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Hinweis an die Leserinnen und Leser: Bei dem Text  „Tonne“ handelt es sich um eine Erzählung, deren Inhalt frei erfunden ist. Ich habe sie vor einiger Zeit geschrieben und werde sie nun in einzelnen Teilen vorstellen.

Bettina (1)

Kleine, weiche Finger, die vorsichtig einen Bauklotz auf den anderen stapeln, dunkle Augen, die konzentriert die wachsende Höhe des Turmes verfolgen, in Vorfreude aufblitzender Tri-umph: Sie würde Siegerin bleiben, den höchsten Turm bauen, während er durch eine ungeschickte Bewegung seinen Turm polternd zum Einsturz bringen wird, in der Vorfreude auf ihr strahlendes Gesicht, das so stolz sein würde darüber, den großen Bruder besiegt zu haben. Kleine Hände, die vor Freude klatschen. Er kann sich nicht satt sehen an der kleinen Person, die ihm wie ein Wunder erscheint. Alles so klein und doch so perfekt. Er liebt es, sie zu halten, ganz zart, behutsam, um ihr ja nicht weh zu tun, er liebt es, ihre zarte, warme Haut zu spüren, über ihre Hände zu streichen und ganz besonders liebt er es, sie zu trösten, ihre Tränen zum Versiegen zu bringen, die nach einem Sturz über ihre Backen kullern, glasklar wie Perlen. Sie wirft sich in seine Arme, schmiegt ihr Köpfchen mit den wirren Haarsträhnen an seine Schulter, er streicht ihr ganz zart über den bebenden Rücken, der sich unter seinen Händen rasch beruhigt, genießt kurze Zeit die Wärme des kleinen Körpers, spürt das Glück, das sich wie eine warme Welle in ihm ausbreitet, das Glück über das Vertrauen, das sie ihm schutzsuchend ent-gegenbringt. Er, der große Bruder, von vielen verachtet, nicht für voll genommen, über den die Leute reden, sie macht ihn stark und froh. Bettina.
Auch die Mutter verhält sich anders seit Bettina da ist. Sie schaut ihn manchmal ganz seltsam an, als ob sie nicht wisse, was sie von ihm halten solle. Er fühlt es ganz tief innen, sie misstraut ihm noch immer. Er weiß es schon lange, dass sie ihn nicht so lieben kann wie Bettina, nie wird sie ihn so lieben können: so frei und unbeschwert, so zärtlich und sorgsam. Aber Bettina, auch das fühlt er, fühlt es seit sie laufen kann, Bettina vertraut ihm, sucht seine Nähe, braucht ihn als Spielgefährten und Beschützer, ihn den großen Bruder, von dem niemand etwas wissen will.
Bettina, die abends ungestüm ihre Arme um seinen Hals schlingt, ihm einen feuchten Kuss auf die Wange drückt und ihm gute Träume wünscht.

Erste Begegnung auf dem Spielplatz (Melanie, Karl, Tonne)

Schwanzwedelnd kam der Hund auf sie zu und sprang an ihr hoch. Ohne Angst kraulte sie sein struppiges Fell und ließ es zu, dass er ihre Hand beschnupperte, spürte die kühle feuchte Schnauze auf ihrer Haut und war einfach glücklich.
„Tonne“, eine Stimme riss sie aus ihrem Glück und überrascht blickte sie in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. „Tonne, lass das, komm zu mir!“, diesmal klang die Stimme energischer und der Hund gehorchte widerstrebend. Da sah ihn das Mädchen zum ersten Mal, den jungen Mann, der vor ihr stand in auffälliger Kleidung, einen Müllsack in der einen Hand haltend, während er mit der Leine in der anderen Hand aufgeregt herumfuchtelte. „Komisch“, war ihr erster Gedanke.
Sie setzte sich auf eine freie Schaukel, begann sich rhythmisch in die Luft zu schwingen und ließ das seltsame Paar nicht mehr aus den Augen.
Der Mann mit der schmuddeligen, viel zu langen, an den Rändern ausgefransten Hose, begann systematisch im Papierkorb zu wühlen und ließ ab und zu etwas in dem Müllsack verschwin-den, den er anschließend sorgfältig mit einem Stück schmutziger Schnur verschnürte. An seinen bewegten Lippen konnte sie erkennen, dass er ununterbrochen vor sich hinmurmelte. Sprach er mit sich selbst oder mit dem Hund? Sie wusste es nicht. Die beiden waren zu weit von ihr entfernt.
„Tonne.“ Der Hund schien wohl „Tonne“ zu heißen, das klang irgendwie verrückt, aber auch lustig. „Tonne“. Mehrmals kostete sie es aus, diesen Namen auszusprechen, mal laut, mal leise, während der Hund und sein seltsamer Begleiter sich inzwischen vom Spielplatz entfernt hatten. Vielleicht waren sie unterwegs zu weiteren Papierkörben.
In Gedanken versunken schaukelte das Mädchen weiter, genoss das unablässige Auf- und Absteigen und hoffte, den beiden wieder zu begegnen, vor allem dem Hund.

