ließen es nicht zu. Ständig erfuhr ich Neuigkeiten über die Gruppe dieser Aufständischen, der Rebellen, wie sie auch von vielen genannt wurden. Aus meinem Stolz wurde Scham. Auch auf meinen Sohn zeigten nun andere ein Anhänger von Josefs Sohn. Seht, auch er wagt es, seine Eltern im Stich zu lassen. Ich schwieg und verschloss mich den anderen gegenüber.

Nun aber, da beide tot sind, sehe ich vieles anders. Ich habe mit vielen seinen Anhängern gesprochen und mir seine Reden noch einmal durchdacht. Er kündigte sein Ende ganz klar an und mein Sohn spielte dabei eine entscheidende Rolle, ohne sich dieser vorher bewusst zu sein. Ja, ich wage jetzt zu behaupten, mein Sohn war unbedingt notwendig für deinen Sohn, um seine Prophezeiungen wahr werden zu lassen. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert, und sie werden ihn töten. Und wenn er getötet worden ist, wird er nach drei Tagen auferstehen.“ Leider war es eine schmähliche Rolle, die er meinem Sohn zugedacht hatte, aber auch diese musste übernommen werden. Keine leichte Rolle, das wirst du zugeben müssen. Ein Rolle, die ihm einen schlechten Ruf über den Tod hinaus einbringen würde, nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. Er brachte Schande über seine Eltern, die ihm stets Ehrlichkeit und Wahrheitsstreben zu vermitteln suchten. Nun trat unser Sohn als feiger Verräter an die Öffentlichkeit und deinem Sohn, der wohl auch mit dem Tod bezahlen musste, gereichte dies zum nachträglichen Ruhm, wenn man es so sehen will. Sicher, auch für deine Familie war es nicht leicht, seinen Tod anzunehmen, aber er hatte somit seine Ankündigungen erfüllt und galt nicht länger als Lügner. Das mag dir vielleicht Genugtuung bedeuten, aber den Schmerz lindert es sicher nicht. Mir aber bleibt die Schande über meinen Sohn, die nicht mehr zu tilgen sein wird. Und Judas Iskariot, der eine von den Zwölfen, ging zu den Hohepriestern hin, um ihn ihnen zu überliefern. Die aber freuten sich, als sie das hörten, und versprachen, ihm Geld zu geben; und er suchte, wie er bei guter Gelegenheit ihn überliefern könnte.

Du willst wissen, warum ich dir diesen Brief schreibe? Eine Hoffnung, die ich noch habe drängt mich dazu, die Hoffnung, das Licht der Wahrheit auf seinen Tod scheinen zu lassen. Es hängt nun von dir ab, ob du bereit bist, diesen Brief mit meiner Erkenntnis weiter zu verbreiten unter den Anhängern deines Sohnes.

Ich konnte nicht glauben, dass mein Sohn als Verräter in die Geschichte eingehen würde, also wollte ich näheres erfahren und habe Nachforschungen betrieben. Nachdem man ihn tot aufgefunden hatte, hatte man mir seine Kleidungsstücke überbracht. Ich durchwühlte sie immer wieder, in der Hoffnung, wenigstens ein Zeichen, einen Hinweis auf seine Unschuld zu finden, denn nach wie vor war ich davon überzeugt: er hatte nicht aus böser Absicht so gehandelt.

Tatsächlich entdeckte ich, eingenäht in seinen Kleidern ein Stück Leinen, auf dem er seine Not, die ihn zum Verräter werden ließ, geschildert hatte.

„Ich war entsetzt und gleichzeitig wie gebannt. Wie konnte mein Freund und Meister, den ich so schätzte und verehrte, behaupten: Wahrlich, ich sage euch. Einer von euch wird mich überliefern, einer, der mit mir isst. Da begannen wir traurig zu werden und fragten ihn nacheinander: Ich bin es doch nicht? Er aber antwortete: Einer von den Zwölfen, der mit mir die Hand in die Schüssel taucht. Zwar geht der Menschensohn dahin, so wie es von ihm geschrieben steht. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren.

