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„Bitte sehr“. Sie hob kurz den Kopf, nickte dem Kellner lächelnd zu und nahm dankend die Tasse mit Kaffee entgegen, bevor sie sich wieder über das aufgeschlagene Notizbuch beugte, kurz überlegte und  weiter schrieb, ehe sie sich einen Schluck Cappuccino gönnte.Träumend blickte sie über die Tische hinweg, von denen viele unbesetzt waren, jetzt in der Nachsaison, und suchte mit ihrem Blick den Strand und das Meer in der Ferne. Sie griff wieder zur Kaffeetasse und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen, die mit warmen Fingern ihr Gesicht berührte. Zärtlichkeit war in ihr und umgab sie.Vieles war geschehen in der letzten Woche, die sie hier verbracht hatte. Heute war ihr letzter Tag. Heute wollte sie ihre Gefühle in Worte fassen, sie aufbewahren für spätere Zeiten, kältere Zeiten, Zeiten ohne Zärtlichkeit. Sie saß auf den Felsen, etwas abseits vom Strand und beobachtete die Wellen, die Unermüdlichen. Sie hatte sich einen der Felsen zu ihrem Lieblingsfelsen gewählt. Auf ihm  konnte sie sitzen und liegen, träumen, beobachten, das Wasser, die Vögel und Menschen, die sich in ihren bunten Strandkörben versteckten. Von hier aus konnte sie zu ihren langen Strandspaziergängen aufbrechen, ungestört von anderen Menschen.
Seit Tagen allerdings fand sie ihre Ruhe nicht mehr, war aufgewühlt wie das Meer bei Sturm. Ein Gefühl lustvoller Unruhe bemächtigte sich ihrer, sie schwankte zwischen Frohsinn und Trauer, wollte verdrängen, was sich ihr da aufdrängte, was sie gefangen hielt, ganz ungewollt. Es dauerte geraume Zeit, ehe ihr bewusst wurde, was ihr den Schlaf raubte, was ihre Tagträume so farbig machte, was sie schwanken ließ zwischen jubelnder Stimmung und abgrundtiefer Traurigkeit. Sie weigerte sich, es wahrhaben zu wollen, aber ihr wurde es plötzlich klar, als sie ihn wieder sah, vor zwei Tagen, da spürte sie es klar und deutlich, jenes Gefühl, das so oft mit Schmetterlingen im Bauch beschrieben worden war. Das Gefühl über das sie oft abfällig gelächelt hatte, das Gefühl, das für junge Menschen bestimmt war, das Gefühl plötzlicher Verliebtheit, von dem sie unerwartet erfasst worden war. Entsetzt dachte sie an ihr Alter, – dass ihr das ausgerechnet jetzt passieren musste -, jetzt, da sie das Thema Liebe für sich schon lange abgeschlossen hatte. Und doch, Verliebtheit ist kein Vorrecht der Jungen, dachte sie trotzig, als sie abends kritisch in den Spiegel schaute, mit ihren Fingerkuppen, den einzelnen Falten in ihrem Gesicht nachspürte. Falten, in die sich ihr Leben mit Freude und Schmerzen eingeprägt hatte. Falten als Zeugen ihres Lebens. Es muss ja keiner wissen. Und er schon gleich gar nicht. Auf keinen Fall durfte er es erfahren. Nie im Leben. Sie hatte ein Geheimnis. Sie als Frau in den späten Jahren. Sie empfand es auf einmal als unerwartetes Geschenk, etwas, das sie noch einmal erleben durfte. Es tat gut und schmerzte zugleich. Diese schreckliche Sehnsucht, diese Einsamkeit mit ihrer Wahrheit. allein bleiben zu dürfen. Und doch, sie hatte es nicht herausgefordert, es war ein Zufall, es war plötzlich da, als sie ihm begegnete.