Seit der ersten Begegnung trieb sie sich öfter auf dem Spielplatz herum, immer mit suchenden Augen, immer hoffend auf eine erneute Begegnung. Freunde hatte sie keine, da war es ziemlich egal, wo sie sich aufhielt. Allerdings, bei ihrer Mutter wollte sie nicht sein, zu Hause, das kein wirkliches Zuhause für sie war, sondern eine vergammelte Wohnung, in die sie keine Kinder mitbringen durfte, weil dann Gerüchte entstehen würden, die eigentlich keine waren, da sie ja der Wahrheit entsprachen: Ihre Mutter trank, leise, unauffällig, aber immer häufiger.
Überall entdeckte sie die verborgenen Flaschen, teilweise noch Reste enthaltend, stinkige Reste, die in ihr Ekel und Abscheu erzeugten. Heimlich schaffte sie die Flaschen weg, brachte sie, versteckt in Pappschachteln oder eingewickelt in altes Zeitungspapier, aus dem Haus. Keiner hatte ihr das aufgetragen, niemand hatte ihr verboten, Freunde mitzubringen, einzig ihre Scham verbot das einfach. Sie war sich absolut sicher, dass es nicht gut wäre, jemand in ihr Zuhause, zu ihrer Mutter zu bringen.
Ein Tier wäre da etwas anderes, ein lebendiges Wesen, das schweigen könnte, dem man alles anvertrauen könnte und mit dem man kuscheln könnte. Ein Tier, dachte sie sehnsüchtig, würde mich nicht verraten, sich nicht über mich lustig machen. Als Tier kam für sie nur ein Hund in Frage, aber ihre Mutter war strikt dagegen.
„Tonne“. So ein Hund wie Tonne, das wäre ihr ersehnter Freund. In Gedanken beschäftigte sie sich nun oft mit Tonne, überlegte, was sie alles mit ihm machen könnte, träumte von geheimen Abenteuern. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Zweite Begegnung auf dem Spielplatz ( Melanie, Karl, Tonne)