Plötzlich wusste ich es: Jesus meinte mich. Ich starrte sekundenlang auf meine Hand, die neben seiner in die Schüssel tauchte, ich konnte nicht mehr schlucken und auch nicht reden. Ich fiel lautlos aus der Gemeinschaft seiner Jünger und keiner schien es zu bemerken. Selbst Jesus wandte sich von mir ab. Sein Urteil war gesprochen, ich hatte es verstanden, aber ich schrie in meinem Innersten: Nein. Dieser wollte ich nicht sein, von dem gesagt wurde, es wäre besser, er wäre nie geboren. Das machte mein ganzes bisheriges Leben sinnlos, das machte mich zum Verräter,  ja zum Mörder eines Unschuldigen. Diese Last der Schuld wollte ich nicht tragen ein Leben lang. Warum blieben die anderen, die es doch auch vernommen hatten, so gleichgültig? Sie aßen weiter, als wäre nichts geschehen. Doch in diesem Augenblick war mein Schicksal bestimmt worden von dem Menschen, den ich so liebte, dem ich vertraut hatte bis zu dieser Stunde, mit dem ich bei Tische lag, zum letzten Mal, Seite an Seite, stolz darauf, ihm nahe zu sein, näher als den anderen. Was hatte ich verbrochen, um ein Verbrecher werden zu müssen? Warum wählte er gerade mich dazu aus, die Schrift zur Erfüllung zu bringen? Warum? Am liebsten hätte ich geschrien, getobt, ihn geschüttelt um eine Antwort zu erfahren. Aber ich blieb stumm, wie gelähmt und besessen von dem einzigen Gedanken: Es muss eine andere Lösung geben, so kann es nicht sein.
In der Finsternis, an einen Baumstamm gelehnt kam ich wieder zu mir. Was war passiert? Ich sollte Jesus verraten? Nein, dazu war ich nicht bereit. Warum flüchtete Jesus nicht? Noch bot sich günstige Gelegenheit. Er blieb, also musste ich wohl gehen. Flucht in die Einsamkeit. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die uns stark gemacht hatte, den Feinden gegenüber. Kein zurück wäre mehr möglich. Geflohen, um kein Verräter sein zu müssen und doch einer zu sein, der sich geweigert hatte, seinen Auftrag anzunehmen, damit sich Jesu Schicksal erfüllen könne. Um mich nur Dunkelheit, ein Loch, in das ich fiel, unaufhaltsam, immer schneller, atemlos. Nie zuvor war ich so allein gewesen, so verzweifelt. Ich warf mich auf den Boden und flehte zu meinem Gott, er solle mich nicht verlassen, sondern mir einen Weg, einen Ausweg weisen, den ich gehen könnte. Ich raufte mir die Haare und schlug mir Steine vor die Brust, wollte Schmerz fühlen, um aus meiner Erstarrung aufzuwachen.

Da wurde ich grob von fremden Händen gepackt und hochgerissen, der Schein einer Fackel leuchtete mir ins Gesicht und höhnische Stimmen drangen in mein Ohr. Das ist einer von den Zwölfen, haltet ihn fest, er kann uns zu ihm führen. Ich wehrte mich und wollte flüchten, aber es waren zu viele und sie trugen Waffen und meine Angst war zu groß. Die Angst, hier und jetzt sofort sterben zu müssen. Verzeih mir, mein Gott, wenn dies der erflehte Ausweg war, habe ich ihn aus Feigheit nicht angenommen und bin schuldig geworden. Sie drückten mir einen Sack mit 30 Silbermünzen in die Hand, den ich erzürnt wegschleuderte, sie aber hoben ihn erneut auf und banden ihn an meinen Gürtel und mir die Arme auf den Rücken. Nun sollte es also doch geschehen, was mir prophezeit worden war? Sie schoben mich durch die Straßen und verlangten, ich solle sie zu meinem Meister führen. Ich bewegte mich wie in Trance, immer noch auf einen Ausweg hoffend, eine günstige Gelegenheit, ihnen zu entkommen. Wie ein Schlafwandler führte ich sie ziellos durch die kleinen Gassen, um Zeit zu gewinnen, dem Schicksal zu entkommen. Bald bemerkten sie meine Absicht und wurden grober, begannen mich mit ihren Schwertern heftig zu berühren, drängten mich so in die von ihnen gewünschte Richtung. Woher aber wussten sie, wo sich Jesus mit den Jüngern aufhielt? Ahnten sie es, oder wussten sie es? Warum aber musste ich sie dann führen? Brauchten auch sie einen Sündenbock, um ihre Schuld abladen zu können, wohlwissend, dass mit Jesus ein Unschuldiger festgehalten wurde? Wirkten sie als die Besetzer unseres Landes glaubwürdiger, wenn unser Meister von einem aus den eigenen Reihen bloßgestellt werden würde? Hatten sie etwa Angst vor das jüdische Volk zu treten? Befürchteten sie gar einen Aufstand der wütenden Massen und Pilger im Ort?

