Schlagwörter
Erinnerung, Gedanken, Gefühle, Kurzgeschichte, Kurzgeschichten, Psychologie, Tod, Trauer
Die Krankenschwestern hatten sich in das Stationszimmer zurückgezogen und saßen gerade beim Frühstück. Bitte nur in dringenden Fällen stören! las ich auf dem Schild, das an der Tür hing. War ich ein dringender Fall? Davon war ich fest überzeugt, trotzdem lag mir die Angst im Magen und am liebsten hätte ich eine Toilette aufgesucht, als ich spürte wie sich diese Angst in meinem Unterleib ausbreitete. Es musste sein, dass ich klopfte und ich überwand meine Hemmung zu stören und öffnete die Tür, einen spaltbreit nur.
Eine der Schwestern erhob sich sofort und kam auf mich zu. Höflich fragte sie mich, was ich wollte. Meine Stimme zitterte, als ich ihr meinen Wunsch mitteilte, aber ich war fest entschlossen, mich nicht abweisen zu lassen.
Sie schaute mich prüfend an und sagte, dass gerade eben Besucher hier gewesen wären. Eben deshalb, schoss es mir durch den Kopf, deshalb durfte ich jetzt nicht umkehren. Ich hatte meiner Familie versprochen zu kommen und nun war ich hier, verspätet zwar, aber entschlossen zu bleiben.
Ich entschuldigte mich dafür, dass ihre Pause nun zum zweitenmal unterbrochen wurde. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, mich ständig zu entschuldigen, obwohl oft kein Grund dazu vorlag. Die Schwester war noch sehr jung und sie strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die mich ein bisschen tröstete und meine Sympathie für diese Schwester weckte. Sie nickte, holte sich einen dicken Schlüsselbund und forderte mich auf, ihr zu folgen. Schweigend betraten wir den Aufzug, der tief in den Keller führte. Mich fröstelte. Unheimlich ruhig war hier alles, kein Mensch außer der Schwester und mir. Mein Bauch schmerzte unangenehm. Verdammte Angst klammerte sich darin fest. Endlich blieb die Schwester vor einer Tür stehen, schloss auf und bat mich vorher noch zu warten, einen Augenblick nur. Gleich ist es soweit, meine Gedanken schweiften ab. Ich kannte diese Reaktion schon lange. Wenn ich Angst hatte, versuchte ich mich abzulenken. Mich störte es sehr, dass die Schwester dabei war. Ich wäre gerne allein gewesen, ganz allein, nur du und ich. Die Schwester gab die Tür frei und deutete auf das erste Bett. Mit schwachen Beinen trat ich in einen Raum, in dem ungefähr fünfzehn Betten, abgedeckt mit weißen Tüchern, standen. Blitzartig wurde mir klar, dass unter jedem Tuch ein Toter lag, jung oder alt, Mann oder Frau, ich wusste es nicht. Nein, ich durfte mich nicht ablenken lassen, ich musste zu dir.
Da lagst du nun, aufgedeckt und fast so weiß wie das Tuch, mit dem man dich bedeckte. Nicht zudeckte, nein, unter dem man dich versteckte wie all die anderen hier, die dir stumm Gesellschaft leisteten.
Beinahe hätte ich dich nicht erkannt. So fremd warst du plötzlich, das konnte ich nicht verstehen. Aber dein rechtes Auge war nicht ganz geschlossen, wie durch einen winzigen Spalt blinzelte es mir zu. Daran habe ich dich sicher wiedererkannt, dein blinzelndes Auge war mir vertraut. Deine Hände, die mir so viele Male in Kindertagen Wärme und Trost schenkten, waren nun gefaltet und nie mehr werde ich sie spüren können. Ohne Rosenkranz lagst du da, hattest nichts was dir Trost geben könnte. Die Schwester hatte gemeint, ich sollte dich erst anschauen, wenn du „hergerichtet“ wärst, dann wäre es für mich angenehmer. Aber ich wollte dich doch sehen, so wie du warst, wie ich dich kannte, schon als kleines Kind. Besonders hergerichtet warst du nie.
Als ich selbst vor Jahren im Krankenhaus lag, hattest du mir eine Rose geschenkt aus deinem Garten und ich erinnerte mich jetzt ganz deutlich daran. Diese duftende Rose von damals hätte ich dir gerne in die Hand gegeben oder wenigstens einen Rosenkranz, aber nichts hatte ich, mit leeren Händen stand ich vor dir und hatte Angst von der Schwester beobachtet zu werden oder in ein Weinen auszubrechen, das kein Ende finden würde. Nur berühren konnte ich dich ein letztes Mal und mir deinen Anblick einprägen, um ihn nie wieder zu vergessen.
Als kleines Kind fragte ich dich, was den Menschen passieren wird, die gestorben sind. Ruhig und überzeugt erklärtest du mir, dass wir uns alle im Himmel wiedersehen würden. Ich glaubte dir sofort und lange Zeit. Und jetzt, werden wir uns wiedersehen? Wer tröstet mich nun? Und wer hat dich getröstet in deiner letzten Minute. Ich war entsetzt, dass ich nicht gespürt hatte wie nahe deine letzte Minute war. Das musst du mir glauben, denn hätte ich es geahnt, ich hätte dich nicht allein gelassen.
