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Beinah_small

Gestern hielt ich den Hörer schon in der Hand, hatte dein Bild schon vor meinen Augen, deine Stimme im Ohr, da fiel mein Blick auf das abgegriffene zerknitterte Stückchen Papier mit deiner Adresse, da wusste ich es wieder, du warst  längst nicht mehr zu erreichen. Wie hatte ich es vergessen können? Einem Wolkenbruch gleich überströmten mich Gedanken, die so oft gedacht, irgendwo abgelegt, stets griffbereit waren. Dein Bild stand klar vor mir, zersprühend in viele Einzelbilder, jedes von besonderer Bedeutung für mich, habe ich doch nur diese Bilder von dir. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe sie geordnet, jedes hat seinen eigenen Wert für mich. Jetzt wirst du laut lachen, wie gerne würde ich dich hören, aber ich kenne deine neue Adresse nicht.

Mein Lieblingsbild hättest du wohl gerne gewusst? Du sitzt  in einem Garten, in dem es wuchert und wächst, grün und lebendig, angehaucht schon vom Modergeruch des Herbstes, du sitzt auf einem wackligen Stuhl unter dem grünen Dach von Bäumen durch dessen lecke Stellen das Sonnenlicht warm herabtropft. Das Buch, das du damals gelesen hast, kenne ich inzwischen auch, aber es blieb uns nicht genügend Zeit, darüber zu reden. Es blieb überhaupt wenig Zeit. Irgendwo sind wir uns begegnet, an einer Wegkreuzung. Keine von uns ahnte, wo die andere herkam, wohin sie wollte. Ein kleines Stück gingen wir gemeinsam, so zufällig eben, wie zwei sich treffen, die den gleichen Weg haben, ein kurzes Stück weit. Nur wenig Annäherung war möglich,  eine gewisse Fremdheit blieb, Verlegenheit oder Unsicherheit. Obwohl ich schon dachte, ich hätte dich aus den Augen verloren, tauchtest du immer wieder auf, gingst neben mir, wurdest jedes Mal vertrauter, lebendiger.

Da gibt es noch ein Sommerbild von dir. Beim Baden traf ich dich, wie du der Hitze ausgewichen bist und dich unter den Schatten der Bäume gesetzt hattest, ein weißer Fleck warst du, sommerhell leuchtete dein langes Kleid. Wieder hattest du ein Buch in der Hand, als du grüßend die Hand gehoben hast. Gerne wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich zu dir gesetzt, wagte es aber nicht.

Erinnerst du dich an die Steine, die wir ein anderes Mal so ganz nebenbei, am Wasser sitzend aus unseren Händen fallen ließen, spielerisch? Du erzähltest von dir, und ich bemerkte mit heimlicher Genugtuung, dass zwei unserer Steine dicht nebeneinander ins Wasser getaucht waren, und die sich weich ausbreitenden Kreiswellen sich unablässig näherten und sich für Momente überschnitten, weit in den Bereich des anderen vorstoßend. Du hattest es auch bemerkt und kurz schauten wir uns an, ehe du, den nächsten Stein schon in der Hand rollend, weiter erzähltest.

Wir kamen uns näher mit jeder Begegnung. Du bist viele Wege vor mir gegangen, bittere und unbequeme, aber auch Wege, die dir Mut gaben, nicht stehen­ zu bleiben. Du hast nicht nur die einfachsten Wege gewählt, nicht die kürzesten. Den Hindernissen bist du nicht ausgewichen, du hast dich ihnen gestellt, wurdest dabei auch verletzt. Allmählich  erst wurde mir klar, wie tief die Wunden waren, die man dir geschlagen hat. Einziger Schutz für dich: verstecken, verbergen. Die Maske, die den anderen nichts von dir verrät, dein Lachen, laut, unbekümmert mit einer winzigen Nuance Verzweiflung, manchmal. Du lebst so wie ich es mir oft wünschte, ein altes Haus, verträumter Garten, in allem ein bisschen anders. Aber ich spürte: irgendwie warst du nicht so zufrieden, wie ich es mir erhofft hätte an deiner Stelle. Heute ist mir klar, dass es wohl unmöglich ist, sich in gesicherter Situation, in deine Lage zu versetzen. Und du, du wolltest nicht, dass ich bemerkte, wie deine Existenz manchmal wirklich bedroht war, unsicher fast immer. Du kämpftest ja gerade um eine Entscheidung für die Zukunft: Sollte dein Studium tatsächlich umsonst gewesen sein? All die Zeit und Energie, die du dafür aufgebracht hast, vergebens? Du hattest zu dieser Zeit wenig Gelegenheit zum Lachen, und trotzdem hast du gelacht, laut wie so oft.

Ich habe dich damals bewundert. Du hast dich entschieden gegen die Meinung so vieler, du hast für dich entschieden, mutig auf mögliche Sicherheiten verzichtend. Du warst bereit, unbekannte Wege zu gehen, dich auf Neues einzulassen, um deinen Lebensunterhalt sichern zu können. Du brauchtest einen langen Atem, erst in einigen Jahren würde dein Ziel erreicht sein, auch das wusstest du.

Lange habe ich überlegt, wie ich entschieden hätte, letztlich vielleicht doch mehr für die sofortige Sicherheit, das heißt auch gleichzeitig für Langeweile, Monotonie. Dein Leben erschien mir aufregender, lebendiger, bunter als meines. Neben dir wirkte ich fad und farblos. Wer war ich schon? Sicherer Beruf, alles bisher geradlinig verlaufen, einfache saubere Wege gegangen, alles geregelt, gesichert und doch – glücklich nicht, aber wer ist schon glücklich? Ich hätte zu gerne gewusst, was du von mir dachtest, aber um ehrliche Antworten auf solche Fragen zu bekommen waren wir noch zu weit entfernt voneinander. Spürte ich doch manchmal den Abstand sich verringern, ein winziger Schritt hätte genügt, und wir wären uns nah gewesen. Doch die Zeit rannte uns davon und wir durften diesen einen Schritt nicht tun, der mir so viel bedeutet hätte.

Ein letztes Bild habe ich noch von dir, eines von deinem letzten Fest. Wir wollten uns in zwei Wochen wiedersehen, dir ging es gut, ich fühlte es und war froh mit dir. Wir trafen uns früher, unbeabsichtigt, und ob du mich noch sehen konntest unter all jenen, die gekommen waren, um dir Lebewohl zu sagen, ich weiß es nicht. Wieder bist du einen unbequemen Weg vor mir gegangen, wieder anders als andere, mitten aus einem Fest heraus. Wie sehr hoffe ich, dass du wenigstens glücklich warst, ehe du so plötzlich und vollkommen unerwartet den Weg aus dem Leben gingst, ihn unfreiwillig gehen musstest, ungefragt.

Ich weiß nicht mehr, welchem Zufall  ich es verdanke, dass wir uns begegnet sind, aber noch fühle ich deine Nähe in gewissen Augenblicken, an bestimmten Orten, die für immer die Rahmen für dein Bild sein werden. Noch heute würde ich dich am liebsten anrufen, um deine Stimme noch einmal zu hören. Vergeblich: Kein Anschluss mehr möglich. Aber  was ich dir in stummen Selbstgesprächen  berichte, –  du  weißt es, davon bin ich überzeugt.