Ehe ich noch eine Antwort fand, betraten wir den Garten, in dem Jesus sich aufhielt, auch er gepackt von tiefer Angst, auch er in großer Einsamkeit und Verzweiflung, aber er war bereit, sein Schicksal anzunehmen. War auch ich bereit? Und er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: „Schlaft ihr weiter und ruht!“ Es ist  genug. Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überliefert. Steht auf, wir wollen gehen. Siehe, der mich überliefert ist nahe.“ Durchflutet von einem Gefühl unbeschreibbarer Nähe, geistig und körperlich spürbar, trat ich meinen letzten Schritt auf ihn zu. Rabbi,  ein letztes Mal, diesem Gesicht so nahe, ein letztes mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dieses vertraute Gesicht, diese sanften Augen, dieser Mund, der so wunderliche und heilsame Worte sprach. Sollte ich es also sein, der ihn auslieferte? Hatte er es so gewollt? Vielleicht erwies ich ihm einen Dienst, vielleicht befand er mich am stärksten, als seinen Freund, der ihm dazu verhalf, seinen schwierigen Weg zu gehen, damit sich die Schrift erfüllen könne? Konnte ich ihm in dieser Sekunde einen kleinen Beistand bieten? Überwältigt von dieser neuen Erkenntnis trat ich auf ihn zu und küsste ihn, ein Liebeskuss. Ein Abschiedskuss, ein Versöhnungskuss. Täuschte ich mich oder entdeckte ich in seinen Augen ein wohlwollendes Leuchten? Er verzieh mir, er war der einzige, der mich verstanden hatte, nachdem wir uns nach qualvollen Stunden, ausgeschlossen von jeglicher Gemeinschaft wieder trafen. Mehr konnte ich nicht tun. Schon rissen sie ihn mit sich und den Jüngern gebot Jesus Einhalt. Ich aber gepackt von Scham und Schuld jenen gegenüber, die von nichts ahnten, entfloh den Soldaten, die sich nun nicht mehr um mich kümmerten. Ich raste durch die Dunkelheit erneut von Entsetzen gepackt, dem Wahnsinn nahe. Das Säckchen mit den Münzen riss ich von meinem Gürtel, stürzte zu Pilatus und warf es ihm vor die Füße. Er ist unschuldig, schreiend so laut ich konnte. Nehmt mich und lasst ihn laufen. Die Wachen aber lachten, warfen mich hinaus und sprachen. Was kümmerst du uns? Wieder vernahm ich meines Meisters Worte. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird. Besser wäre es für jenen Menschen, er wäre nie geboren. Ununterbrochen vernahm ich diese Worte, sie ließen mich nicht mehr los. Auch sie mussten sich erfüllen. Ein letzter Schritt noch.

Bevor ich diesen Schritt aus dem Leben gehe, habe ich aufgeschrieben, was mich bewegte, in der Hoffnung, nach meinem Tod, wenigstens einen Menschen zu finden, der für mich betet, damit Gott mir meine Schuld, die er mir bestimmt hatte, vergeben wird.

Sommer

11 Samstag Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Belletristik, Kurzgeschichte, Literatur

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Schlagwörter

Alter, Aufbruch, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Freude, Gedanken, Gefühle, Glück, Leben, Leichtigkeit, Liebe