Die Schwester wartete schweigend auf dem Flur, da riss ich mich los und verließ den Raum. Sorgfältig deckte sie dich wieder zu, verschloss die Tür und begleitete mich zum Aufzug. Sie hieß Helga und ich konnte mir vorstellen, dass sie dir auch gefallen hätte. Bevor ich den Aufzug verließ, bedankte ich mich und trat wie benommen ins Freie. Draußen blühten Rosen, dunkelrot und duftend, Rosen für dich. Ich spürte die Sonnenwärme auf meiner Haut und wusste, es war Sommer, dein letzter, und du warst tot.
Sehr berührend!
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Danke für Deinen Kommentar! 🙂
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… sehr inniglich und traurig…
Segen1
m:m:
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Danke für Dein Feedback! 🙂
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Wunderschön und sehr treffend beschrieben, erinnert mich an den Tod meines Vaters.
Herzlich Constanze
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Der Anlass zu der Geschichte war die Erinnerung an den Tod meiner Großmutter, die mir sehr nahe war. Ich freue mich über eure Zeilen und wünsche euch einen schönen Abend.
Liebe Grüße
Josephine
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Diese Zeilen von Dir sind mit Herzblut geschrieben, das habe ich beim Lesen sofort gespürt und sie berührten mich deshalb wohl ganz besonders auch im Hinblick auf meine eigene Erfahrung. Nochmals herzlichen Dank für diesen eindrucksvollen Text!
Auch Dir einen schönen Abend und liebe Grüße
von Constanze
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Das ist eine tiefe Gefühle bewegende Geschichte <3lichen Dank und liebe Grüsse, Xaver
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Danke für dein positives Feedback. 🙂
Liebe Grüße
Josephine
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Da ich persönlich an ein ewiges Leben bei Gott (nach unserem Tod) glaube, ist die Hoffnung groß auf ein Wiedersehen mit unseren lieben Verstorbenen. Es erleichtert keineswegs den Abschied und ist auch nicht der ultimative Trost bei der eigenen Trauer. Aber diese Hoffnung auf ein Wiedersehen, lässt mich nicht total abstürzen.
Dein Text ist wunderschön geschrieben, der eigentlich Textanlass sehr bewegend und berührend. Du hast Deine Gefühle sehr gut ausdrücken können.
Liebe Grüße und einen guten Wochenstart wünscht Dir/Euch, -Sibylle-
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Liebe Sibylle, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar über den ich mich sehr freue.
Herzliche Grüße von
Josephine
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Hey, ich hab dich für den One Lovely Blog Award nominiert. Ich hoffe das ist okay für dich.
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Vielen Dank!
Liebe Grüße, Josephine
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Ich mache gerade etwas ähnliches durch und halt die Hand einer Freundin, die bald, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, den Kampf verlieren wird. Ich bin zutiefst gerührt!
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Ich wünsche dir und deiner Freundin viel Kraft und – manchmal geschehen auch Wunder! Deine Freundin wird spüren, dass du für sie da bist und ich bin mir sicher, dass es ihr dadurch besser geht und sie sich getröstet fühlt.
Liebe Grüße und alles Gute für euch beide!
Josephine
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Hat dies auf lifeandotherhappenings rebloggt und kommentierte:
Da ich das Gefühl der Hilflosigkeit nur bestens kenne und die Hand meiner Freundin halte, während der Tod immer näher rückt. Ich glaube an Wunder, so möchte ich auch diesmal an eines glauben, meine Freundin soll kämpfen und siegen und egal, was geschieht, ich bin an ihrer Seite! Danke, liebe Sophie. Zutiefst berührt, teile ich deine Geschichte, damit mehr Menschen Mut fassen und darüber nachdenken, dass der Tod nicht immer gewinnen muss und vor allem, dass man den Mut hat, kranken Menschen beizustehen.
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Trotz aller Traurigkeit trösten am Ende die blühenden Rosen in der Sonne, wärmt unterbewusst der Gedanke, dass sie für alle und keinen blühen. Eine wunderbare, nachdenkliche Geschichte, gerade mit dem rechten Maß an Traurigkeit und Tröstlichkeit ohne Sentimentalität.
Herzliche Grüße aus Thüringen sendet
Marlis
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Danke für dein positives Feedback. Ich freue mich über deine Gedanken zu meiner Geschichte.
Liebe Grüße!
Josephine
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Mir laufen noch immer die Tränen, das ist so traurig. Ich frage still meinen toten Dad auch immer: „Werden wir uns wiedersehen?“ Liebe Grüße
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Danke für deine berührenden Zeilen. Ich habe inzwischen die Geschichte über deinen toten Dad gelesen und sie hat mich sehr betroffen gemacht. Ich kann sehr gut verstehen, dass du immer noch traurig bist.
Alles Liebe, Josephine
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Pingback: Der Moment, wenn alles bedeutungslos erscheint | lifeandotherhappenings
Deine Bilder sind ein Traum…
Besonders dieses gefällt mir sehr gut…
Liebe Grüße,
Lettercastle
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Danke! Es freut mich, dass dir meine Bilder gefallen!
Liebe Grüße, Josephine
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Die Schwester Helga mit dem altmodischen Namen, eine interessante „Nebenperson“- ich hätte in so einem Keller wahre Gänsehautängste bekommen! Gut gemeistert, in der Tat und im Aufschreiben!
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Danke für die positive Rückmeldung! 🙂
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