Nach Wochen erst traf sie den Hund und sein Herrchen wieder, an einem Tag, an dem sie nicht mit den beiden gerechnet hatte. Es nieselte und der Spielplatz war leer, als sie ankam. Minuten später entdeckte sie Tonne, der ihr, die Schnauze tief am Boden haltend, konzentriert schnüffelnd, entgegenkam. „Tonne“, rief sie leise, „Tonne, komm her.“ Sie ließ sich in die Hocke fallen und breitete die Arme aus. Tonne spitzte die Ohren, sprang stürmisch heran und warf sie beinah um, während sie ihn streichelnd festhielt und wie einen alten Freund begrüßte, das Gesicht in sein feuchtes Fell drückte, den bitteren Geruch einatmete.
Sein Begleiter, der junge Mann, der verlottert gekleidet war, kam ebenfalls näher und blickte sie zum ersten Mal aufmerksam an. Sie wich seinem Blick nicht aus, hielt ihm trotzig stand. Plötzlich bemerkte sie ein Aufleuchten in seinem Gesicht, als ob er sie erkannt hätte. „Engel“, murmelte er heiser, „mein Engel ist wieder da.“ Völlig unerwartet trat er auf sie zu und hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest, ganz kurz nur und mit unendlich zarter Geste und trotz-dem stockte ihr der Atem und sie hielt die Luft an, spürte einen Moment lang eine schreckliche Angst in ihrem Körper aufsteigen, die sich als Hilfeschrei lösen wollte. Da sah sie ihm erneut in die Augen, entdeckte dort nichts Böses, entdeckte freudige, ungläubige Überra-schung, Schmerz und Liebe. „Mein Engel“, flüsterte er immer wieder. Ein Gefühl der Beklommenheit ließ sie starr stehen bleiben, abwartend, was weiter geschehen würde. Abrupt wandte er sich wieder von ihr ab, das warme Leuchten auf seinem Gesicht, das ihn so jung erscheinen ließ im Gegensatz zu seinem alt wirkenden Körper, war erloschen. Gleichgültig strebte er wieder auf einen Papierkorb zu und machte sich daran, ihn zu durchwühlen, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken.
Entschlossen näherte sie sich ihm und blickte ebenfalls neugierig in den Papierkorb, beobachtete gespannt, welche Dinge herausgefischt wurden und nach eingehender kritischer Begut-achtung im Müllsack landeten. Glitzernde Abfälle waren das, silberne Kaugummipapiere, Flaschendeckel, Stanniolpapier, Glasscherben.
Sie streichelte den Hund und redete leise mit dem Tier, da begann der Mann erneut sie wahrzunehmen.
Vorsichtig zog er etwas Zerknittertes aus seiner Jackentasche, warf einen langen Blick darauf und reichte ihr zögernd das schmutzige Etwas, das sie als ein kleines Bild erkannte, ein Sterbebild mit aufgedrucktem Foto. Sie nahm es neugierig in die Hand und betrachtete verblüfft das kleine Foto: Ein Mädchen blickte sie aus dunklen Augen aufmerksam an, ein Mädchen, das ihre Zwillingsschwester hätte sein können. Sie versuchte den Namen und die Daten darauf zu lesen. Bettina hieß das Mädchen, war vor vier Jahren gestorben an einem 10. August im Alter von fünf Jahren. Das tote Mädchen wäre jetzt genauso alt wie sie. „Mein Engel“, murmelte der junge Mann entzückt und ganz allmählich begann sie zu begreifen: Der Engel war wohl das junge Mädchen, der Engel hieß Bettina.
Der Mann benahm sich sehr seltsam. Wieder wühlte er in seiner Jackentasche und zerrte einen kleinen Gegenstand heraus, den er liebevoll anblickte und ihr stumm entgegenhielt. Als sie danach greifen wollte, steckt er ihn jedoch schnell wieder zurück in die ausgebeulte Tasche. Aber sie hatte schon erkannt, was er ihr gezeigt hatte: Es war eine winzige Puppe in Form eines Engels. Bettina, der Engel, sein Engel. Wer das wohl gewesen war?
„Ich heiße Melanie, und du?“, fragte sie den jungen Mann. Er reagierte nicht. Sie klopfte sich an die Brust: „Ich – Melanie und du?“, begann sie noch einmal. Endlich begriff er. „Karl“, sagt er, „ich bin Karl.“

Tonne sprang zufrieden um die beiden herum und blickte sie immer wieder abwartend an. Es war neu, dass sein Herrchen mit jemand sprach, der Hund fühlte das sofort.
„Was machst du da?“ wollte Melanie wissen.
Karl wühlte wieder im Müll.
„Schatz“, antwortete er.
„Du suchst einen Schatz?“, bohrte Melanie ungläubig nach.
„Schatz“, wiederholte Karl einsilbig.
„Wer ist Bettina?“,  fragte das Mädchen energisch.
„Engel. Mein Engel im Himmel.“
„Zeig mir Bettina noch einmal. Ich möchte das Bild noch einmal sehen“, forderte das Kind.
Karl hörte mit dem Herumwühlen auf und blickte sie erstaunt an. „Bettina. Zeig mit Bettina noch einmal. Bitte.“
Vorsichtig brachte Karl das kleine Bild erneut zum Vorschein, betrachtete aufmerksam das Foto und Melanie, vergleichend wanderten seine Augen vom Bild zum Kind. Endlich überließ er Melanie das Bild. Sie sah es aufmerksam an, fasziniert von der Ähnlichkeit, fast könnte es ihr Spiegelbild sein. Es erinnerte sie an eines der wenigen Bilder, die es von ihr gab, aufgenommen während sie die Zähne putzte und dabei Grimassen schnitt mit Schaum vor dem Mund.
Wie war das möglich? Diese Bettina sah ihr zum Verwechseln ähnlich.
Ein zarter Finger strich über ihr Gesicht, behutsam, leicht wie eine Feder. „Mein Engel ist wieder da.“
Hier lag eine Verwechslung vor. Sie begriff: auch Karl hatte diese Ähnlichkeit entdeckt, aber sie war nicht Bettina, war kein Engel, nein. Entschieden wandte sie sich ab. Karl schwieg, obwohl sie mehrmals versuchte hatte mit ihm über Bettina zu sprechen. Er zog sich in sich zurück, wirkte unnatürlich, beinahe feindselig und in ihr stieg Beklommenheit hoch. Sie dachte an die Mahnungen ihrer Mutter, der Lehrerin und auch der Kindergärtnerin, die sie immer in den Wind geschlagen hatte. „Geh nicht mit fremden Menschen mit, sie können dir Böses antun.“
Plötzlich tauchten Bilder auf aus dem Fernsehen, aus Zeitungen, vermisste Mädchen, auch Jungen, die tot aufgefunden worden waren, misshandelt, verscharrt, versteckt, zerstückelt. Hatte Karl Bettina umgebracht? Nein, dann gäbe es kein Sterbebild für ihn, oder doch?