„Bitte sehr“. Sie hob kurz den Kopf, nickte dem Kellner lächelnd zu und nahm dankend die Tasse mit Kaffee entgegen, bevor sie sich wieder über das aufgeschlagene Notizbuch beugte, kurz überlegte und  weiter schrieb, ehe sie sich einen Schluck Cappuccino gönnte.Träumend blickte sie über die Tische hinweg, von denen viele unbesetzt waren, jetzt in der Nachsaison, und suchte mit ihrem Blick den Strand und das Meer in der Ferne. Sie griff wieder zur Kaffeetasse und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen, die mit warmen Fingern ihr Gesicht berührte. Zärtlichkeit war in ihr und umgab sie.Vieles war geschehen in der letzten Woche, die sie hier verbracht hatte. Heute war ihr letzter Tag. Heute wollte sie ihre Gefühle in Worte fassen, sie aufbewahren für spätere Zeiten, kältere Zeiten, Zeiten ohne Zärtlichkeit. Sie saß auf den Felsen, etwas abseits vom Strand und beobachtete die Wellen, die Unermüdlichen. Sie hatte sich einen der Felsen zu ihrem Lieblingsfelsen gewählt. Auf ihm  konnte sie sitzen und liegen, träumen, beobachten, das Wasser, die Vögel und Menschen, die sich in ihren bunten Strandkörben versteckten. Von hier aus konnte sie zu ihren langen Strandspaziergängen aufbrechen, ungestört von anderen Menschen.
Seit Tagen allerdings fand sie ihre Ruhe nicht mehr, war aufgewühlt wie das Meer bei Sturm. Ein Gefühl lustvoller Unruhe bemächtigte sich ihrer, sie schwankte zwischen Frohsinn und Trauer, wollte verdrängen, was sich ihr da aufdrängte, was sie gefangen hielt, ganz ungewollt. Es dauerte geraume Zeit, ehe ihr bewusst wurde, was ihr den Schlaf raubte, was ihre Tagträume so farbig machte, was sie schwanken ließ zwischen jubelnder Stimmung und abgrundtiefer Traurigkeit. Sie weigerte sich, es wahrhaben zu wollen, aber ihr wurde es plötzlich klar, als sie ihn wieder sah, vor zwei Tagen, da spürte sie es klar und deutlich, jenes Gefühl, das so oft mit Schmetterlingen im Bauch beschrieben worden war. Das Gefühl über das sie oft abfällig gelächelt hatte, das Gefühl, das für junge Menschen bestimmt war, das Gefühl plötzlicher Verliebtheit, von dem sie unerwartet erfasst worden war. Entsetzt dachte sie an ihr Alter, – dass ihr das ausgerechnet jetzt passieren musste -, jetzt, da sie das Thema Liebe für sich schon lange abgeschlossen hatte. Und doch, Verliebtheit ist kein Vorrecht der Jungen, dachte sie trotzig, als sie abends kritisch in den Spiegel schaute, mit ihren Fingerkuppen, den einzelnen Falten in ihrem Gesicht nachspürte. Falten, in die sich ihr Leben mit Freude und Schmerzen eingeprägt hatte. Falten als Zeugen ihres Lebens. Es muss ja keiner wissen. Und er schon gleich gar nicht. Auf keinen Fall durfte er es erfahren. Nie im Leben. Sie hatte ein Geheimnis. Sie als Frau in den späten Jahren. Sie empfand es auf einmal als unerwartetes Geschenk, etwas, das sie noch einmal erleben durfte. Es tat gut und schmerzte zugleich. Diese schreckliche Sehnsucht, diese Einsamkeit mit ihrer Wahrheit. allein bleiben zu dürfen. Und doch, sie hatte es nicht herausgefordert, es war ein Zufall, es war plötzlich da, als sie ihm begegnete.
Eines Tages war ihr Lieblingsfelsen besetzt. Sie sah schon von weitem das leuchtend orangefarbene Handtuch und zu ihrem Erstaunen erkannte sie beim Näherkommen einen Stapel Bücher, der sorgsam aufgebaut war, gekrönt von einer schwarzen Kappe, die beschwert wurde von einem Stein, der das Fortwehen durch den Wind verhindern sollte. Weit und breit war niemand zu sehen. Der Besitzer – sie tippte gleich, es müsste ein Mann sein – befand sich wohl im Wasser. Neugierig suchte sie sich einen Platz in der Nähe, etwas verborgen hinter einem Strauch. Sie streckte sich in der Sonne aus, und schlief wohl ein. Mit einem Ruck setzte sie sich erschrocken auf, als ein Schatten über sie fiel. „Ich wollte Sie nicht erschrecken, wollte nur fragen, ob Sie mir die Uhrzeit sagen können.