Eines Tages war ihr Lieblingsfelsen besetzt. Sie sah schon von weitem das leuchtend orangefarbene Handtuch und zu ihrem Erstaunen erkannte sie beim Näherkommen einen Stapel Bücher, der sorgsam aufgebaut war, gekrönt von einer schwarzen Kappe, die beschwert wurde von einem Stein, der das Fortwehen durch den Wind verhindern sollte. Weit und breit war niemand zu sehen. Der Besitzer – sie tippte gleich, es müsste ein Mann sein – befand sich wohl im Wasser. Neugierig suchte sie sich einen Platz in der Nähe, etwas verborgen hinter einem Strauch. Sie streckte sich in der Sonne aus, und schlief wohl ein. Mit einem Ruck setzte sie sich erschrocken auf, als ein Schatten über sie fiel. „Ich wollte Sie nicht erschrecken, wollte nur fragen, ob Sie mir die Uhrzeit sagen können.“ Der junge Mann trat rasch einen Schritt zurück und blickte sie entschuldigend an, schon bereit zum Weggehen. Verwirrt blickte sie automatisch auf ihre Armbanduhr, konnte aber geblendet von der Sonne, die Zeit nicht erkennen und außerdem hatte sie ihre Brille abgelegt, aber das konnte der junge Mann ja nicht wissen. Spontan hielt sie ihm ihren Arm entgegen, den dieser kurz berührte, um einen Blick auf das Ziffernblatt zu werfen. Sie liebte Uhren mit Zeigern und weigerte sich eine andere Uhr zu tragen. Der junge Mann starrte etwas zu lange auf ihre Uhr, er schien es nicht gewohnt zu sein, von so einer altmodischen Uhr die Zeit abzulesen, aber es gelang ihm nach Sekunden schließlich doch. „14 Uhr 20“, murmelte er und „vielen Dank.“ Lautlos verschwand er auf seinem Felsen, der doch ihr Lieblingsfelsen war. Er nahm eines der Bücher vom Stapel und begann zu lesen. Unauffällig beobachtete sie ihn. Und ganz allmählich geschah es.
In ihr regte sich etwas. Wo vorher Taubheit sich eingenistet hatte, begann sie wieder etwas zu spüren, tief in ihrem Inneren begann es zu prickeln. Überrascht dachte sie an den jungen Mann und was die Begegnung mit ihm ausgelöst hatte. Sie beschäftigte sich mit ihm, ohne ihn zu kennen.
Sie beobachtete ihn lange, sah ihn auf der Decke liegen, die Knie angezogen, die Kappe auf dem Kopf und mit beiden Händen ein Buch haltend, abgedriftet, seine Umgebung vergessend, abgetaucht in die Welt seines Buches. Was er wohl las? Vertrautheit wuchs zwischen ihr und ihm. Ein Leser. Sie liebte Bücher. Sie liebte Menschen, die lasen. Sie begann ihn sympathisch zu finden. Aber woher kam diese innere Unruhe?
Ausgestreckt lag sie auf ihrem Felsen, die Augen geschlossen, versuchte sie auf andere Gedanken zu kommen. Vergeblich. Er könnte ihr Sohn sei, den sie sich lange gewünscht hatte. Der Sohn, den sie nie hatte. Sie als Mutter. Schwer vorstellbar. Und doch. Er würde ihr als Sohn gefallen. Die Liebe zu Büchern hätten sie gemeinsam. Ein guter Anfang. Ein Bindeglied. Wie wohl seine Beziehung zur Mutter war?
Unauffällig beobachtete sie ihn. Sein Platz war leer. Das Orange des Handtuchs leuchtete ihr entgegen. Seine Abwesenheit enttäuschte sie. Ihr Blick wanderte suchend am Strand entlang. Weit draußen im Wasser bewegte sich etwas. Er könnte es sein. Sportlich der Junge. Abgehärtet. Das gefiel ihr, erinnerte sie an ihre Jugendzeit. Die täglichen kalten Duschen fielen ihr plötzlich wieder ein, der Wunsch nach Selbstdisziplin, das Leben noch vor sich, gefüllt mit Plänen, Hoffnungen, Erwartungen.
Und jetzt? Den längsten Weg hatte sie vermutlich schon zurückgelegt. Was noch blieb? Die Zufriedenheit des Alters? Nein.
Der Junge kam zurück, im Laufschritt, schnappte sich das Handtuch, rubbelte kräftig seinen jungen Körper trocken, warf sich auf den Bauch.
Da rebellierte es plötzlich in ihr. Eine Woge der Freude stieg in ihr auf. Sie fühlte sich auf einmal nur glücklich. Allmählich erkannte sie den Grund: Nicht mütterliche Gefühle beherrschten sie. Nein. Sie wagte es kaum zu denken, aber sie wusste es. Das konnte noch nicht alles gewesen sein.
Wie Schuppen fiel es ihr vor Augen: Sie wollte mehr. Wollte noch einmal erleben, was sie längst vergangen glaubte. Wollte es nur für sich: Leben mit allen Schattierungen.