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Liebe Leserinnen, lieber Leser, hier veröffentliche ich einzelne Kapitel aus meinem Buch “Wish you were here – Hilferuf einer Lehrerin“.

Kapitel 2 – Die Situation

Ich haste den dunklen Gang entlang und spüre wieder dieses bleierne Gefühl des Ausgeliefertseins, das mich beinahe zwei Jahre lang lähmte und an meiner Arbeit verzweifeln ließ.

Heute ist vieles anders. Ich kann endlich wieder gehen ohne zu humpeln, Schmerzen im Bein spüre ich nur noch selten, die

flammend rote Narbe unter dem linken Auge beginnt zögernd zu verblassen und wird mit der Zeit ganz verschwinden, so sagen die Ärzte tröstend. Ja, ich hatte wirklich Glück gehabt, das stimmt. Aber ich reagiere immer noch in gewissen Situationen wie damals, muss mir jedes Mal bewusst machen, „das“ ist vorbei, aber ich weiß auch, „das“ kann jederzeit wieder kommen. „Das“, damit ist die Situation eines Lehrers gemeint, der hilflos wie ich vor seiner Klasse steht und nicht fähig ist, seine Funktion auszuüben.

Wish you were here. Wie oft habe ich gewünscht von anderen verstanden zu werden, mit Kollegen darüber sprechen zu können ohne gleich als Versagerin abgestempelt zu werden.

Du, der Sozialpädagoge, wurdest mir als Hilfe angeboten, wohl in erster Linie darum, weil es sich gut machte an einer Schule ein Projekt mit dem Thema „Toleranz“ durchzuführen. Ich nahm das Angebot an, weil ich wollte, dass andere, die nicht in der Lehrerolle steckten, dieses Empfinden mit mir teilen sollten und vielleicht konnte ich ja von ihnen lernen, es besser zu machen. Du sagtest selbst, dein Vorteil mir gegenüber sei, nicht Lehrer zu sein und wieder gehen zu können. Wie oft hatte ich mir das gewünscht: einfach gehen zu können, das Klassenzimmer zu verlassen.

Ich genoss es, wenn du und deine Kollegin mit der Klasse arbeiteten und ich zusehen und beobachten konnte, ohne handeln zu müssen, obwohl es mir manchmal sehr schwer fiel, nicht einzugreifen, das musste ich zugeben.

Zu wenig Zeit hattest leider auch du. Nur kurz konnten wir über die Kinder sprechen, immer in Eile blieb nicht viel Zeit zu ausführlichen Gesprächen. Allerdings wurde mir bald klar, auch du hattest zu kämpfen mit dieser Klasse, aber wie gesagt, du gingst wieder.

Zurück blieb ich mit meiner Wut, meiner aufkeimenden Aggression einzelnen Schülern gegenüber und meiner Hilflosigkeit. Ich war unfähig, diese Kinder irgendwo in der Seele berühren zu können, ihre eiskalte Fassade zu durchbrechen.

Manche hätte ich gerne festgehalten, kräftig geschüttelt bis ihre harte Schale zu bröckeln begann und andere dagegen am liebsten getröstet und im Arm gehalten. „Fassen Sie mich nicht an.“ Dieser Befehl aus Kindermund verfolgte mich.

Eine Mathematikstunde. Klaus streikt. Höhnisch grinsend verweigert er seine Mitarbeit. „Ich brauche gar nichts tun. Meine Mutter kann mir das besser erklären.“ Provokativ schneidet er mir Grimassen, die Lacher sind auf seiner Seite. Ich spüre langsam die Wut in mir aufsteigen, die Ohnmacht sich ausbreiten und einen grenzenlosen Hass auf dieses Kind, das all meine Pläne zunichte macht. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe. Wen sieht es in mir? Ich kann Klaus nicht länger ertragen. „Geh vor die Tür.“ Er bleibt sitzen, spöttisch lächelnd. In wenigen Schritten bin ich bei ihm, schleudere ihn vom Stuhl – „Fassen Sie mich nicht an.“ – und schlage ihm meine Hand klatschend ins Gesicht, links, rechts, links, rechts, rasend vor Wut. „Nun geh und beschwer dich.“  Bedrohliches Schweigen breitet sich im Klassenzimmer aus. Schrill  zerreißt der Gong plötzlich die jähe Stille.  