“ Der junge Mann trat rasch einen Schritt zurück und blickte sie entschuldigend an, schon bereit zum Weggehen. Verwirrt blickte sie automatisch auf ihre Armbanduhr, konnte aber geblendet von der Sonne, die Zeit nicht erkennen und außerdem hatte sie ihre Brille abgelegt, aber das konnte der junge Mann ja nicht wissen. Spontan hielt sie ihm ihren Arm entgegen, den dieser kurz berührte, um einen Blick auf das Ziffernblatt zu werfen. Sie liebte Uhren mit Zeigern und weigerte sich eine andere Uhr zu tragen. Der junge Mann starrte etwas zu lange auf ihre Uhr, er schien es nicht gewohnt zu sein, von so einer altmodischen Uhr die Zeit abzulesen, aber es gelang ihm nach Sekunden schließlich doch. „14 Uhr 20“, murmelte er und „vielen Dank.“ Lautlos verschwand er auf seinem Felsen, der doch ihr Lieblingsfelsen war. Er nahm eines der Bücher vom Stapel und begann zu lesen. Unauffällig beobachtete sie ihn. Und ganz allmählich geschah es.
In ihr regte sich etwas. Wo vorher Taubheit sich eingenistet hatte, begann sie wieder etwas zu spüren, tief in ihrem Inneren begann es zu prickeln. Überrascht dachte sie an den jungen Mann und was die Begegnung mit ihm ausgelöst hatte. Sie beschäftigte sich mit ihm, ohne ihn zu kennen.
Sie beobachtete ihn lange, sah ihn auf der Decke liegen, die Knie angezogen, die Kappe auf dem Kopf und mit beiden Händen ein Buch haltend, abgedriftet, seine Umgebung vergessend, abgetaucht in die Welt seines Buches. Was er wohl las? Vertrautheit wuchs zwischen ihr und ihm. Ein Leser. Sie liebte Bücher. Sie liebte Menschen, die lasen. Sie begann ihn sympathisch zu finden. Aber woher kam diese innere Unruhe?
Ausgestreckt lag sie auf ihrem Felsen, die Augen geschlossen, versuchte sie auf andere Gedanken zu kommen. Vergeblich. Er könnte ihr Sohn sei, den sie sich lange gewünscht hatte. Der Sohn, den sie nie hatte. Sie als Mutter. Schwer vorstellbar. Und doch. Er würde ihr als Sohn gefallen. Die Liebe zu Büchern hätten sie gemeinsam. Ein guter Anfang. Ein Bindeglied. Wie wohl seine Beziehung zur Mutter war?
Unauffällig beobachtete sie ihn. Sein Platz war leer. Das Orange des Handtuchs leuchtete ihr entgegen. Seine Abwesenheit enttäuschte sie. Ihr Blick wanderte suchend am Strand entlang. Weit draußen im Wasser bewegte sich etwas. Er könnte es sein. Sportlich der Junge. Abgehärtet. Das gefiel ihr, erinnerte sie an ihre Jugendzeit. Die täglichen kalten Duschen fielen ihr plötzlich wieder ein, der Wunsch nach Selbstdisziplin, das Leben noch vor sich, gefüllt mit Plänen, Hoffnungen, Erwartungen.
Und jetzt? Den längsten Weg hatte sie vermutlich schon zurückgelegt. Was noch blieb? Die Zufriedenheit des Alters? Nein.
Der Junge kam zurück, im Laufschritt, schnappte sich das Handtuch, rubbelte kräftig seinen jungen Körper trocken, warf sich auf den Bauch.
Da rebellierte es plötzlich in ihr. Eine Woge der Freude stieg in ihr auf. Sie fühlte sich auf einmal nur glücklich. Allmählich erkannte sie den Grund: Nicht mütterliche Gefühle beherrschten sie. Nein. Sie wagte es kaum zu denken, aber sie wusste es. Das konnte noch nicht alles gewesen sein.
Wie Schuppen fiel es ihr vor Augen: Sie wollte mehr. Wollte noch einmal erleben, was sie längst vergangen glaubte. Wollte es nur für sich: Leben mit allen Schattierungen.

Kavaliere – Pastellkreide auf Papier

02 Donnerstag Jul 2015

Posted by josephinesonnenschein in Bild, Bilder, Gedanken, Gemälde, Kunst, Pastellkreide

≈ 5 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Erinnerung, Erwartung, Gefühle, Gesicht, Herren

Kavliere-small

Kavaliere (2006)

Kohle auf Papier

09 Dienstag Jun 2015

Posted by josephinesonnenschein in Bild, Bilder, Gedanken, Kohle, Kunst

≈ 6 Kommentare

Schlagwörter

Alter, Ausdruck, Charakter, Erfahrung, Gesicht, Portrait

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Alter (2000)

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