Dritte Begegnung: Melanie verfolgt Karl heimlich
Es dämmerte schon, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig zum Abendessen daheim zu sein, falls es eins gab. Nichts war sicher im Zusammenleben mit ihrer Mutter, nur auf eines war Verlass, es gab kein geregeltes Familienleben. Erstaunt lauschte sie oft den Berichten ihrer Mitschülerinnen, wenn sie über ihre Wochenenden berichteten, hörte von Zoobesuchen, Wanderungen, Ausflügen und Treffen mit Freunden. Auch sie wurde immer wieder freundlich aufgefordert, sich am Gespräch, im Stuhlkreis sitzend, zu beteiligen. Verbissen schwieg sie, lehnte jegliche Teilnahme ab. Erst in den letzten Wochen gab sie ihren Widerstand auf, berichtete ebenfalls, allerdings war alles erfunden. Am Abend vorher hatte sie es sich ausgedacht, ja sogar aufgeschrieben, damit sie sich nicht zu oft wiederholte. Es begann ihr sogar Spaß zu machen, zu lügen, ohne dass dies jemand ahnte, oder vielleicht ahnte die Lehrerin doch etwas, die hatte sie so prüfend angeschaut, aber weiter nichts dazu gesagt, was Melanie als stummes Einverständnis auffasste.
Jetzt aber hatte sie wirklich eine Geschichte, aber die würde ihr Geheimnis bleiben. Sie wollte herausfinden, was die Sache mit Bettina auf sich hatte. Sie musste mehr über Karl wissen. Über Karl und Tonne.
Seit der zweiten Begegnung begann sie immer öfter in Gedanken abzuschweifen, dachte immer häufiger über das Sterbebild nach.
Regelmäßig umkreiste sie den Spielplatz, aber Karl und Tonne tauchten nicht auf. Enttäuscht ging sie dann wieder heim oder, wenn sie dazu keine Lust hatte, trieb sie sich in den großen Möbelgeschäften im nahen Gewerbegebiet herum. Da wurde es nie langweilig, stundenlang konnte sie sich dort umsehen, Dinge in die Hand nehmen, Stühle ausprobieren, auf bequemen Sofas sitzen und Leute beobachten.
Am letzten Mittwoch flüchtete sie sich vor dem kalten Regenschauer wieder in das Möbelgeschäft, genoss die Wärme dort. Auf dem Heimweg warf sie prüfende Blicke zu den bis zum Rand gefüllten Papierkörben auf dem Parkplatz. Da entdeckte sie Karl, der gerade seinen blauen Müllsack, der ziemlich voll aussah, sorgfältig verschnürte und sich dann von ihr entfernte, Tonne an seiner Seite. Er hatte sie nicht bemerkt.
Ohne nachzudenken rannte sie den beiden hinterher und plötzlich kam ihr die Idee der heimlichen Verfolgung. So konnte sie vielleicht herausfinden, wo Karl wohnte. Der Gedanke machte sie froh. Karl bewegte sich ziemlich flott, schien jegliches Interesse an Müll verloren zu haben, hatte wohl ein bestimmtes Ziel im Kopf. Immer konzentriert darauf, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren, achtete Melanie nicht auf den Weg und stellte schließlich überrascht fest, dass sie am Friedhof angekommen waren. Hunde waren dort eigentlich verboten, aber Karl kümmerte das nicht. Eilig durchquerte er das Gelände und fand in dem Geflecht der Gräberreihen den richtigen Weg. Endlich. Er blieb stehen. Melanie verbarg sich hinter einem Strauch. Karl öffnete seinen Müllsack und fischte darin herum, zog einen Gegenstand heraus, der kurz aufblitzte, als ihn ein Sonnenstrahl, der unerwartet hinter einer dunklen Wolke hervorbrach, traf und legte ihn auf das Grab. An den bewegten Lippen erkannte sie, dass er wieder vor sich hinmurmelte, ununterbrochen.