Ich wachte auf, stellte den Wecker ab und fürchtete mich vor meiner eigenen in mir schwelenden Aggression. Ein rumorender Vulkan vor dem Ausbruch. Von nun an begleitete mich die Angst auszurasten, wirklich einmal die Beherrschung zu verlieren und in eines dieser Gesichter, die mich so höhnisch und provozierend angrinsten in dem Wissen, die schlägt nicht, die wagt es nicht, die darf das nicht,  brutal hineinzuschlagen.

*

Von meinem Chef, unserem neuen Schulleiter erhielt ich ein weiteres Hilfsangebot: In der Lehrerkonferenz wurde beschlossen, dass ich die schwierigsten  Schüler aus dem Unterricht in der Klasse ausschließen durfte, d.h. sie mussten eine bestimmte  Zeit lang in eine andere Klasse gehen. Die Entscheidung musste ich treffen. Was als Erleichterung beabsichtigt war, entpuppte sich als Bumerang: Die ausgeschlossenen Schüler steigerten ihre Aggressionen mir gegenüber, denn ihrer Ansicht nach trug nur ich die Schuld an ihrem Verhalten, sie waren auch der falschen Meinung, sie könnten nur einmal ausgeschlossen werden und nach ihrer Rückkehr in die Klasse benahmen sie sich entsprechend aufsässig.

Boris schaukelt auf dem Stuhl, steckt sich Stifte in die Nase.

Gökhan rennt im Klassenzimmer umher, reißt die Fenster auf, spuckt hinaus, spielt mit dem Lichtschalter, knipst das Licht an und aus, immer wieder, möchte mehrmals hintereinander auf die Toilette, beschwert sich lautstark, weil ich ihn nicht gehen lasse.

*

Einzig wohltuend waren die Stunden, in denen ich unterrichten konnte, während einige Störenfriede ausgeschlossen blieben. Ein Aufatmen ging dann durch die Klasse. So sollte es immer sein, was natürlich eine Illusion war. So blieb es natürlich nicht. Der Ausschluss aus der Klasse führte bei keinem der Betroffenen zu der erwünschten Einsicht über sein Verhalten.

„Fehlendes Unrechtbewusstsein? Seelisch verhungert? Mangelerscheinungen an Gefühlen? Unfähigkeit zu sozialem Verhalten? Spielball ihrer Lust? Unfähigkeit Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren?“ Immer wieder vergebliche Versuche das unfassbare Verhalten vieler Schüler meiner Klasse in Worte zu fassen, Erklärungen zu finden.

Nicht nur ich als Klassenlehrerin, sondern auch andere Fachkollegen standen fassungslos vor diesen Kindern, die nichts schreckte oder überzeugte: stichhaltige Argumente, vernünftige Erklärungen über das Warum und Wieso von gewissen Regeln verpufften, prasselten bei vielen ab. Vom Lehrer erteilte Anordnungen wurden einfach nicht ausgeführt, wurden verweigert mit unvorstellbarer Selbstverständlichkeit. 

„Das mache ich nicht. Sie können mich mal. Halten Sie die Fresse.“ Manuel 

*

„Kommen Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Ein Angebot meines neuen Chefs, von dem ich mich in der ersten Zeit verstanden fühlte. Hieß es am Anfang noch „Es liegt nicht an Ihnen.“, klang es später doch ganz anders. Zu spät wurde mir bewusst, dass mein Chef nicht wirklich an meiner persönlichen Lage Interesse zeigte, sondern vor allem an der Darstellung seiner schulleiterlichen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit. Zu tief steckte ich da schon im Sumpf der täglichen Gehässigkeiten, die mir wie faule Luft entgegenschlugen, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Zu spät erkannte ich die wahren Absichten.